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Ausgabe:

1959 Nr. 2

Spalte:

124-127

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Thielicke, Helmut

Titel/Untertitel:

Offenbarung, Vernunft und Existenz 1959

Rezensent:

Schultz, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 2

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bürgtes und ist dankbar, daß es dort zusammengestellt wurde;
denn man benötigt es für praktische Zwecke immer wieder und
ist froh, Auskunft zu erhalten. Der Wert, den literarhistorische
Gesamtdarstellungen unter diesem Gesichtspunkt haben, darf
weder verkannt noch verschwiegen werden. Gleichzeitig ist aber
zu betonen: Sobald man mehr erfahren möchte als das, was
eigentlich nur Voraussetzung für literarhistorische Betrachtung
ist, sobald man mit einer die Dichtung wesensmäßig betreffenden
Frage kommt, pflegen jene Werke zu versagen. Die älteren überraschen
im allgemeinen durch Naivität und Oberflächlichkeit
(wie wir meinen); die neueren erweisen sich als gebunden und
verstrickt in bestimmte weltanschauliche Richtungen, die an ihrer
Terminologie zu erkennen sind sowie an der Auswahl, die 6ie
treffen. Gerade da, wo sie über das Faktische hinausgehen und
Wertungen und Deutungen geben, wo, wie man erwartet, die
persönliche Leistung des Verfassers einsetzt, gerade da ist ihre
Bedeutung am geringsten, und von da aus veralten sie nicht all
zu lange nach ihrem Erscheinen. Die Problematik, die 6ich hier
auftut, ist für den Literarhistoriker, der 6ich Gedanken über sie
macht, erregend. Es ist zu fragen, ob nicht jeder, der sich vornahm
, eine Gesamtdarstellung zu geben, die mehr als ein Nachschlagewerk
oder ein Handbuch 6ein will, seine Möglichkeiten
überschätzte.

Die „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen
bis zur Gegenwart" von Helmut de Boor und Richard Newald f,
die in 6 Bänden (von denen der 6. zwei Teile hat) erscheint, ist
ein Gemeinschaftswerk und bezeichnet sich selbst als Handbuch
für das germanistische Studium. Ursprünglich wollte man nur ein
knappes Lehrbuch für Studenten schaffen, und man änderte die
Richtung auf die Bedürfnisse des Lernenden auch nicht, als das
Werk sich über den anfangs geplanten Umfang hinaus ausweitete.
Dies bedeutete, daß man nicht danach strebte, neue Ergebnisse
vorzulegen oder neue Methoden zu verwirklichen, sondern lediglich
das, was an gesichertem Wissen und anerkannter Erkenntnis
als Handwerkszeug der Forschung wie der Praxis gelten kann, in
übersichtlicher Form darstellen wollte und sich in der Auswahl
des Stoffes beschränkte; man machte es sich zur Aufgabe, eine
Vorstellung von der deutschen Literaturgeschichte zu vermitteln,
ohne die Fülle der gesamten Literatur auszubreiten.

Richard Newald, der Verfasser der 1. Hälfte des 6. Bandes,
die hier zur Besprechung vorliegt, verfaßte auch den vorangegangenen
5. Band (deutsche Literatur von 1570 bte 1750) und
hätte den 6. Band durch Abfassung 6einer zweiten Hälfte noch
zu Ende geführt, wenn er nicht vorzeitig gestorben wäre. Er war
ein hervorragender Vertreter seines Faches und hat der schwierigen
Aufgabe, die ihm jene die Klassik vorbereitende Epoche
stellte, alles Erdenkliche abgewonnen. Freilich blieb ihm kein
Raum für intensive Analysen von Meisterwerken; dennoch
schimmert bei ihrer Behandlung durch die straffen Zusammenfassungen
stets das Wissen um ihr Wesentliches hindurch. Das
zarte Gebilde einer Dichtung ist nicht mit knappen Worten auf
wenigen Seiten zu beschreiben. Daß der Verfasser raffen und vergröbern
mußte, ist selbstverständlich. Er tat es mit Geschick und
Takt, gab ständig den Blick auf das innere Leben der Kunstwerke
frei und wußte gleichzeitig auf elegante Weise Faktisches, das
vermerkt werden muß, das zum Lernstoff gehört, im Zuge der
Darstellung zu bringen.

Der Band gliedert sich in drei Abschnitte: 1. Die Sprengung
der klassizistischen Tradition, 2. Sturm und Drang, 3. Der Aufstieg
Weimars. Im ersten Abschnitt werden Klopstock, Leasing,
Wieland und einige sie begleitende Gestalten behandelt; im zweiten
Hamann und Herder, der Göttinger Hain, Lichtenberg und
Forster, der junge Goethe, Klinger, Lenz, Wagner, Maler Müller,
Jacobi, Hippel, Moritz und Heinse. Der junge Schiller wird an
den Anfang des dritten Abschnittes gestellt, was zwar überraschen
mag, sich aber dennoch rechtfertigen läßt. Es wird hier
außerdem den Werken, die Goethes erster Weimarere Zeit bis zur
Italienreise (1786) entstammen, ein Kapitel gewidmet und ein
anderes Herders Weimarer Zeit biß zu 6einem Tod (1803). Da
Wielands gesamte Entwicklung bis zu seinem Tod (1813) schon
im ersten Abschnitt gebracht worden war, erscheint er hier nicht
mehr, obwohl Wieland aus dem Weimar Anna Amalies nicht
heraus zu denken ist. Der Verfasser mag gute Gründe für diese

Anordnung des Stoffes gehabt haben. Ein sehr reichhaltiges und
instruktives Kapitel: „Die Zeitgenossen der Großen. Erfolgsbücher
und Gebrauchsdramen", das auch „Die Wiener literarische
Situation im Zeichen des Josefinismus" miteinbezieht, beschließt
den dritten Abschnitt und damit den Band (besser seine erste
Hälfte).

Da6 Buch erfüllt den Zweck, den es 6ich setzte. Es ist ein
Nachschlagewerk und besonders geeignet zur schnellen Orientierung
sowohl über die Zentralgestalten des Zeitraums wie übei
weniger bekannte und weniger eindrucksvolle Figuren und ihre
Werke. Es wird dem Studierenden wie jedem, der sich als Lernenden
ansieht — und wer wollte das nicht? — sehr gute Dienste
tun, sofern er gleichzeitig Spezialuntersuchungen zu Einzelthemen
heranzieht (wozu ihm die reichhaltigen und sorgfältigen Literaturangaben
die Wege ebnen) und sich vor allem dem Studium der
Originaltexte widmet.

Greifswald Hildegard Emmel

G i e 6 e c k e, Hans: Die Weihnachtsbotschaft in der Dichtung.

Die Zeichen der Zeit 1958 S. 451—455.
Weniger, Erich: „Erlebnis" und „Dichtung" im Werk Wilhelm

Raabes.

Die Sammlung 13, 1958 S. 613—623.

PHILOSOPHIE UND BELIGIOJSSPHILOSOPHIE

/

Tnlelicke, Helmut: Offenbarung, Vernunft und Existenz. Studien
/zur Religionsphilosophie Lessings. 3., wesentlich erweit. Aufl. Gü-
/ terejoh: Bertelsmann [1957]. 172 S. 8°.

„Vernunft und Offenbarung" lautete der Titel des vorliegenden
Buches in seiner 1. und 2. Auflage. Der neue Titel ergibt
sich daraus, daß dem 1. Teil, in dessen Mittelpunkt die Begriffe
Offenbarung, Vernunft und Geschichte standen — der in
diesen Blättern seinerzeit bereits besprochen wurde —, ein Teil
angefügt ist, der „vor allem das Problem der zwischen Vernunft
und Geschichte eingeklemmten Wahrheit aufzunehmen" (9) und
durch Konfrontierung mit Luther, Kierkegaard und der modernen
Existenztheologie noch weiter zu erhellen versucht. Th.s besonderes
Anliegen, Lessing als einen der ersten neuzeitlichen
Menschen (12) aufzuzeigen, der in gewisser Beziehung bereits
die Grenzen der Aufklärung hinter sich gelassen hat, wird in dem
zweiten Teil nodi stärker unterstrichen und durch den Hinweis
auf die Verwandtschaft der Intentionen Lessings besonders zu
Kierkegaard weiter betont.

In dem ersten Teil der Untersuchung war es Th. darum zu
tun, im Gegensatz „fast zur ganzen sekundären Literatur" (41)
das dem Denken Lessings angemessene hermeneutisdie Prinzip
aufzuzeigen. Es ging hier besonders um die Deutung der Paragraphen
4 und 77 der Erziehung des Menschengeschlechts, um
die Klärung des in diesen Paragraphen liegenden Widerspruchs,
daß einerseits „die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts
gäbe, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen,
nicht auch kommen würde, sondern sie gab und gibt ihm die
wichtigsten dieser Dinge nur früher", daß andererseits die Offenbarung
auf „nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen
, von unserer Natur, von unseren Verhältnissen zu Gott leiten
könne, auf welche die menschliche Vernunft von selbst
nimmermehr gekommen wäre", daß, wie es noch deutlicher im
§ 7 der Erziehung heißt, die Vernunft sich endlos auf „Irrwegen
würde herumgetrieben haben", wenn es nicht Gott gefallen hätte,
ihr „durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu geben".
Th. will diese Widersprüche nicht — wie der überwiegende Teil
der bisherigen Lessingforscher — aus der Methode Lessings erklären
und 60 etwa durch das Aussprechen der Begriffe exoterisch-
esoterisch zu einer schnellen Scheinlösung kommen. Vielmehr
geht es ihm um die Beantwortung der Frage, welcher systematische
Kern diesen Widersprüchen zu Grunde liegt. Der Konflikt
„zwischen Transzendenzgläubigkeit und Immanenzverhaftung" —
das Kardinalproblem von Lessings Religionsphilosophie — soll
„bis in den systematischen Grund" des Denkens Lessings zurückverfolgt
werden (57).