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Ausgabe:

1959 Nr. 12

Spalte:

933-937

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Geiselmann, Josef Rupert

Titel/Untertitel:

Die lebendige Überlieferung als Norm des christlichen Glaubens 1959

Rezensent:

Leuba, Jean-Louis

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 12

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die Formeln von einer mythischen „vergegenständlichenden
Redeweise" allzu leicht machen sollte. Hier sollte man klar reden
. — Der Rezensent kann nicht verbergen, daß ihm schon lange
vor Kochs Buch die Lage im NT doch anders erschien. Joh. 6, 36
und 1. Kor. 15,50 und überhaupt die ganzen Auferstehungsansichten
des Paulus sind so stark, daß man die alleinige und
völlige Betonung des Fleisches als ntliche Ansicht schwerlich
behaupten kann. Auch in den Auferstehungsberichten selbst
bleibt es mir immer das Unerhörteste, daß hier die rein naiv gegebenen
Aussagen völlig antithetisch-paradox in die entgegengesetzte
Richtung weisen. Ist nicht die ganze Fragestellung, die
wir heranbringen, überhaupt den Texten völlig fremd! Paulus
wird trotz seiner Sondcrlinie gar nicht als fremdartig empfunden
! Man wird zunächst in jedem Fall beide Thesen, Betonung
und Vcrgleichgiltigung des Fleisches bei der Auferstehung, die
uns unvereinbar scheinen, als dennoch gleich stark betont erklären
müssen. Eine gewisse Auflösung des Paradoxes liegt
vielleicht darin, daß nvEv/in, u. a. im nrlichen Griechisch
etwa dasselbe sagen wollen wie heute „Wirklichkeit", „Existenz
", auch im Sprachgebrauch von Koch. Nach dem Wie dieser
Wirklichkeit fragt das NT nicht. Und vielleicht sollen wir
auch heute darnach gar nicht fragen? — Koch im übrigen will
gar nicht darauf aus, ntliche Theologie zu schreiben; er legt
nur Elemente für sein eigenes Denken zurecht. Er denkt aber
primär von der gegenwärtigen Osterwirklichkcit her, vom Heute
des Auferstandenen, und sagt von da aus über das Urostcrn nur,
daß dort genau dasselbe sei, und jedes Betasten eines Mehr
(Fleisch, Körperlichkeit) in Wahrheit ein Weniger sei, übrigens
auch in der Tendenz des NT selber. Eine Lösung des so gegebenen
Paradoxes bringt Koch nicht. Vielleicht dürfen wir derartiges
von einem weiteren Buch Kochs noch erwarten. Der
Rezensent möchte jedenfalls einen ganz bescheidenen ersten Anfang
hoffentlich kommender größerer Erwägungen der vorgelegten
Ergebnisse gemacht haben.

Kleinmachnowb. Berlin Wilhelm Koepp

Geisel mann, Josef Rupert: Die lebendige Oberlieferung als Norm
des christlichen Glaubens. Die apostolische Tradition in der Form der
kirchlichen Verkündigung — das Formalprinzip des Katholizismus
dargestellt im Geiste der Traditionslchrc von Joh. Ev. Kuhn. Frei-
burg/Br.: Herder 1959. XIV, 369 S. 8° = Die Überlieferung in der
neueren Theologie, hrsg. von J. R. Geiselmann, Bd. III.

Von dem auf drei Bände berechneten Gesamtwerk „Die
Überlieferung in der neueren (seil, katholischen) Theologie" liefert
uns Geisclmann hiermit zunächst den letzten Band, der sich
mit der Traditionsichre des Exegeten und Systematikers Johannes
Evangelist von Kuhn (1806—1887) befaßt. Ausschlaggebend für
diese zeitliche Vorwegnahme ist die Tatsache, daß mit der Theologie
Kuhns die Traditionslehre der katholischen Tübinger Schule
ihren Höhepunkt erreicht hat, von dem aus über die ganze vorausgegangene
Entwicklung erst recht geurtcilt werden kann. Daß
nach Ansicht des Verfassers dieser Höhepunkt zugleich eine entscheidende
Wende bedeutet, die in der katholischen Traditionstheologie
noch nicht genügend berücksichtigt sei, wird wohl der
Grund sein, warum das Buch pari pietatis affectu
Historie und Dogmatik treibt, 60 daß die sehr gewissenhafte geschichtliche
Darstellung (die sich auch auf unveröffentlichte Vorlesungen
Kuhns stützt, die z. T. am Schluß des Werkes in
dankenswerter Weise abgedruckt 6ind) zugleich auch einen unmittelbaren
dogmatischen Anspruch erhebt.

Das Werk besteht aus zwei Büchern. Im ersten Buche „Von den
Traditionen zur Tradition" geht der Verfasser den vier Entwicklungsphasen
nach, die Kuhn durchgemacht hat.

1. Durch seine Auseinandersetzung mit dem ersten Leben Jesu von
David Fricdridi Strauß wird Kuhn (1835—1 838) vor die Frage gestellt,
ob das von Strauß unwiderlegbar ans Licht gebrachte schöpferische Bilden
an der evangelischen Gcsdiichte ein mythengestaltendes Schaffen
bedeutet, oder ob es sidi dabei nicht vielmehr um eine lebendige Überlieferung
handelt, die gerade „im Dienste der Treue und Bewahrung
des Geschichtlichen" steht (S. 10). Nach Kuhn ist letzteres der Fall.
Nicht einen christlichen Mythos haben wir im apostolischen Kerygma,
sondern eine dogmatische Gcsdiichte. Dies erhellt aus der Art, wie das
Alte Testament im Dienste der Auslegung der sonst feststehenden Tatsachen
Jesu steht. Die Geschichte Jesu wird von der Überlieferung in
das Licht des Dogmas gehoben. „Das Dogma bildet sich also dadurch,
daß im apostolischen Kerygma die geschichtlichen Ereignisse des Lebens
Jesu als erfüllte Weissagungen aufgewiesen werden, um so ihren Heilswert
herauszustellen" (S. 39). Somit ist das apostolische Kerygma die
„schöpferische Auswertung der Geschichte Jesu" (S. 40). Dadurch kommt
Kuhn zu einem neuen Begriff der Überlieferung, zu demjenigen nämlich,
nach dem die Überlieferung darin besteht, daß durch „die menschlichen
Organe, die sich des Charismas des Heiligen Geistes erfreuen —
die Apostel und ihnen folgend das kirchliche Amt — die an Jesus
uns offenbar gewordenen Tatsachen des Heiles in immer neuen Formen"
(S. 42) dargestellt werden. Mit anderen Worten: die Evangelien und
die apostolischen Briefe decken sich inhaltlich völlig mit dem lebendig
verkündeten Wort der Apostel. Zu diesem Begriff der Überlieferung,
dessen er als junger Gießener Exeget innegeworden war, wird der Tübinger
Systematiker erst nach einem großen Umweg zurückkommen
(S. 7-47).

2. Von 1839 bis 1841 vertritt nämlich Kuhn dieselbe Traditionslchrc
wie Bellarmin. Neben der Heiligen Schrift gibt es eine sie ergänzende
und gleichwertig neben ihr stehende Glaubensquelle, die „mündliche
" Überlieferung. Zwar versucht Kuhn die Heilige Schrift und die
so verstandene Überlieferung dadurch in einer höheren Einheit aufzuheben
, daß er zwischen dem geoffenbarten Wort Gottes, das über der
Kirche steht, und den beiden Teilquellen — Schrift und mündliche Überlieferung
— der Offenbarung unterscheidet. Damit kommt er aber sachlich
über die Doppelheit nicht hinaus (S. 48—70).

3. In der „Einleitung in die Katholische Dogmatik" (1846) wird
die Überlieferung nicht mehr als Teilquelle verstanden, sondern „als
der in der kirchlichen Verkündigung fortfließende Strom des apostolischen
Wortes, der für uns zur Norm des Glaubens wird" (S. 75). Gegenüber
der so verstandenen Überlieferung hat die Heilige Schrift „die
Funktion, das in der lebendigen Überlieferung uns vermittelte Wort
Gottes dokumentarisch zu bestätigen" (S. 76). Wie diese Funktion aufzufassen
ist, bleibt aber noch unerörtert (S. 71—76).

4. Die in den Dogmatikvorlesungen 1856/57 in Aussicht genommene
Aufgabe wird in der großen „Abhandlung über die formalen Prinzipien
des Katholizismus und des Protestantismus" (Theol. Quartalschrift
1 858) sowie in der zweiten Auflage der „Einleitung in die katholische
Dogmatik" (1859) endlich in Angriff genommen. Die letzte,
nach Ansicht des Verfassers ausgeglichene Position Kuhns läßt sich
folgendermaßen zusammenfassen. Es gilt zunächst zwischen Quelle der
Wahrheit und Quelle des Glaubens zu unterscheiden. Was die Quelle
der Wahrheit betrifft, so anerkennt jetzt Kuhn die relative inhaltliche
Vollständigkeit und Suffizienz der Heiligen Schrift, relativ „weil bestimmte
Inhalte nur dem Prinzip nach, andeutungsweise und nicht ausdrücklich
, keimhaft und nicht entfaltet und entwickelt enthalten sind"
(S. 91). Aber diese Suffizienz bezieht sich nicht auf den Glauben, denn
sie hebt den Mangel der Perspektuität der Heiligen Schrift nicht auf.
„Nicht also der Mangel der inhaltlichen Vollständigkeit (seil, der Heiligen
Schrift), sondern der Mangel ihrer Durchsiditigkeit und ihrer leichten
Verständlichkeit ist es, von dem aus Kuhn die Frage der lebendigen
Überlieferung stellt und ihre Notwendigkeit nachweist" (S. 108).
„Die Schrift fordert daher ein objektives göttliches Auslcgungsprinzip,
ein Prinzip, welches mit der Quelle der in ihr niedergelegten Wahrheit
zusammenhängt und aus dieser Quelle geflossen ist" (S. 109). Dieses
lebendige Prinzip ist die lebendige Überlieferung der Kirche. Dabei
wird die Überlieferung im nachtridentinischen Sinne — also als zweite
Quelle der Offenbarung — im „höheren" Begriff der Überlieferung als
des objektiven Erkenntnisprinzips der Heiligen Schrift aufgehoben.
..Damit ist die schriftergänzende Funktion der lebendigen Überlieferung
anders zu verstehen, als sie die nachtridentinische Kontroverstheologie
gedeutet hat. Für sie hat die Tradition diese Funktion, insofern sie
Wahrheiten enthält, die in gar keiner Weise in der Schrift enthalten
sind. Nach Kuhn dagegen will damit gerade nicht gesagt sein, daß die
Tradition Wahrheiten enthalte, die in keiner Weise, auch nicht andeutend
und keimartig, audi nicht ihren Prämissen nach in der Schrift
niedergelegt sind. Die Tradition ergänzt vielmehr die Heilige Schrift in
folgender Weise: einmal dadurch, daß sie sich des Heiligen Geistes erfreut
, durch dessen Wirken sie das, was in der Heiligen Schrift nur angedeutet
ist, ausdrücklich ausspricht (...); zum anderen aber dadurch,
daß sie die wesentlichen Wahrheiten des Glaubens zu einem Ganzen
zusammenfaßt, wovon das Apostolische Glaubensbekenntnis das Modell
ist, eine Zusammenfassung, die wir in der Heiligen Schrift vergeblich
suchen" (S. 126). Das so verstandene Traditionsprinzip „schließt also
den Gebrauch der Schrift nicht aus, sondern fordert ihn" (S. 127). Denn
die Schrift ist, wenn nicht Quelle de6 Glaubens, so doch Quelle für den
Beweis des Glaubens, instrumentum doctrinae. Kuhn
kommt zum selben Ergebnis wie Newman: Die Überlieferung verkündet,
die Heilige Schrift beweist (S. 77-128).

Das erste Buch schließt mit dem Nachweis, daß dieses „neue" Verständnis
der Überlieferung dem Zeugnis der Schrift selber sowie der
altkirchlichcn Theologie entspricht (S. 129—145) und daß das Kuhnsche