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Ausgabe:

1960 Nr. 3

Spalte:

211-213

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Windelband, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Geschichte der Philosophie 1960

Rezensent:

Schmidt, Erik

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 3

212

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Windelband, W.: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Mit

einem Schlußkapitel: Die Philosophie im 20. Jahrhundert und einer
Übersicht über den Stand der philosophiegeschichtlichen Forschung
hrsg. von H. H e i m s o e t h. 15., durchgesehene u. ergänzte Aufl.
Tübingen: Mohr 1957. XLVI. 654 S. gr. 8°. Lw. DM 28.-.

Wenn ein Lehrbuch der Geschichte der Philosophie in einem
Zeitraum von 66 Jahren 15 Auflagen erlebt, dann muß es ganz
besondere wissenschaftliche Qualitäten aufweisen. Das von Wolfgang
Windelband in der 7., von Rothacker in der 9. bis 12. und
von H. Heimsoeth in der 13. bis 15. Auflage herausgegebene
Lehrbuch der Geschichte der Philosophie von Wilhelm Windelband
erfüllt in der Tat die Ansprüche, die man an ein solches
Lehrbuch stellt, in seltenem Ausmaße. Von Anfang an war dieses
Werk kein bloßes Kompendium der Geschichte der Philosophie,
sondern ein ernsthaftes Lehrbuch, das von einer allseitigen
Durchdringung und Meisterung des umfangreichen Stoffes, besonders
der antiken und der neueren Philosophie — das Mittelalter
ist ja nach wie vor ein Stiefkind der philosophischen Forschung
! — Zeugnis ablegte. Das Buch war und ist eine kurze, gedrängte
, aber doch eingehende und übersichtliche Darstellung
deT philosophischen Ideen und ihrer Entwicklung im Abendlande
, eine Geschichte der Probleme und der Begriffe in der
Philosophie. Zu dieser ursprünglichen Eigenart unseres Lehrbuches
ist in den neueren Auflagen noch ein Doppeltes hinzugekommen
: Erstens als Einführung eine Übersicht über den Stand
der philosophiegeschichtlichen Forschung, die eine Fülle von Literatur
zur Einleitung und zu den acht Teilen des Lehrbuches
darbietet. Ohne auf Vollständigkeit Anspruch erheben zu können
, ist diese Übersicht für jeden Studierenden, der in bestimmte
Gebiete der Geschichte der Philosophie tiefer eindringen will,
ein vorzüglicher Berater und Wegweiser. Die allgemeine Übersicht
wird ergänzt durch die ausführlichen Literaturangaben zu
den einzelnen Perioden und Kapiteln, sowie durch die Angaben,
die zu den großen Denkern und ihren Schulen biographisch hinzugefügt
werden. Zweitens ist dem Lehrbuch seit der 13. Auflage
ein neuer Abschnitt als 8. Teil hinzugefügt worden, der in
gedrängter Form die philosophischen Neuansätze und Bestrebungen
des 20. Jahrhunderts zur Darstellung bringt. Da der ursprüngliche
Text Wilhelm Windelbands wie bisher in der schonendsten
Weise behandelt worden ist, der Standpunkt des Verfassers aber
stark vom Kritizismus Kants bestimmt war, der heute weithin
eine Korrektur erfährt, bildet dieser 8. Teil mit seiner Offenheit
für neue Fragestellungen eine willkommene Ergänzung zu den
anderen 7 Teilen des Buches. —

Worin besteht außer der übersichtlichen Darstellung der
philosophischen Probleme der besondere Wert dieses Lehrbuches?
Er liegt u. E. hauptsächlich in seiner vorbildlichen wissenschaftlichen
Objektivität. Ein Lehrbuch der Geschichte der Philosophie
kann nicht nur darstellen, es muß auch werten. Bei jeder
Wertung tritt der philosophische Standpunkt des Verfassers in
Erscheinung. Das ist auch in diesem Lehrbuch der Fall. Der kriti-
zistische Standpunkt Windelbands, seine Wertphilosophie, sein
Neukantianismus, sie können nicht verleugnet werden. Allein
die Wertung darf in einem Lehrbuche die Objektivität der Darstellung
nicht lähmen, die philosophische Richtung des Verfassers
darf sich nicht vordrängen und die objektiven Tatbestände
nicht entstellen. Dies ist nun bei Windelband nirgendwo der
Fall. Man lernt wirklich die Ideen der großen Denker und ihre
Systeme kennen, nicht den philosophischen Standpunkt des Verfassers
. Das Lehrbuch stellt sich eine dreifache Aufgabe: l. aus
den Quellen (das Leben) und die Lehre der einzelnen Philosophen
genau festzustellen, 2. den genetischen Prozeß der philosophischen
Systeme zu rekonstruieren, und 3. den Wert der philosophischen
Lehren im Hinblick auf den Gesamtertrag der Geschichte
der Philosophie zu beurteilen (13). Es leuchtet ein, daß sich die
philosophische Richtung des Verfassers am meisten bei der Lösung
der dritten Aufgabe geltend machen wird. Aber seine Wertung
ist so maßvoll und objektiv, daß kein Studierender von
vornherein in eine bestimmte philosophische Richtung genötigt
wird. Die verschiedensten Ansichten werden mit gleicher Objektivität
vorgetragen, und es wird dem Leser überlassen, sich selbst
aus den dargelegten Ideen seinen Standpunkt zu erarbeiten und
Stellung zu beziehen. Rezensent denkt dankbar daran, daß er in
jungen Jahren durch dies Lehrbuch in die Geschichte der Philosophie
eingeführt worden ist, ohne den Standpunkt des Verfassers
zu übernehmen. Und eine solche Objektivität darf von einem
Lehrbuch erwartet werden. Welcher philosophischen Richtung
ein denkender Mensch sich anschließt, hängt von vielen und
nicht nur theoretischen Faktoren ab. Zunächst aber heißt es immer
, die objektiven Tatbestände zu erkennen und 6ich anzueignen
.

Unser Lehrbuch will eine Darstellung der Geschichte der
philosophischen Probleme und Begriffe sein. Darum gliedert der
Verfasser nicht chronologisch nach dem Leben und Auftreten der
einzelnen Philosophen, sondern sachlich nach dem Erscheinen der
maßgeblichen Ideen. So kommt es, daß einzelne Denker in mehreren
Kapiteln vorgeführt werden, sofern sie die angeschnittenen
Fragen wesentlich gefördert haben. Der Nachteil dieser Gliederung
ist, daß die einzelnen Philosophen nicht, (wie z. B. in der
Geschichte der Philosophie der Griechen von Ed. Zeller oder in
Kuno Fischers großen Werken), in einer geschlossenen Darstellung
vorgeführt werden können. (Eine Ausnahme macht Imm. Kant,
dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist!). Der Vorteil einer solchen
Gliederung ist, daß die Entwicklung der Probleme viel durchsichtiger
wird. Die chronologische Reihenfolge bleibt insofern
gewahrt, als die großen Perioden der Philosophiegeschichte zeitlich
aufeinander folgen. Es werden im ganzen acht Philosophien
unterschieden: Die Philosophie der Griechen, die hellenistisch-
römische Philosophie, die mittelalterliche Philosophie, die Philosophie
der Renaissance, die der Aufklärung, die deutsche Philosophie
, die Philosophie des 19. und die des 20. Jahrhunderts.

Jede Philosophie zerfällt wieder in Perioden, so die Philosophie
der Griechen in die kosmologische, die anthropologische
und die systematische; die hellenistisch-römische Philosophie in
die ethische und die religiöse; die Philosophie der Renaissance in
die humanistische und die naturwissenschaftliche; die Philosophie
der Aufklärung in eine theoretische und eine praktische; die deutsche
Philosophie: Kant und die Entwicklung des Idealismus, usw.
Die kosmologische Periode der griechischen Philosophie erforscht
die Begriffe Sein, Geschehen und Erkennen; die anthropologische
Sittlichkeit und Wissenschaft; die systematische bringt die großen
Systeme des Materialismus, des Idealismus und der Entwicklung
hervor. In der hellenistisch-römischen Philosophie geht es zuerst
um die wahre Weisheit, um Mechanismus und Teleologie, um
Freiheit und Theodicee, sowie um die Wahrheit, dann um Autorität
und Offenbarung, Geist und Materie, Gott und Welt, und
um die Geschichte. Die mittelalterliche Philosophie behandelt in
zwei Perioden die innere Erfahrung, die Universalien, das Lcib-
Seele-Problem, Natur und Gnade, Wille und Verstand, sowie die
Individualität. Die Renaissance kämpft zuerst um die Traditionen
und behandelt das Problem Makrokosmos - Mikrokosmos, und
wendet sich dann den Methodenfragen, den Begriffen Substanz
und Kausalität, und dem Naturrecht zu. Die Aufklärung bemüht
sich um die Erkenntnistheorie, die natürliche Religion, Moral und
Kultur. Das 19. Jahrhundert erforscht nach dem Abklingen der
großen Systeme die Probleme der Seele, der Natur und der Geschichte
und die Metc.physik des Irrationalen.

Der Leser, der die früheren Auflagen des Lehrbuches schon
kennt, geht mit besonderem Interesse an die Lektüre des 8. Teiles,
der Darstellung der Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Drei Probleme bewegen nach Heimsoeth die neueste Philosophie
: Das Erkennen, die Realität (Wirklichkeit) und der Mensch in
der Geschichte (5 84 ff.). Bei dem Problem des Erkennens
wird zuerst der transzendentale Idealismus erwähnt, der zwar
ein Gegengewicht gegen den Naturalismus darstellte, aber
den Dualismus zwischen Wert und Wirklichkeit nicht zu überwinden
vermochte (586). Tiefer wird der Naturalismus (und
jeder Wissenschaftsdogmatismus) überwunden durch die neue
Wissenschaftskritik, die auch ein neues Bewußtsein des Irrationalen
ermöglicht (587). Neue fruchtbare Gesichtspunkte bringt
die Phänomenologie E. Husserls (5 88). Das geschichtliche und
geisteswissenschaftliche Erkennen wird gefördert durch W-
Dilthey, wobei da6 Problem der Werte neu durchdacht wird