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Ausgabe:

1959 Nr. 12

Spalte:

939-941

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Flückiger, Felix

Titel/Untertitel:

Der Ursprung des christlichen Dogmas 1959

Rezensent:

Beyschlag, Karlmann

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939

Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 12

940

Flückiger, Felix: Der Ursprung des christlichen Dogmas. Eine Auseinandersetzung
mit Albert Schweitzer und Martin Werner. Zollikon-
Zürich: Evangelischer Verlag 1955. 216 S. gr. 8°. Lw. DM 15.20.

Das bekannte Werk von M. Werner: Die Entstehung des
christlichen Dogmas (1941; 21953) hat von allen Seiten viel
Widerspruch gefunden. Unter den zahlreichen Neinstimmen ist
das angezeigte Buch von Flückiger neben den bereits 1942 erschienenen
Untersuchungen von W. Michaelis: „Zur Engel -
christologie im Urchristentum", die umfangreichste Auseinandersetzung
. Es handelt sich um die Veröffentlichung einer Baseler
Vorlesung des Verfs. aus dem Winter 1954/5, die der „ernsthaften
Beunruhigung" steuern soll, die durch die radikalen Thesen
der „konsequent eschatologischen Schule" (A. Schweitzer,
M. Werner und dessen Schüler F. Buri, U. Neuenschwander) „bei
vielen Menschen" entstanden ist.

Es darf zunächst als ein Vorzug des Buches gelten, daß der
Verf. darauf verzichtet hat, den ganzen Komplex des Werner-
schen Werkes vorzustellen, zumal gerade der dogmengeschichtliche
Hauptteil desselben (a.a.O., S. 389ff.) einen teilweise recht
komplizierten Gedankengang entwickelt. Statt dessen beschränkt
sich die Auseinandersetzung im wesentlichen auf das NT und hier
vor allem auf einen Hauptpunkt: Es wird bestritten, daß „die
Botschaft des NT historisch als reine Gerichtsbotschaft" zu gelten
habe. Es wird behauptet, „daß die Christusoffenbarung nicht
Gericht, sondern Gnade und darum auch göttliche Langmut und
Verschonung ist".

Zum Inhalt: Von den 7 Kapiteln des Buches gehören die
beiden ersten („Die konsequente Eschatologie" S. 18 ff.; „Der
dogmengeschichtliche Ansatzpunkt bei M. Werner" S. 42 f.) vor
allem der kritischen Abgrenzung. Weder die Predigt Jesu selbst
(Kap. 1), noch die spätere apostolische Verkündigung (Kap. 2)
kann i. S. der konsequenten Eschatologie verstanden werden.
Denn weder läßt sich aus Mt 11,12 (Stürmerspruch) erweisen,
daß Jesus das Reich Gottes durch seine Aktivität (Aussendung,
freiwilliger Tod) habe herbeizwingen wollen (S. 23 ff.) — und
darin enttäuscht worden sei, noch läßt sich aus Gal 6, 14
(S. 45 ff.) heraushören, daß für Paulus mit dem Tode Jesu die
erwartete „Weltendkatastrophe" bereits begonnen habe. Jesus
hat seine Botschaft keineswegs bloß als radikalisierten Henoch
i. S. der spätjüdi6chen Apokalyptik (S. 20) verkündet, und darum
hat auch Paulus den Tod Jesu nicht primär als kosmisches, vielmehr
als soteriologisches Ereignis (S. 43) gedeutet.

Demgegenüber sind die nachfolgenden 5 Kapitel des Buches
(„Die messianische Sendung Jesu" S. 80 ff.; „Die Predigt der
Gottesherrschaft" S. 94 ff.; „Gericht und Gnade" S. 121 ff.;
„Probleme der Christologie" S. 152 ff.; „Anfänge der Dogmenbildung
" S. 180 ff.) mehr thetisch als antithetisch gehalten, vermitteln
also in erster Linie die eigene Meinung des Verfassers.
Den theol. Hauptgesichtspunkt bringt 6ogleich das 3. Kapitel:
Nicht zum Gericht ist Jesus gekommen, sondern um die Sünder
zu retten, „weil sie sich selber nicht retten können" (S. 81). Als
Belege gelten Mkl,24; 2,17; Mt5,6; Lk 15, 3 ff.; 19,10;
Joh 10; 12, 37. Und hierin erkennt der Verf. die schwere Problematik
der „konsequenten Eschatologie": Sie eliminiert die
Botschaft von der Gnade Gottes zugunsten einer rein apokalyptischen
Weltuntergangsstimmung und Gerichtsdrohung (S. 8 3).
Das Problem der Gottesherrschaft ist aber nicht von der Apokalyptik
, sondern nur von der Soteriologie aus zu erfassen. In der
rettenden Gegenwart Jesu (Mt 12,28!) ist auch die Gottesherrschaft
schon gegenwärtig, wenn auch in Niedrigkeit und Verborgenheit
(Kap. 4). Der Tod Jesu ist demgemäß nach Jes. 5 3
zu verstehen (S. 132). „Der dogmatisch richtige Kern der Rede
von der „Parusieverzögerung" ist einzig diese Erkenntnis, daß
statt des angekündigten Gerichts über die Welt die wunderbare
und „unvorhergesehene" Gnadenerweisung Gottes in Christus
geschehen ist" (S. 137; Kap. 5). Im übrigen sind die von Werner
merkwürdig stiefmütterlich behandelten Ansätze zur späteren
Bekenntnisbildung und Christologie bereits im NT reichlich vorhanden
(Kap. 6 u. 7). Die „neutestamentliche Christologie" ist
die „Explikation" dessen, was sich „von der Geburt Jesu bis zu
seinem Tod" (S. 154) an objektiven eschatologischen Heilsveranstaltungen
Gottes ereignet hat. Der einzig legitime Schlüssel

zur Dogmengeschichte ist die „Heilsgeschichte" der katholischen
Kirchenväter (S. 203), nicht aber das moderne Problem der
Parusieverzögerung.

Es ist richtig und dem Verf. als ein hohes Verdienst anzurechnen
, daß er die Frage des Heils, der Rettung des Sünders,
also die Soteriologie, als conditio sine qua non des Evangeliums
in die Mitte gestellt hat, um sie gegen eine Art der Eschatologie
zu verteidigen, die im Namen der 6pätjüdischen Apokalyptik auf
das Evangelium selbst verzichtet. Flückiger hat diesen Gedanken
mit Nachdruck unterstrichen: „Die Preisgabe des Gnadenmotivs
wiegt schwerer, als alle exegetischen Gewaltsamkeiten, die den
Vertretern der konsequenten Eschatologie zum Vorwurf gemacht
werden müssen" (S. 83). Die Bedeutung dieses Satzes geht weit
hinaus über den behandelten Zusammenhang und bleibt natürlich
als solche unangetastet.

Und doch erheben sich gerade von hier aus schwere sachliche
Bedenken. Zugegeben, es geht also im NT um die Soteriologie.
Aber ist mit dieser Feststellung das Wesen der „konsequenten
Eschatologie" wirklich erfaßt? Tatsächlich erfaßt doch diese Kritik
im Namen der „dogmatischen" Heilsgeschichte (S. 135)
lediglich die historisch^religionsgeschichtliche Begründung
der „konsequenten Eschatologie", während ihre systematischen
(insbesondere ethischen!) Konsequenzen (vgl. schon F. Buri: Die
Bedeutung der ntl. Eschatologie für die neuere protestantische
Theologie, 1934) einfach beiseite gelassen werden. Der wichtige
Satz Albert Schweitzers, daß „unser Verhältnis zu Jesus im letzten
Grunde mystischer Art" ist (Leben-Jesu-Forschung S. 641)
wird überhaupt nicht diskutiert! Indem die Kritik sich allein an
die historischen Feststellungen der konsequenten Eschatologie
hält, verfährt sie tatsächlich historistischer als diese selbst.

Nicht weniger anfechtbar ist die exegetische Methode, mit
Hilfe derer die — für sich gewiß sehr einseitigen — Behauptungen
Schweitzers und Werners zur Strecke gebracht werden. Eigene
Forschung des Verfs. bietet das Buch nicht. Als Autoritäten in
den ntl. Fragen werden statt dessen herangezogen: M. Barth.
F. Bietenhard, E. Cremer, O. Cullmann, C. H. Dodd, E. Gaugier,
J. Jeremias, W. G. Kümmel, W. Michaelis, R. Morgenthaler,
E. Percy, K. H. Rengstorf, A. Schlatter, K. L. Schmidt, E. Sjöberg
u. a. (Bultmann und H. Conzelmann nur in kritischen Bemerkungen
): eine sehr einseitige Auswahl! In der Tat werden die
harten kritischen Probleme der Forschung bei Flückiger eher verdeckt
als erörtert. Ein Buch wie Bultmanns „Geschichte der synoptischen
Tradition" wird nicht einmal erwähnt. Aber auch die
Auseinandersetzung mit Schweitzers „Mystik des Apostels Paulus
" (21954), auf deren Thesen die Weiterarbeit Werners ganz
wesentlich beruht, durfte nicht gänzlich fehlen. In der heißumstrittenen
Johannesfrage vertritt das Buch einfach den Standpunkt
des Irenäus (S. 76 f.). Für die Frage der Osterereignisse
(S. 155ff.) werden lediglich Michaelis, Percy und vor allem Rengstorf
angehört, wobei die Auferweckung Jesu als „historische"
Tatsache (S. 171) zu stehen kommt, im historisch-supranaturalen
Sinn der Heilsgeschichte. Demgegenüber wird das Problem der
Echtheit oder Unechtheit, eine Frage, an die Generationen von
Forschern ihre Kraft gesetzt haben, durch einen Seitenblick auf . . .
Kants Stilwandlung zwischen 1770 und 1780 (S. 156, Anm. 17)
erledigt.

Schließlich aber ist das theologische Verfahren des Buches
auch als solches zu kritisieren. Worum geht oder ging es denn
der „konsequenten Eschatologie"? Es ging doch darum, da6 Leben
Jesu hineinzustellen in die neuen Erkenntnisse der vergleichenden
Religionsgeschichte, d. h. zunächst der jüdischen Apokalyptik
, und dabei ehrlich zu bleiben. Natürlich kann man
über den Wert der religionsgeschichtlichen Parallelen und die Art
ihrer Benutzung streiten. Aber man kann nicht — und eben das
tut das Buch — die religionsgeschichtliche Erklärung überhaupt
absetzen, jedenfalls nicht dann, wenn man, wie der Verf., nach
einer Dogmengeschichte ruft, die „dem heutigen Stand der Forschung
" (S. 174, Anm. 77) entsprechen soll. Man kann nicht die
konsequente Eschatologie in ihren Voraussetzungen angreifen,
um sie alsdann massiv dogmatisch zu interpretieren (s. o. zu
S. 137). Werners Aufstellungen sind sicher fragwürdig, sofern
sie die konsequente Eschatologie als eine Art Albert-Schweitzer-