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1960 Nr. 5

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Kirchengeschichte: Reformationszeit

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 5

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seine Krankheiten etc.) so weit wir irgend möglich mitaufhellt,
daß bei der sonst stetigen Gesamtentfaltung des Themas ein gelungener
Gesamtwurf entstand wie bisher noch nie. Auch Calvins
Theologie wird in längeren Einzelabschnitten in einem besonderen
Kapitel vorgeführt; auch dieser Abschnitt ist völlig frei
von schultheologisch-zeitgemäßen Verzeichnungen. Zuvor sind
eine Reihe von sonst unbeachtet gebliebenen polemischen Traktaten
Calvins in knapper Zusammenfassung in die Darstellung
miteingewoben; zu den rein biographischen Kapiteln werden gut
gewählte Briefstellen in extenso geboten. So tritt die Gestalt
Calvins wohl profiliert als kirchengründende Erscheinung der
zweiten Phase der Reformation hervor, der Epoche ihrer Ausweitung
und Absicherung in West- und Osteuropa. Nur Südeuropa
ist auch diesem leidenschaftlichen, aber kühlen „Pikar-
den" „belgischer" Provenienz verschlossen geblieben, da sein Pariser
Mitschüler und Kontrahent Ignatius von Loyola dort inzwischen
eine andere Art der Neubesinnung und Sammlung des
römischen Katholizismus mit ähnlicher Hingabe praktizierte. Da
Calvins Sammlung der Kirche um das Wort Gottes und seine zeitnahe
Gesamtschau über die Pfalz und das Rheinland bis nach
Brandenburg Eingang und Widerhall fand, sollte man endlich sich
mehr, als es die lutherische Orthodoxie für recht fand, mit ihm
auseinandersetzen, gehört er doch zu den Vätern unserer heutigen
Unionskirche in Deutschland. Dankbaars Werk, das auch Calvin
nicht kritiklos gegenübersteht, wäre wie geschaffen dazu.

Freilich, „Wittenberg" als weniger ökumenisch in seiner
Frequenz als Hochschulort als „Genf" zu bezeichnen, erscheint
mir gewagt (S. 157), strebte doch selbst Calvin dahin, auch wenn
er Wittenberg und Luther leider nie erreichte. Ebenso finde ich
die Scrvct-Apologie des Vcrfs. schwach und sentimental, denn
Servet als Unitaricr hat Christus nicht als „Heiland" und
„Seligmacher" auffassen können (S. 127). Ein Register, biographische
Zeittafel, Quellen- und Literatur - Verzeichnis machen
neben den 20 guten Illustrationen dieses Buch noch brauchbarer.

Druckfehlerberichtigung: S. 22 Mitte: Cops, S. 40 unten:
ausgeübt; S. 69 unten lebend und mitgehend besser i:
auflösen.

Berlin Günter Gloede

Zumkcllcr, Adolar: Thomas Münzer — Augustiner?
Augustiniana IX, 1959 S. 380-3 85.

KIRCHEN GESCHICHTE: NEUZEIT

S ei 1 s, Martin: Theologische Aspekte zur gegenwärtigen Hamann-
Deutung. Berlin: Evang. Verlagsanstalt [1957]. 120S. gr. 8°. DM9.-.
— Dasselbe. (Lizenzausgabe). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
[1957]. 120S. gr. 8°. DM 9.—.

Das wachsende Interesse an Hamann läßt sich durch die Vollendung
der Werkausgabe und das Fortschreiten der Briefausgabe
nicht allein begründen, es muß in ihm noch eine spezifische
Aktualität wirken. Immer wieder und auf verschiedene Weise
hat man ihn zum Ahnherrn ernannt, einigemalc auch als Korrektiv
gegenwärtiger oder auslaufender Tendenzen begrüßt, so zuletzt
gegenüber den Abstraktionen der dialektischen Theologie,
die ihn vor 30 Jahren selbst in Anspruch genommen hatte. Die
Reklamation Hamanns für die Theologie überhaupt ist unnötig
geworden; jetzt geht es um die Differenzierung der theologischen
Aspekte selbst. Diese Aufgabe übernimmt und fördert sogleich
in vortrefflicher Weise das vorliegende Buch, eine Rostocker
Dissertation von 19531, unverändert gedruckt 1957.

Es ist ein ausgesprochenes Diskussionsbuch, dabei von
kunstvoll - eleganter Bauart: auf den drei „Gebieten" philosophischer
, ästhetischer und theologischer Fragestellung werden jeweils
zwei in der Hamann-Literatur aufgetretene Deutungs-
Positionen berichtet und kritisiert; in einem dritten Abschnitt
wird ihnen ein eigener Ansatz gegenübergestellt, und diese
dritten Abschnitte entfalten jeweils ein Leitwort, das S. Hamanns
theologischem Testament, dem berühmten „Letzten Blatt" von

') Selbstrefcrat ThLZ 1955, Sp. 184.

178 8, entnimmt. Für die „Philosophie": „Metacritus"';
für die „Ästhetik" (womit die weltanschauungsgeschichtliche
Literaturwissenschaft und die Sprach- und Dichtungstheorie umfaßt
sind): „Imitator"; für die „Theologie": „Seraini-
verbius". Die Explikationen dieser drei Leitworte, also die
eigenen Deutungsansätze, sind auf allen drei „Gebieten" theologisch
. Und alle Positionen, die fremden wie die eigenen, erscheinen
als ein „Zwischen", Hamann also immer als Austräger
einer Polarität.

Für Hamanns Philosophie führt S. als erste Deutungsposition
die einer „Identität zwischen Dialektik und
Existentialität" vor, die Käte Nadler versucht hat (17-25). Sit
findet in Hamanns Unmittelbarkeit die Dialektik der konkreten
Idee verborgen, die Hegels und Kierkegaards komplementären
Abstraktionen gleicherweise entgehe, kümmert sich dabei aber
nicht um das Historische, und so stellt S. ihr die „tatsächlichen
Beziehungen des geistigen Dreiecks Hamann-Hegel-Kierkegaard"
gegenüber. — Als zweite Position erscheint Josef Nadlers „Philosophie
des Organischen" „zwischen Humanuni und Mysticum".
S. faßt ein ziemlich ausführliches Referat des Buches von 1949
(25—29) dahin zusammen, daß es Hamann als „einen der letzten
christlichen Synkretisten" verstehe, einen „Nachkömmling jenes
Gemischs aus stoischer, neuplatonischer und philonischer Religionsphilosophie
, wie 6ie in den ersten zwei oder drei Jahrhunderten
vom philosophischen Gedanken her das Christentum
aufzusaugen versuchten" (29). S. stellt behutsame, aber bestimmte
Fragen an Nadler; vor allem widerlegt er dessen Behauptung
, Hamann denke die Trinität geschlechtlich: OJlEQ/wXöyot
kommt aus Apg. 17, 18 und heißt dort etwas ganz anderes als
Nadler unterstellt. Schließlich macht S. Nadlers „phantasievolle
Darstellung der dialektisch-physischen Rückkehr des Lebens in
den Logos" fragwürdig (33 f.), skizziert ihr gegenüber den Geschlechtsgedanken
in der „Charfreytagsbuße für Kapuziner" und
weist seine von Nadler verkannte christologische Beziehung nach*
(36 f.). Nadlers Hinweis auf den Geschlechtsgedanken als solchen
und auf die eschatologische Spannung zwischen Genesis und Pa-
rusie bleibt gültig. Aber „zwischen Humanuni und Mysticum"?

S. deutet Hamann als „M etakritiker zur Hoffnung
" „zwischen Empfängnis und Geburt". „Metakritik" ist
ein „Deminuieren" — wohin? auf die „gute Hoffnung" aus
2. Thes. 2, 16; der Metakritiker geht schwanger zwischen der
Empfängnis in der Erweckung und der Wiedergeburt in der
Gnade. Hamanns Philosophie ist keine selbständige Weltdeutung,
sondern eine negative Philosophie, ihre Grundgestalt ist das
„Deminuieren" auf Empfängnis und Hoffnung hin (39. 44). Das
wird nun knapp durch das ganze Werk Hamanns aufgewiesen.
Zunächst in den Briefen von 1759: der Gedanke hat sich „vor
seiner Sprachwerdung zu erniedrigen", das kann aber „nur sein
nach dem Vorbild der Erniedrigung in Christus", „die Vernunft
zur Sprache rufen heißt sie zu Christus rufen" und umgekehrt
(42). Die „Sokratischen Denkwürdigkeiten" „deminuieren": in
der Unwissenheit findet der Mensch den Weg zu Gott, während
im „Genie" (das ist aber für Hamann „geistgewirkte Prophetie")
Gott den Weg zum Menschen gefunden hat (44). „Von der Politik
bis zu den Mysterien hin deminuiert Hamann in Richtung
auf Christus. Den breitesten Raum ... nehmen aber die Sprachschriften
ein" (48 ff.). S. analysiert 6ie der Reihe nach' und faßt
schließlich in der „Metakritik" die Schlüsselformulierung vom
„Sacrament der Sprache" (55).

Nach Hamanns Ästhetik fragt — erste Position — R.
Unger unter dem Stichwort „Symbol" und sieht diese „zwischen
Allegorie und Idee". S. findet die bisherige Auseinandersetzung
mit Unger mangelhaft und referiert zunächst (58 ff.):

') Sollte es auf dem schwer leserlichen „Letzten Blatt" nicht doch
„Metacri t i c u s" heißen?

*) Nadler läßt (S. 252) bei Anführung einer Briefstelle (Hamann an
Herder v. 18. XII. 1780, Roth VI 170) einen Satz ohne Kennzeichnung
aus; sie hat gar nicht die „Genesis des Menschen aus Gott" zum Thema,
sondern die positive Auflösung der altprotestantischen Verbalinspira-
tionslehre in eine Übertragung des Konsubstantiationsgedankens auf
die Sprachgcstalt der Bibel.

*) S. entziffert nebenbei die Gegner in der „Apologie des Buchstabens
h": Lambert und Eschenburg (62 f.).