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Ausgabe:

1959

Spalte:

67-69

Kategorie:

Kirchenfragen der Gegenwart

Autor/Hrsg.:

Oberndörfer, Dieter

Titel/Untertitel:

Von der Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft 1959

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 1

G8

ligmachenden Gnade" (II, 163). Mit Recht wird hier der Gegensatz
zu Luther und den Reformatoren hervorgehoben (II, 160 ff.).
Die Natur hat durch die Erbsünde nur eine „Verwundung", eine
„Schwächung" und „Verschlechterung", „keine selbständige Zerstörung
" erfahren (II, 172 f.). Von hier aus ergibt sich folgerichtig
eine Einschränkung der Wirksamkeit der Gnade. Trotz der
vielen diffizilen Unterschiede der Arten der Gnade verbleibt als
Resultat: „Einiges natürlich Gute zu tun 60wie jede einzelne
schwere Sünde und erst recht jede einzelne läßliche Sünde zu meiden
, ist dem Menschen auch im gefallenen Zustande ohne Hilfe
der Gnade möglich" (II, 444). Und es bleibt die Möglichkeit des
Verdienstes. „Das Dogma von der Verdienstlichkeit der guten
Handlung des Gerechten fordert, daß die wirksame Gnade den
Willen nicht zum Guten nötigt. Denn Verdienste können nur
durch freie Handlungen erworben werden" (11,481). Die Freiheit
des Willens wird durch die Gnade nicht aufgehoben, sondern
geheilt und vervollkommt (II, 493). „Der Glaube allein
rechtfertigt nicht" (II, 543). Aus der Darstellung der Gnadenlehre
ergibt sich zuletzt noch ein dritter Zug genuinen katholischen
Denkens: die Tendenz zur Verdinglichung. Die Gnade
wird eingeflößt. Sie erwirkt ako einen wirklichen neuen Habitus
im Menschen, woraus sich bei fortschreitender Erweiterung dieses
Habitus die Möglichkeit der Gestalt des Heiligen ergibt. Diese
Verdinglichung tritt naturgemäß bei der Darstellung der sakramentalen
Gnade am stärksten in die Erscheinung. „Christus hat
alle Sakramente eingesetzt" (III, 13); „durch Taufe, Firmung und
Priesterweihe empfängt die Seele eine übernatürliche Beschaffenheit
" (III, 28). „Die Sakramente verleihen die Gnade ex opere
operato" (III,.34), als „physische Werkzeuge Gottes". Der Höhepunkt
dieser Verdinglichung vollzieht sich zweifellos in der
Eucharistie. „In der heiligen Eucharistie i6t der Leib und das Blut
Jesu Christi wahrhaft, wirklich und wesentlich enthalten" (HI,
171). Das Meßopfer ist ein „wahres eigentliches Opfer" (III, 199).

So erhält auch der protestantische Leser dieser Dogmatik
ein klares und anschauliches Bild von der Eigenart der katholischen
Gläubigkeit. Er wird mit besonderem Interesse die Auseinandersetzungen
des Verf.s mit den lutherischen „Häretikern"
verfolgen und sehr bedauern, daß diese kritischen Sätze, die sich
durch das ganze Werk hindurchziehen, 6ich auf leider recht kurze
apologetische Bemerkungen beschränken, die dem eigentlichen
Anliegen des Gegnere nicht immer gerecht werden.

Kiol Werner Schultz

GEGENWARTSPROBLEM]^

Oberndörfer, Dieter: Von der Einsamkeit des Menschen in der
modernen amerikanischen Gesellschaft. Freiburg/Br.: Ronibach [1958].
195 S. gr. 8° = Freiburger Studien zu Politik und Soziologie, hrsg.
v. A. Bergsträsser u. H. Popitz. Lw. DM 14.80.

Das Buch enthält viel mehr als sein allzu attraktiv gewählter
Titel erwarten läßt. Es bringt eine packende Analyse des gesellschaftlichen
Lebens im industriellen Zeitalter speziell in Nordamerika
, das als Vorposten und darum als Modell gilt. Die
Herausgeber der Schriftenreihe — Arnold Bergsträsser und Heinrich
Popitz — bemerken im Vorwort ausdrücklich, daß das Interesse
der Arbeit nicht allein dem spezifisch amerikanischen Fall
gelte, sondern der modernen technologischen Gesellschaft. „Die
national-kulturellen Verschiedenheiten heben jeweils besondere
Aspekte hervor, ohne sie im Grundlegenden zu variieren." Weil
dem tatsächlich so ist, fühlt sich der europäische Leser in starkem
Maß mitbetroffen und fragt fortgesetzt, ob die Entwicklung um
ihn her nach dem amerikanischen Modell verläuft. Soweit die
soziologische Erkenntnis de6 Industriezeitalters und des Massenmenschentums
schon allgemeines Wisssensgut des Gebildeten geworden
ist, gehen wir hier nicht näher auf 6ie ein. Besondere
Hervorhebung finde, was heute noch spezifisch amerikanisch sein
wird, aber uns bedroht.

Es wird von Oberndorfer generell als Konformismus bezeichnet
. Der Theologe wird den Begriff aus der angelsächsischen
Kirchengeschichte ohne weiteres zu deuten wissen. Nonkonfor-

misten sind die Dissenters, die Sekten und Splitterkirchen, welche
weithin die Geistigkeit des alten Amerika geformt haben. Non-
konformisten betonten ihr Eigendasein und die Unterschiede und
kapselten sich ab. Konformismus im Sinne des Verf.s ist die Einebnung
der Unterschiede auf der ganzen Linie, im religiösen, moralischen
, geistigen, gesellschaftlichen Bereich. Ortegas Satz gilt
hier: „Anderssein ist unanständig. Man muß sein wie alle." Darum
ist Anpassung die entscheidende Forderung. Unter „Persönlichkeit
" wird der Menschentyp der gewandten blitzschnellen
Anpassungsfähigkeit verstanden. Das mehr unbewußte als bewußte
Leitbild des neuen Menschentyps wird der Verkäufer des
großstädtischen Warenhauses, der aufgrund seiner bewundernswerten
Anpassungsfähigkeit in der Lage ist, jeden Kunden individuell
zu bedienen. Schule und öffentliches Leben formen zielbewußt
den konformistischen Menschen; im Zusammenhang damit
ist von Anpassungssoziologen, statistischer Mehrheitsnorm, Lebenstechnik
, Seeleningenieuren die Rede. Unter 25 Regeln, die
Kinney zur Frage nach dem Werden der „Persönlichkeit" aufgestellt
hat, heißt es: „Forme deine äußere Erscheinung nach dem
Modell, das von deinen Altersgenossen anerkannt wird."

Oberndörfer glaubt zu sehen, daß unter der Herrschaft des
Konformismus das Leben in einer wüsten Irrealität versinkt. Da
ein flacher nivellierender Optimismus die Voraussetzung des
Konformismus sei, werde man unfähig zur Tragik. Der Wunsch
jung zu bleiben sei „nahezu krankhaft" und mache aus den
Menschen Besessene. Auf den Balsamierungs- und Bestattungskult
, den schon Evelyn Waugh in „Tod in Hollywood" dem Gelächter
der Welt preisgegeben hat, wird ebenso eingegangen wie
auf die ins Pathologische entartete Sexualität. Das Kapitel „Liebe
und Sexualität" ist wohl da6 erschütterndste und anklagendste
des Buches. Wir notieren, daß die konformistische Moral zwänge,
alle sexuellen Erlebnisse der Gruppe, mit der man besonders
eng verbunden sei, zu erzählen. „Das ,Alles-erzählen-Müssen' und
das ,AlIes-erzählen-Wollen' halten wir für eine typische Erscheinung
des Konformismus. Das Schweigegebot des Kavaliers in
der 6tändisch geprägten Gesellschaft oder des Gentleman in der
angelsächsisch-amerikanischen Tradition geht im Konformismus
an die Gruppe verloren." Die unzähligen Heiratskurse und Ehevorlesungen
6tehen „im Zeichen eines erbitterten Kampfes gegen
den Puritanismus". Der Verlust der Liebe, die an die Sexualität
verraten sei, 6ei nur e i n Symptom des Irrealismus, in dem
Nordamerika zu versinken drohe.

Dankenswert ist der Versuch, die geistige Selbstbesinnung
der Amerikaner wenigstens skizzenhaft darzustellen. Sie 6etzt
mit John Dewey ein, der als Pragmatist die Bedeutung der Anpassungsstruktur
erkannte, aber den gewünschten Menschen noch
ganz am Ideal der Person, das heißt des Nonkonformisten maß.
Die Selbstkritik in der schönen Literatur wird vor allem aus den
Romanen von Faulkner, Hemingway und Thomas Wolfe aufgewiesen
. Den Schluß bildet ein leider reichlich kurzes, aber gewichtiges
Kapitel über „Theologische Anthropologie", in dem
wir R. Niebuhr und P. Tillich begegnen, von deren Büchern und
Reden eine erstaunliche Breitenwirkung ausgehe. Dies Schlußkapitel
konnte deshalb kurz 6ein, weil durch das ganze Buch eine
religiöse Diskussion von beachtlicher Höhe hindurchgeht, wofür
die Theologen dem Soziologen den Dank nicht schuldig
bleiben sollten. Wir heben Zweierlei noch besonders hervor:
einmal das ungünstige Urteil über den amerikanischen Katholizismus
; er 6ei eng und dogmatisch unoriginell im Gegensatz zu
dem „geistig regen und aufgeschlossenen europäischen Katholizismus
". Sodann das günstige Urteil über bewahrten kirchlichen
Nonkonformismus. „Gerade die eiserne Energie, mit der Minderheiten
... um ihre Selbstbehauptung im amerikanischen Schmelztiegel
gekämpft haben, verdient . .. höchste Bewunderung. Die
theologische Abkapselung dieser Kirchen wird vielfach aufgewogen
durch ihre einzigartige Liebes- und Missionstätigkeit in aller
Welt." Allerdings wird daneben kritisch gesagt: „Der gute
Lutheraner oder Calvinist, der sich Sonntag für Sonntag eine
mit der Lehre von der Erbsünde durchtränkte Predigt anhört,
tritt nach dem Gottesdienst doch wieder hinaus in eine Welt
strahlenden, unerbittlichen und unerschütterlichen Optimismus,
deren Atmosphäre er 6ich nie entziehen kann, sondern in den
meisten Fällen verfällt."