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Ausgabe:

1959 Nr. 2

Spalte:

127-128

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Picht, Georg

Titel/Untertitel:

Die Erfahrung der Geschichte 1959

Rezensent:

Trillhaas, Wolfgang

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127

Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 2

128

schichte anpackt (146), gezeigt zu haben, wie bereits innerhalb
der Aufklärung selbst die Mächte aufbrechen, die über die von
ihr gesetzten Grenzen hinwegführen. Im lebendigen Gespräch
mit dem Dialektiker Lessing, der selbst ein „Mensch des Gespräches
" war, ein „Sokrates redivivus", ein „Florettfechter des
Geistes", hat Th. aus einer gewissen Kongenialität mit seinem
Gesprächspartner heraus den Leser vor die Fülle der Probleme
gestellt, die die theologische Generation von heute bewegen
müssen, und sie vor Aufgaben gestellt, mit deren Lösung bereits
Lessing als der „erste freie Schriftsteller" im Sinne Kierkegaards
gerungen hat.

Kiel Werner Schultz

Picht, Georg: Die Erfahrung der Geschichte. Frankfurt/M.: Klostermann
[1958]. 54 S. 8° = Wissenschaft u. Gegenwart, H. 19. DM3.50.

P. legt hier ein Referat vor, das er im Februar 1957 in Göttingen
im Rahmen des Gesprächs zwischen Theologen und Physikern
gehalten hat. Im Verlauf dieser Gespräche war deutlich
geworden, daß die beiden Wissenschaften sich über ihre Stellung
zur Geschichte verständigen müßten. Da die neuzeitliche Naturwissenschaft
6ich auf die Erfahrung beruft, fragt der Verf. nach
der Erfahrung der Geschichte, da man ja von keinem Gegenstande
sprechen kann, ohne eine Erfahrung von ihm zu haben. Der Erfahrungsbegriff
wird so zu einem mittleren Begriff, in dem ein
Schnittpunkt des Interesses zu vermuten ist. Die Schrift P.s ist
außerordentlich gedrängt und es ist nicht leicht, über sie zu referieren
und zu ihr Stellung zu nehmen. So sei damit begonnen,
das Verdienst der Problemfindung hervorzuheben, neben dem
sofort auch die Eigenart des Weges bezeichnet werden muß, der
zur Erläuterung und möglichen Lösung des Problems eingeschlagen
wird. P. unternimmt es nämlich, anhand einer Analyse des
Aristotelischen und Kantischen Zeitbegriffes vorzugehen. Ich kann
dabei nur die Methodik charakterisieren, ohne die Analyse selbst
wiederzugeben oder gar inhaltlich zu erörtern. Es sind zwei
Stränge der Analyse zu beobachten. Einmal die Darlegung der
Zeitlehre dieser Philosophen selbst, dann aber die Frage nach der
in dieser Zeitlehre enthaltenen eigenartigen Zeiterfahrung und
darüber hinaus — besonders im Blick auf Kant - die Frage, inwieweit
sich in der Gestaltung dieser Zeitlehre ein Bewußtsein
von der eigenen Geschichtlichkeit widerspiegelt. Ist im aristotelischen
Denken die Zeit der Bereich, in dem sich die Erscheinungen
des Immer-Seienden vollziehen, wobei die wahre Erkenntnis,
bzw. die Erkenntnis der Wahrheit imgrunde nur diesem Immerseienden
gilt, so vollzieht sich bei Kant eine „Revolution", über
deren geschichtliche Bedeutung er sich selbst eingehend geäußert
hat. Die Zeit wird — abgekürzt formuliert — selbst gleichsam das
Immer-Seiende, denn sie ist Bedingung der Anschauung überhaupt
. Der Zeitbegriff wird zu einer unentrinnbaren Voraussetzung
der Verstandestätigkeit, sie, in der aller Wechsel der Erscheinungen
gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht. Dem
entsprechen dann die drei Modi der Zeit nach Kant, die Modi
der Beharrlichkeit, der Folge und des Zugleichseins. Die Zeit ist
die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung. So kommt P. 2U
überraschenden Folgerungen, die auf der Linie liegen, daß die
Zeit selbst die reine Unwandelbarkeit ist.

Der bei P. häufig wiederholte Satz: Die Zeit selbst ist das
Sein, bedeutet also einen über Kant hinaus gewonnenen Satz insofern
, als diese Zeit „ewige Gegenwart" ist. Aber das ist nicht
die geschichtliche Zeit. Denn hier stellt sich doch das Ich aus der
Geschichte heraus. Es ist eine Gabe der christlichen Heilsbotschaft
, daß der Mensch 6ein Ich entdeckt. Die Heilsbotschaft ruft
ihn bei diesem und bei keinem anderen Namen. „Dieses Selbstsein
im Anruf ist nicht beharrende Identität; es ist vielmehr un-
wiederholbare Einmaligkeit" (S. 37). Die von der griechischen
Ontologie her entworfenen Deutungen der Zeit meinen alle die
Epiphanie des Seins als ewiger Gegenwart. Versteht man aber die
Wahrheit des Seins als Wahrheit in der Zeit, so ergibt sich die
unmittelbare Zeitauffassung in den drei Modi der Zeit: Vergangenheit
, Gegenwart und Zukunft.

P. zeigt nun, wie eben Vergangenheit und Zukunft nur von
der Gegenwart her begriffen werden können. Das Wesen der
Zeit ist in diesem Sinne Vergegenwärtigung, reprae«entatio. Die

Gegenwart bringt in der Form der Erinnerung die „abgeschlossene
" und unveränderliche Vergangenheit zur Vergegenwärtigung
, und insofern ist das Vergangene in der Tat „gegenwärtig".
Die Vergangenheit determiniert die Gegenwart. Die Zukunft
aber, die auf die Gegenwart zukommt, bezeichnet einen offenen
Spielraum, sie bezeichnet die Möglichkeit. So kommt P., der im
Zuge der gedrängten Schrift überdies begriffliche Abbreviaturen
liebt, zu der einleuchtenden Formel: Das Wesen der Zeit ist Ermöglichung
von Möglichkeit. Diese Möglichkeit ist der Spielraum,
der durch das Notwendige (sc. die unveränderliche Vergangenheit
) und das Unmögliche begrenzt und nach der Zukunft hin
offen ist.

So schimmern in eigenartiger Weise am Ende des sehr komplizierten
Gedankenganges die Kategorien der alten Ontologie
doch wieder durch. Und man möchte die Zielsetzung der Arbeit
so bezeichnen, daß sie die begrifflichen Grenzen und Bedingungen
bezeichnet, in denen sich die Erfahrung der Geschichte begeben
kann, jene Erfahrung, die in ihrem tieferen Sinne nur durch die
uns widerfahrene eschatologische Offenbarung entschleiert ist.

Ich habe Weg und Ziel der Schrift in sehr knappen Strichen
zu umreißen versucht und manche wichtigen, eindrücklichen
Beobachtungen, die auf diesem Wege zu gewinnen sind, unerwähnt
gelassen. Vieles ist freilich in dieser Schrift selbst sehr kurz gesagt
. Sie stellt auch ihrerseits eine Wanderung auf schmalem Grat
dar, und es ließen sich manche Formulierungen nennen, die mau
in ihrer apodiktischen Kürze — ich meine das im Sinne einer gewalttätigen
Vereinfachung der Phänomene — kaum zu akzeptieren
vermag. Ich sehe davon ab, hier mit dem Verf. zu rechten, dem
es ja sicherlich konzediert werden muß, daß er einen Entwurf
bietet, und der darum auch den Weg seines Denkens da und dort
in gedanklichen „Signalen" bezeichnen darf.

Freilich bin ich mir doch nicht sicher, ob das, worauf er
schließlich abkommt, nicht mehr das alte Husserlsche Problem
der „inneren Zeiterfahrung" meint, wenn auch mit neuen begrifflichen
Mitteln. Meine Frage wäre daher am Schluß doch die,
ob wir mit alledem nun wirklich bei der „Geschichte" sind. Ist
die Erfahrung der Zeit eo ipso schon die Erfahrung der Geschichte
? Ja, ist selbst die Erfahrung der „Geschichtlichkeit", um
diesen strapazierten Begriff ins Spiel zu bringen, auch schon die
Erfahrung der Geschichte? Man denke nur an den Wandel des
Begriffs der „Gegenwart", sobald wir ihn im historischen Sinne
verstehen; man denke an die eigenartige Variation des Begriffs
der „Gleichzeitigkeit" im geschichtlichen Sinne, an das Problem
der geschichtlichen Analogien, der — vermeintlichen oder tatsächlichen
— „Gesetze geschichtlichen Ablaufs", die doch aus der
Erfahrung der Geschichte nicht ausgeklammert werden können.
Gerade wenn man an die Rätsel der „historischen Perspektive"
denkt, kann man sich jene „Erfahrung" der Geschichte vergegenwärtigen
. Geht von dem, was uns hier P. zeigt, ein Weg zu der
Erfahrung in jenem Sinne?

Göttingen Wolfgang Trillhaas

Coleridge, Samuel Taylor: Confessions of an Inquiring Spirit.

Reprinted from the third edition 1 8 53 with the introduetion by
Joseph Henry Green and the note by Sara Coleridge. Ed. with an
introduetory note by H. St. J. Hart, B. D. London: Adam Sc Charles
Black [1956]. 120 S. 8° = A Library of Modern Religious Thought.
8 s. 6 d.

Hume, David: The Natural History of Religion. Ed. with an introduetion
by H. E. R o o t, M. A. London: Adam & Charles Black
[1956]. 76 S. 8° = A Library of Modern Religious Thought. 6 s. 6 d.

Lcssing's Theological Writings. Selections in translation with an
Introduetory Essay by Henry Chadwick. London: Adam &
Charles Black [1956]. 110 S. 8° = A Library of Modern Religiou«
Thought. 8 s. 6 d.

Die von Henry Chadwick (Cambridge) ins Leben gerufene
Library of modern religious Thought legt drei erste ansprechende
Quellenbändchen vor.

Der Text des Hume-Traktats entspricht der Ausgabe von
T. H. Green und T. H. Grose (1875) ohne die textkritischen
Noten. Humes Quellenangaben wurden verbessert. Zusammen
mit Humes posthum erschienenen Dialogues Concerning Natural