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Ausgabe:

1960

Spalte:

333-342

Autor/Hrsg.:

Richter, Liselotte

Titel/Untertitel:

Zum Situationsbewußtsein der gegenwärtigen Religionspsychologie 1960

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Theologisch« Literaturzeitung 1960 Nr. 5

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Bei der Annahme einer unabhängigen Tradition wäre zu erwägen,
ob eine solche nicht auch dem Logion Nr. 40 vom Weinstock, der
außerhalb des Vaters gepflanzt ist (cf. Mt. 15, 13), zugrunde liegt, die
dann von Joh. 15, 1 ff. benützt sein könnte. Allerdings haben die
Parallelen aus dem Johannesevangelium, die wir sonst im Thomasevangelium
finden, gnostischen Charakter und wohl auch gnostischen
Ursprung.

Auf sichererem Boden befinden wir uns mit der Feststellung
von Aramaismen. H.-Ch. Puech, Quispel und besonders A.
Guillaumont haben von Anfang an auf zahlreiche Semitismen
aufmerksam gemacht, die auch durch die koptische Übersetzung
noch durchschimmern. (Siehe besonders A. Guillaumont, op. cit.,
Journal asiatique 1958, S. 113 ff.) Bevor daraus Schlüsse auf
eine unabhängige Tradition gezogen werden, müssen wir jedoch
auf eine Schwierigkeit aufmerksam machen, die hier besteht.
Es müßte zwischen ausgesprochenen Aramaismen und Einflüssen
aus dem Syrischen unterschieden werden. Falls sich nämlich die
Semitismen aus dem Syrischen erklären, so hätten sie nicht den
gleichen Beweiswert, da sie ja auf eine syrische Übersetzung aus
dem Griechischen zurückgehen könnten. Auch die bereits aufgeworfene
Frage nach dem Diatessaron steht damit in Verbindung
.

Wo jedoch spezifische Aramaismen vorliegen und ein aramäisches
Wort in den Synoptikern anders übersetzt ist als im
Thomasevangelium, da können wir mit ziemlicher Sicherheit
behaupten, daß e6 sich um eine unabhängige parallele Tradition
handelt, die sich aus einem gleichen Urlogion herausgebildet hat.
Jdi gehe hier nicht auf die verschiedenen Semitismen ein, auf die
bisher bereits in verschiedenen Veröffentlichungen hingewiesen

3. Diejenigen Worte, die in unsern 4 Evangelien in keiner
Form zu finden sind, aber von den apokryphen Evangelien, von
den Kirchenvätern und den manichäischen Schriften zitiert
werden, sind nicht unbedingt direkt einem der uns bekannten
apokryphen Evangelien entnommen. Es könnte sich auch hier
um eine gemeinsame Tradition handeln. Hierher gehören Logion
2, das auch im Hebräerevangelium vorkommt, und die Logien
22 und 37, zu denen sich Parallelen im Ägypterevangelium
finden; ferner das von Origenes und Didymus als Jesuswort
zitierte Logion 82: ,,Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Feuer"13*
oder das, wenn die hier nicht ganz gesicherte Übersetzung richtig
ist, ebenfalls bei Origenes nachweisbare Logion 74: „Es
sind viele um die Zisterne herum, es ist aber niemand in der
Zisterne".

An diese Kategorie kann man das von Paulus 1. Kor. 2,9
mit der Formel „wie geschrieben steht" zitierte Wort „Was
kein Auge gesehen hat usw." anschließen, das im Thomasevangelium
als Jesuswort (Nr. 17) erscheint (mit dem Zusatz:
„was keine Hand berührt hat", der wohl der Thomasgeschichte
Joh. 20, 24 ff. - cf. auch 1. Joh. 1, 1 - entstammt).

4. Als vierte Kategorie 6ind diejenigen Worte zu erwähnen
, die bisher völlig unbekannt waren. Weitaus die meisten
von ihnen können nur aus gnostischen Texten erklärt werden,
so das merkwürdige Logion 7 vom Löwen, der Mensch wird,
das nur von gnostischen Spekulationen aus, wie wir sie in der
Pistis Sophia Kap. 30 f. finden, verständlich wird. Einige dagegen
, wie etwa die beiden erwähnten Gleichnisse 97 und 98,
gehören dem synoptischen Typus an, und hier stellt 6ich wiederworden
ist. I um Frage nach der Möglichkeit unabhängiger alter Tradi-

r. , , tion, womit freilich noch nichts darüber gesagt ist, ob das be-

tin besonderes Problem ist noch zu erwähnen. Von den drei ; treffende Wort von jesus stammt Diese letzte Frage, die zu
ynopukern ist ohne Zweifel das Lukasevangelium Unrecht oft in den Vordergrund gerückt wird, mag wohl nie
dasjenige, mit dessen Parallelen diejenigen des Thomasevange- mlt Sicherheit zu beantworten sein. Immerhin wird schon viel
" , am häufigsten zusammengehen, aber nun doch fast nie gewonnen sein, wenn wir einige unter ihnen einer alten juden-

christlichen Tradition zuweisen, wenn wir in andern Aramaismen
finden und sie bei der Erklärung mit echten Jesusworten
konfrontieren können.

Am weitesten sind bis jetzt die Arbeiten über die gnostischen
und manichäischen Parallelen zu unserm Thomasevangelium
gediehen; auch sie müssen fortgesetzt werden. Dagegen ist
das Verhältnis zu den Synoptikern bisher weniger erforscht
worden. Ich habe daher versucht, hier besonders zu zeigen,
welche Fragen in dieser Hinsicht gestellt werden müssen. Neben
der Untersuchung der Semitismen, die A. Guillaumont (siehe
oben) dankenswerterweise begonnen hat, 6ind der synoptische
Vergleich und die Bestimmung des Verhältnisses zum Diatessaron
und zu den judenchristlichen Texten die dringendsten
Aufgaben. Wenn wir vielleicht auch nie zu ganz gesicherten Ergebnissen
gelangen, so steht doch fest, daß diese von ägyptischen
Bauern auf einem alten Friedhof gefundenen Blätter auf lange
Zeit hinaus die Gelehrten auf vielerlei Gebieten beschäftigen
werden: dem der Philologie, der Geschichte des Gnostizismus
und des Judenchristentums, des synoptischen Probleins, der Exegese
der Jesusworte, der Handschriften (cf. die enge Verwandtschaft
mit dem Codex BezaeM). Sie geben uns freilich neue Probleme
auf, aber vielleicht erlauben sie uns doch, alte Probleme
zu lösen oder ihrer Lösung nahe zu kommen.

"•) Vgl. dazu Joh. Bauer, Das Jesuswort «Wer mir nahe ist»,
Th. Z. 1959, S. 446—450.

n) Siehe G. Quispel, Vigiliae christianae 1957, S. 197 ff.

regelmäßig. Wie ist dies mit den beiden Tatsachen zu vereinbaren
, einerseits, daß unsere Sammlung auf eine judenchristliche
zurückgeht, und anderseits, daß die judenchristlichen Traditionen
immer irgendwie dem Matthäusevangelium am nächsten stehen?
Sollte sich dieser Tatbestand so erklären, daß Lukas außer den
bekannten Quellen eine judenchristliche benützt hat? (Siehe auch
Quispel NTS 1959, S. 281.) In diesem Falle würde es sich um
«ine dem Lukas- und dem Thomasevangelium gemeinsame Quelle
bandeln.

Wir gelangen also, was die Frage nach der Herkunft der Logien
betrifft, die Varianten zu synoptischen Parallelen bieten, zu
einem ähnlichen Schluß wie für den Ursprung der Sammlung: Es
läßt sich nicht beweisen, daß einzelne von ihnen auf eine von den
Synoptikern unabhängige alte Tradition zurückgehen. Aber vermiedene
Indizien legen es nahe. Wenn das Thomasevangel.um
«ine ältere nichtgnostische Logiensammlung zur Grundlage hatte,
so wäre dies natürlich auch für die Überlieferungsgeschichte der
«nzellogien wichtig, so wie umgekehrt die Feststellung einer in
einem Einzellogion nachzuweisenden unabhängigen Tradition
Jene These stützen könnte.

Für die Beantwortung beider Fragen kommen die weiteren
Kategorien von Logien, die wir unterschieden und von denen
Wlr noch kurz zu sprechen haben, wenigstens indirekt in Betracht
, besonders wenn sich einige dieser Logien, die keine
Farallele in den Synoptikern haben, auf eine alte Tradition
zurückführen ließen.

Zum Siluationsbewußfsein der gegenwärtigen Religionspsychologie

Von Liselotte Richter, Berlin
Das Fragment Heraklits: „Der Seele Grenzen wirst du nie I logie, besonders der Barthianer, die glaubten, sie könne theolo-

ih I °n' Und wenn Jegliche Straße abwandertest, so tief ist ; gische Ansprüche und Konsequenzen geltend machen, aber auch

vielf Jug°S" hat sich am Schicksal der Religionspsychologie in j gegen die Aufsplitterung in Konkurrenzrichtungen in ihren

jun Weise bestätigt. Seit ihrem Ursprung hat diese relativ I eigenen Rpihon 1

Unnd8e. Wissenschaft bitter um ihr Lebensrecht kämpfen müssen

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Psvchl 'e Wie ßegen die geisteswissenschaftliche Struktur-
ycnologie des Vcrstehens, wie gegen alle Richtungen der Theoeigenen
Reihen. Es liegt im Wesen dieser Disziplin, daß, da „die
Tiefe des Logos der Seele" unausschöpflich ist, sie sich immer
wieder neu und in dreifachem Sinne in Frage gestellt sieht: von
der Psychologie selbst her, die stets um neue Wesensauffassungen
ihres Gegenstandes und folglich um neue Methoden ringen muß,