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Ausgabe:

1959

Spalte:

937-938

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Gallati, Fidelis Maria

Titel/Untertitel:

Der Mensch als Erlöser und Erlöster 1959

Rezensent:

Mann, Ulrich

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitimg 1959 Nr. 12

938

— wie Kuhn selber es 6ofort bemerkt hat — wird das anfängliche
Moment des Wirklichen (also objektiv der Offenbarung und subjektiv
der unmittelbaren Wahrnehmung des Glaubens) als überholt
verneint, was der christlichen Axiomatik grundsätzlich zuwiderläuft
. Oder aber, man schließt — mit Kuhn — den Gegenstand
aus der dialektischen Bewegung aus, die 6ich nur noch auf
die Erkenntnis bezieht. Dann aber spielt der Gegenstand keine
Rolle mehr in deir Dialektik der Erkenntnis. Er wird zum Geheimnis
, über das nichts mehr auszusagen ist. Der Sieg Kuhns
über die reformatorische Theologie entlarvt sich dann als ein
Pyrrhussieg. Wohl anerkennt er die relative inhaltliche Vollständigkeit
deir Schrift. Aber, da der „Schriftbeweis" nur ein Ausfluß
des Traditionsbeweise6 sein kann und da die Dialektik des
Traditionsbeweises sich nur auf die Erkenntnis bezieht, wird die
ganze Entwicklungsdialektik auf die Erkenntnis, d. h. auf sich
selbst gestellt. Es gibt kein Mittel mehr, zwischen der Erkenntnis
und dem Erkannten zu unterscheiden und die Richtigkeit der Er-
kenntnis unter Beweis zu stellen. Dadurch ist auf das Anliegen
der reformatorischen Theologie gar nicht eingegangen.

Wie es auch um die geschichtliche Berechtigung der Kuhn-
6chcn Exegese des Tricnterdckrcts bestellt sein mag. die doch sehr
problematisch bleibt (vgl. die Entgegnung von Lennerz „Scriptum
sola?" Gregorianum, 1959, Heft 1), fragt es sich sogar, ob
sachlich Bellarmin nicht Kuhn vorzuziehen ist. Bei Bcllarmin ist
wenigstens die Heilige Schrift — wenn auch nur einen Teil der
Offenbarung enthaltend — als solche verständlich! Bei Kuhn enthält
sie die ganze Offenbarung, aber sie ist nur durch die Brille
der Tradition zugänglich. Wie sollte sie daher als „Beweis" gelten
, da sie gerade aus der dialektischen Erkenntnisbewegung ausgeschaltet
ist?

Nicht eine Dialektik, die den primären Gegenstand überholt
, wie bei Hegel, nicht eine Dialektik, die sich nur auf die
Erkenntnis bezieht, wie bei Kuhn, sondern eine Dialektik, bei
der die primäre Realität des Gegenstandes mit der geschichtlichen
Entfaltung seiner Erkenntnis ständig konfrontierbar bleibt, ist
hiar vonnöten. Es bleibt immerhin das Verdienst Kuhns und
seines Darstellers, auf das Problem in unüberhörbarer Weise
hingewiesen zu haben.

Neuchätcl Jean-Loui« Leub»

Gnllnti. Fidelis M. O. P.: Der Mensch als Erlöser und Erlöster.

Der aktive und passive Anteil des Menschen an der Erlösung. Wien:
Herder [1958]. XVI. 229 S. gr. 8°. DM 24.-.

„Das Menschengeschlecht erlöst sich selbst in seinem Haupte
Jesus Christus" — dieser Satz (S. 225) ist die eigentliche These
des Buchs. Denn es geht dein Verfasser darum, den modernen
Menschen anzusprechen, der des Glaubens ist, „daß er sich selbst
von den Übeln dieser Welt erlösen kann" und oftmals „in der
Erlösung durch Christus allzusehr einen passiven Vorgang" 6ieht
(S. VIII). Dies apologetische Anliegen steht hinter Gallatis Unterfangen
, das Erlösungsgesdiehen nach seiner aktiven und passiven
Seite zu entfalten. Man darf billigerwcise fragen, ob ihm diese
Absicht gelungen ist. Die Frage muß verneint werden.

Denn von seiner eigentlichen Absicht her stellt sich dem
Verfasser ein primär hermcncuti6chcs Problem. Wieso das „mere
passive" des Rechtfertigungsgeschehens zugleich ein höchst aktives
Verhalten bedeuten kann, das wäre durch Interpretation
biblischer Texte und dogmcngcschichtlicher Zeugnisse deutlich zu
machen gewesen. Nach Interpretation sucht man aber in dem
Buch vergebens. Gallati beschränkt sich auf die Explikation der
Erlösungslehre des Thomas von Aquin, wogegen an sich noch
nichts einzuwenden wäre — nur müßte dies freilich im Titel zum
Ausdruck kommen! —; aber er interpretiert nicht, er expliziert
nur. Als ob der Aristotclismus des Aquinatcn einfach und ungebrochen
das auch heute gültige und verständliche Denkschema
wäre. Mit frappierender Monotonie werden die stagiritischen
Kategorien durchexerziert: kausal-final, formal-habitual, aktual-
potential, Wesen-Eigenschaft, Hauptursache-Mittclursache, Grund-
crlosung - Vollcrlösung u. a. m. Man erfährt beispielsweise, daß
es drei „Erlösungsursachcn" gibt: ,,A. Gott; B. Der Gottmensch
Jesus Christus; C. Der Mensch". Alles ist quellenmäßig gut belegt
, aber das ist auch alles. Daß es hier hermeneutische Probleme

gibt, ist überhaupt nicht gesehen. Was soll der moderne Mensch,
den Gallati doch ansprechen will, mit solcherlei Normal - Metaphysik
und -Dogmatik?

Dies ist auch der Grund dafür, daß die unumgängliche
Polemik äußerst dürftig ausfallen muß. Das bezieht sich nicht
auf die Tonart, im Gegenteil: die Vornehmheit der Auseinandersetzung
mit der reformatorischen Anschauung ist 6ehr zu begrüßen
, weil nicht eben allzu häufig. Aber das ändert nichts daran
, daß die anderen Auffassungen in dem aristotelisch - thomisti-
schen Rahmen völlig verzerrt erscheinen. Gallati will die thomi-
stische Erlösungslehre in Empfehlung bringen als die rechte Mitte
zwischen den beiden extremen Polen der reformatorischen Rccht-
fertigungslehre und des säkularistischen Modernismus. Beide
Antithesen aber 6ind verzeichnet. Einerseits: Das „mere passive"
der Reformation schließt die Aktivität des Menschen nicht aus
sondern ein, „passiv" und „aktiv" gilt hier nicht halb und halb
sondern jeweils ganz. Das Passive gilt, in existentialphilosophi-
schen Begriffen ausgedrückt, ontologisch, das Aktive ontisch.
Doch diese Begriffe fehlen eben, mit formal - material oder
aktual - habitual ausgedrückt, verschiebt 6ich der Sinn völlig.
Andererseits: Schon die Zusammenstellung der Philosophen
• •außerhalb des Christentums" ist recht merkwürdig: Kant,
Chamberlain, Nietzsche, Rosenberg! Kants Auffassung ist erheblich
verzeichnet. Das Sittengesetz sei nur „vom eigenen
menschlichen Verstand" aufgestellt — das ist zu sehr vereinfacht
. Kant wecke im Menschen „ein unbegrenztes Freiheitsund
Selbstgefühl, das nicht einmal eine Schranke am Schöpfergott
" finde — dieser Satz paßt für Nietzsches Übermenschen,
aber nicht für Kants Autonomiebegriff; und der „Schöpfergott"
ist für Gallati einfach eine objektive Gegebenheit, von da aus
's* aber kein Verständnis Kants möglich. — Statt Chamberlain
und Rosenberg hätten Kierkegaard, Husserl und Heidegger besprochen
werden müssen. Dann wäre man aufs Grundsätzliche
gestoßen. — Nebenbei: Kant zitiert man nicht nach der Leipziger
Ausgabe von 1875, Luther nicht nach der Jenaer Ausgabe!

Trotz aller dieser Beanstandungen ist das Buch recht instruktiv
: es ist eine sehr klare Darstellung der synergistischen tho-
mistischen Rechtfertigungslehre in ihrer heutigen Gestalt als
Normaldoktrin. Die Lektüre wird dem Studierenden evangelischer
Theologie daher von Nutzen sein. Für die kontroverstheologische
Auseinandersetzung kann das Buch eine gute Gesprächsgrundlage
bieten. Gallati behandelt ausführlich die Lehrstücke von der
justitia originalis, der Erbsünde und der aktuellen Sünde wie von
deren Folgen, das Verhältnis von Natur und Gnade im Erlösungsgeschehen
, die Christologie, die Rechtfertigung und Heiligung,
alles unter dem Gesichtspunkt des passiven und aktiven menschlichen
Anteils. Es ist höchst eindrucksvoll, an einem Thema sollen
Ranges in nuce die lehrmäßigen Auswirkungen der analogia
entis vorgeführt zu bekommen. Da ist nichts Personhaftes, alles
dreht sich um Ordnungen scinshafter Art; und da ist ganz un-
reflekticrt und ungebrochen die aristotelisch-thomistische Metaphysik
mit „offenbarter Kirchenlehre" identifiziert. Die kirchliche
Approbation sanktioniert die weltlichen Kategorien, und
zwar, darin erst liegt das Wesentliche, ein für allemal und bleibend
! So wird das zu seiner Zeit hochmoderne aristotelisch-
thomistische Denken zu einem belastenden Erbe: weil es nicht
interpretiert wird, wohl auch nicht werden darf! Da aber dem
heutigen, nicht scholastisch vorgebildeten Leser die alten Kategorien
nicht mehr verständlich sind, muß die Grandthese des Buchs
''••Das Menschengeschlecht erlöst sich selbst in seinem Haupte
Jesus Christus") einfach häretisch wirken, so sehr der Verfasser
s;ch auch dogmatisch abzuschirmen versucht. Diese häretische
Wirkung sollte aber zur Grundlagenbesinnung mahnen: was in
Frage steht, ist nicht so sehr der Synergismus, als die lehramtliche
Approbation bestimmter Denkkategorien, die Hypostasicrung
und Verabsolutierung einer bestimmten Weltanschauung, ist im
Grund die Selbstrechtfertigung, die man vollzieht, wenn man im
Stil der analogia entis allzu ungebrochen menschliches Denken
mit der lex aeterna harmonisiert.

Tübingen Ulrich Mann