Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1959 Nr. 2

Spalte:

105-107

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jenssen, Hans-Hinrich

Titel/Untertitel:

Der historische Jesus 1959

Rezensent:

Grundmann, Walter

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

105 Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 2 106

Gegensatz zu erblicken; darauf deuten gerade eine Reihe von
Neuansätzen im Kreis um Bultmann hin. Schneiders klares und
übersichtliches Referat, zu dem wir eine Reihe von Anmerkungen
gaben, ist geeignet, die weitere Erörterung durch die Herausarbeitung
der verschiedenen Positionen zu fördern. Dafür gebührt
ihm unser Dank.

Eisenach Walter Grundmann

Jensscn, H. H.: Der historische Jesus. Das Problem der Entmythc-
logisierung der Evangelien für Glaube und Verkündigung. Halle: VEB
Niemeyer 1957. V, 110S., gr. 8°. Hlw. DM 8.—.

Der Rezensent 6teht angesichts dieser Arbeit vor einer
Schwierigkeit; ihr Thema gehört in den Bereich der neutestament-
lichen Forschung; 6ie erörtert vorwiegend homiletische Fragen
auf der Grundlage systematischer Überlegungen ohne hinreichende
Klärung verwendeter Begriffe; die neutestamentlichen Erörterungen
fehlen fast vollständig; neuere Fragestellungen sind
nicht berücksichtigt. Die Diskussion um das Thema des historischen
Jesus, wie sie in dem Kreis um Rudolf Bultmann stattfindet
— vgl. den zusammenfassenden Bericht von Peter Biehl, Zur Frage
nach dem historischen Jesus, ThR 24 (1956/57) 54-77 — wird im
Vorwort erwähnt; sie konnte in der Arbeit keine Verwendung
finden, da diese bereits abgeschlossen war, wird aber als Bestätigung
der eigenen Position verstanden.

Die Arbeit stellt eine dreifache Frage. Sie ist zunächst eine
zustimmende Darstellung der Gedanken, die Bultmann zu seinem
Entmythologisierungsprogramm geführt haben. Sie grenzt sich
aber von ihm ab, insofern sie die existentiale Interpretation B.s
durch eine intentionale Interpretation ersetzen möchte, deren
Aufgabe es sei, „von der historisch-philologischen Erklärung der
Aussageformen zur Aufdeckung ihrer kerygmatischen Intention
vorzustoßen" (S. 16). Diese Wendung wird damit begründet, daß
es unmöglich sei, sich von einer objektivierenden Begrifflichkeit
zu befreien, da der Mythos in eine nichtobjektivierende Sprache
nicht übersetzt werden könne. Da nach Kant Begriffe ohne Anschauung
leer sind, muß eine Intentionalinterpretation des Mythos
nach Jenssen nach Anschauungsmaterial suchen, das er stärker
als bisher der inneren und nicht der äußeren Anschauung zu
entnehmen empfiehlt. Die mythischen Aussagen entmythologisieren
heiße sie als Chiffren verständlich zu machen, wodurch
eine „Brechung des Mythos" erreicht wird, was durch eine Übersetzung
in Existentialaussagen nicht gelingen könne, weil dadurch
ein echtes Verhältnis zum Mythos nicht erreicht werde; Übersetzung
in Existentialaussagen und mythische Aussagen stehen
nebeneinander, und die Gemeinde wird der Bibel entfremdet.

Auf dieser Grundlage sucht Jenssen in einer Erörterung der
homiletischen Grundprobleme der Entmythologisierung im engeren
Sinne der Behandlung mythischer Aussagen in der Predigt
nachzugehen und dabei an die Gotteserfahrung, „die letzte Bastion
, die dem Ansturm einer naturalistischen Weltanschauung
standhält" (S. 73), anzuknüpfen; diese Gotteserfahrung sei Bürge
der Überwelt, von der bildhaft gesprochen werden müsse. Abgesehen
von der Frage, ob die „Gotteserfahrung" so überhaupt
vorausgesetzt werden kann — was heißt denn „Gotteserfahrung"
als theologische Aussage? — muß nun festgestellt werden, daß im
Grunde genommen die ganze Erörterung hinausläuft auf eine
Reihe von dankenswerten Ratschlägen und Erwägungen zu anschaulichem
Predigen unter reicher Heranziehung vorliegender
Predigtliteratur. Die Ersetzung der existentialen Interpretation
durch die Intentionalinterpretation des Mythos führt zu
Vorschlägen für bildhaft-anschauliche Predigt, die die Gefahr
eines objektivierenden Mißverständnisses der mythischen Sprache
bannen soll. Uns scheint, daß die Radikalität der Fragestellung
angesichts des gegenwärtigen Menschen, wie sie Bultmann mit
seiner Existentialinterpretation aufwirft, nämlich: was geht mich
das an, was ich als alte und vergangene Geschichte verstehe und
zu der ich keinen Zugang mehr habe, von Jenssen überhaupt nicht
gesehen ist; seine Intentionalinterpretation wird Apologetik.

Nun wirft er zwischen seiner kritischen Erwägung und sei
nen homiletischen Erörterungen zur Entmythologisierung eine
dritte Frage auf, die seinem Buch den Titel gegeben hat. Im Anschluß
an Ernst Steinbach spricht Jenssen von der „Erlebnismitte
unseres Glaubens" und sieht sie bestimmt „durch die Begegnung
des Menschen mit Gott in Jesus Christus" (S. 39). Ausgehend
von der Aussage Bultmanns — „das in Christus sich ereignende
Geschehen ist also die Offenbarung der Liebe Gottes ..." (Offnb.
und Heilsg. 57) sieht er die Frage „für mich nur so gestellt, ob
ich glauben will, daß Gott mir in dieser Predigt, die sich auf Jesus
von Nazareth beruft, seine Liebe offenbart" (S. 43). Diese Frage
schließt die andere ein, die nach der Legitimation solcher Predigt
fragt; nach der Legitimation fragen aber heißt nach dem historischen
Jesus fragen. Nun sagt Bultmann von der Verkündigung,
sie „erhält ihre Legitimation aus der Offenbarung der Gnade
Gottes in Jesus Christus", den das NT als eschatologisches Ereignis
verkündet. Das heißt: „Jesus Christus ist eschatologisches
Ereignis nicht als ein Faktum der Vergangenheit, sondern als der
Jeweils hier und jetzt in der Verkündigung Anredende" (Bultmann
, Geschichte und Eschatologie 180 f.). Jenssen folgert daraus
.' „Wir glauben an Jesus von Nazareth als Legitimation der
Predigt dann nicht deshalb, weil Jesus für uns durch sein „Sein"
wirklich eine Legitimation wäre, sondern einzig weil die Predigt
sagt, daß es so sei. Letztlich glauben wir also immer nur der Predigt
" (S. 44). Denn nach Bultmann ist „alles Rekurrieren auf den
historischen Jesus ja nutzlos" (ebda). Und er schließt: „Die Predigt
wird zum Ersatz des historischen Jesus und der mythischen
Offenbarung" (S. 46), da sich im Ergehen der Predigt das Heil ereignet
. Damit ist nun freilich die Frage gestellt, die sich in der
gegenwärtigen theologischen Diskussion immer mehr in den
Vordergrund schiebt.

Was freilich Jenssen dazu zu sagen hat, können wir nicht
als Lösung des Problems ansehen. Er will durch Verbindung des
Bultmannschen Entmythologisierungsgedankens mit dem Begriff
"er Divination von Rudolf Otto an die Wirklichkeit des historischen
Jesus heranführen. Divination ist ihm die Erkenntnis und
Anerkenntnis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die
nicht auf rationalem Weg andemonstriert werden kann, sondern
••als testimonium Spiritus saneti internum erfahren, und als Geschenk
Gottes empfangen werden muß" (S. 49). Wenn man diese
Worte ernst nimmt, dann muß sofort gefragt werden: wie anders
a's eben durch die Verkündigung als Anrede, in der Jesus Chri-
st"s selbst der „jeweils hier und jetzt in der Verkündigung Anödende
" ist, wie Bultmann sagt? Aber für Jenssen ist Jesus Chri-
stu« „vorzüglichstes Objekt der Divination neben der sonstigen
Offenbarung Gottes in Natur und Geschichte" (S. 49), und er
wi" „den historischen Jesus zum Objekt der Divination machen"
(S. 65). Wie kann er als unser „Objekt" als testimonium Spiritus
Sancti internum erfahren und als Geschenk Gottes empfangen
Werden? Hier rächt es sich, daß Jenssen sich nicht wirklich der
Erkenntnis stellt, die die Predigt als Anrede versteht, die zur
Entscheidung des Glaubens führt, in der ich mich entscheide „nicht
für eine verantwortliche Tat, sondern für ein neues Verständnis
meiner selbst als des durch Gottes Gnade von sich selbst befreiten
Ur>d sich neu geschenkten Menschen und damit für ein neues
I-eben aus der Gnade Gottes" (Geschichte u. Eschat. 181).

Was gewinnt nun Jenssen auf „divinatorischem" Weg für
den historischen Jesus als Legitimation der Predigt? Er knüpft an
an Erwägungen von Karl Hackenschmidt in seiner Praktischen
Christologie unter dem Titel „Die Christuspredigt in unserer Zeit"
(1908) und gewinnt als Bild des historischen Jesus „die an ihm
sichtbare, höchste, Menschenmaß sprengende Freiheit", die „zugleich
tiefste, Menschenmaß sprengende Gebundenheit an und in
Gott" bedeute (S. 56), der er „durch sein Wort überzeugenden
ur>d einzigartigen Ausdruck" gibt, was sich „gleichsam in seine
einzelnen Strahlen zerlegt, widerspiegelt in den Menschen, die
Jesus begegnen" (S. 57). Dazu kommt, daß Jesus um diese seine
Autorität weiß und daß er nicht vom Osterzeugnis isoliert werden
darf. Ostern besagt, daß Gott in einem schöpferischen Akt
-Jesus in ein neues Sein versetzt, für das jegliche menschliche
Analogie fehlt" (so S. 59). Anstelle einer Erörterung der Methodenfrage
zur Gewinnung eines zutreffenden Bildes des historischen
Jesus wird lediglich auf Richtungen in der heutigen Theologie
verwiesen, „die mit durchaus guten und beachtlichen Gründen
die Skepsis der Formgeschichtier als übertrieben ablehnen";
das genügt zur Feststellung, daß „eine Entmythologisierung, die