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Ausgabe:

1959 Nr. 1

Spalte:

64-65

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Augustiny, Waldemar

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer und du 1959

Rezensent:

Grabs, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 1

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nese will keinen Stammbaum der Arten aufstellen (156). Audi
K. E. von Baer, der Begründer der Embryologie, hat die Entwicklungslehre
abgelehnt (160). — Erst M. Schleiden suchte den
Organismus aus seiner Entwicklungsgeschichte zu erklären (163).
Und dann kam Darwin mit seiner Entstehung der Arten (167).
Für seinen Schüler E. Haeckel wird Entwicklung das Zauberwort,
das alle Welträtsel auflöst (169). Dieser Monismus Haedcels
ist Hylozoismus. Haeckels Ablehnung aller Teleologie entspricht
aber nicht Darwins Ansicht. Dieser hat zwar die psychologische
Teleologie eines Lamarck verworfen, aber alle seine Begriffe
, die Anpassung, die Selektion usw., fragen nach dem Nutzen
, setzen also den Zweck voraus (170/73). — Der Darwinismus
glaubte, daß die Phylogenie alle anderen biologischen Fragen
überflüssig mache. Damit entsprach er dem Historismus des
19. Jhdt.s. Die historische Beschreibung sollte zugleich die Erklärung
der Phänomene leisten (175/79). Allein das war ein Irrtum
. Die erste große Schwierigkeit entstand dem Darwinismus in
der Erblichkeitslehre (Mendel) (184). Weiter wurde Haeckels biogenetisches
Grundgesetz zweifelhaft (186). Roux untersuchte den
Begriff der biologischen Kausalität und schied die Fragen nach
dem Warum? von den nach dem bloßen Daß. Keine Erkenntnis
historischer Art kann einen kausalen Zusammenhang beweisen
(187). Nach Hartwig kann der Organismus, kann die Zelle niemals
kausal erklärt werden (188/89). Es gibt keine chemischphysikalische
Definition des Lebens, denn das Leben ist ein Geschehen
, das Lebewesen ist der gestaltlichen Selbstregulation
fähig (198). Driesch ging noch weiter. Er wollte auch die Entwicklungsmechanik
überwinden (200). Er erneuerte den aristotelischen
Begriff der Entelechie, worunter er eine formbildende Kraft
des Organismus, die keine physikalisch-chemische Kraft ist, versteht
(202). Üexküll gebraucht stattdessen den Begriff der Form.
Jedes Lebewesen folgt einem Bauplan, hat eine eigene Merk- und
Wirkwelt, einen Funktionslcreis (206/07). Der Bauplan schafft
die Umwelt des Tieres. Jede6 Tier hat eine eigene Umwelt. Statt
von Zweckmäßigkeit redet Üexküll lieber von Planmäßigkeit
(208). - Was ist das Ergebnis des Streites zwischen dem Mechanismus
und dem Vitalismus? Das Problem des Lebens ist mechanisch
nicht zu lösen (215). Das Höhere läßt sich nicht aus dem
Niederen ableiten (218). Aber an die Stelle des notwendig etwas
anthropomorphen Zweckbegriffs wird von den Biologen immer
mehr der Begriff der Ordnung und des Systems gesetzt. Das Wesen
des Lebens ist durch solche Begriffe in keiner Weise enträtselt
(221/22).

3. Im dritten Teil geht C. auf das Problem der historischen
Erkenntnis ein. Er stellt fest, daß seit Herder, Hegel und der Romantik
eine völlig neue Betrachtung der Geschichte entstanden
ist (226/32). Die Romantik schuf die moderne historische Kritik
(234). Niebuhr erfaßte zuerst das Wesen de6 Mythe* und schied
ihn klar von der historischen Realität. Sein Schüler war Ranke
(236/37). Dieser suchte allein die objektive historische Wahrheit.
Er lehnte jede parteiliche Geschichtsbetrachtung (etwa im Sinne
Treitschkes) ab. Seine Geschichtsschreibung ist universal. Und
zwar sah er in der Geschichte geistige Kräfte und Gedanken
walten. Der Gegenstand der Geschichte ist ihm weder bloße Tatsache
noch allgemeiner Begriff, sondern Idee. Diese Ideen sind
göttlichen Ursprungs. Der Fortgang der Weltgeschichte aber ist
ein göttliches Geheimnis (238/49). — In dieser Geschichtsbetrachtung
, die an W. v. Humboldt erinnert, drohte nach C.s Meinung
die Wirklichkeit sich dualistisch in eine Welt de6 Sinnlichen und
des Intelligiblen zu spalten. Dagegen wandte 6ich der Positivismus
(245/250). Bei Comte verzichtet die Philosophie auf alle
Transzendenz und sucht die Gesetzlichkeit in Soziologie und Geschichte
. Taine will nichts als Tatsachen! Er arbeitet mit Begriffen
wie Race, Milieu, Moment. Die Geschichte wird bei ihm nicht nur
zur Anthropologie, sondern geradezu zur Anatomie. Aber seine
Begriffe sind Konstruktionen, und sein Begriff der historischen
Tatsache ist besonders problematisch (251/60). — In Deutschland
fand dieser Positivismus keinen günstigen Boden. Droysen z. B.
lehnte ihn ab und bildete stattdessen die Methode des „Verste-
hens" aus. Er wollte die Geschichte als einen Kosmos geistigsittlicher
Kräfte lebendig machen (262/64). — Mommsen erforschte
vor allem Staat und Recht. Er wollte nicht objektiv im Sinne
Rankes 6ein, sondern die Persönlichkeit betonen (265/68). -

Zwischen den Vertretern der politischen Geschichtsschreibung
(D. Schäfer) und der Kulturgeschichte entbrannte im 19. Jhdt.
ein heftiger Streit (271). Erst Burckhardt fand neue Wege für die
Kulturgeschichte. Auch er kennt noch eine göttliche Leitung der
Geschichte, aber er ist Pessimist im Sinne Schopenhauers, er
sieht in der Macht, besonders in der kollektiven, etwas Böses,
und der Gedanke eines höheren Weltplans ist ihm nur ein schwacher
Trost (275/79). K. Lamprecht gründete die Geschichte auf
die Psychologie, ohne dabei die wirtschaftlichen Fragen zu vergessen
. Er 6ah in der Geschichte eine Reihe von Zeitalterfolgen,
seelischer, naturgesetzlich bestimmter Zuständigkeiten. Aber 6ein
Begriff des Kulturzeitalters ist nur ein Postulat (285/296). — Zuletzt
geht C. auf die neue Religionsgeschichte ein. Der Begriff des
Mythos wird besonders seit Sendling akut. D. Fr. Strauß und
Renan wenden ihn auf das Christentum an (298/306). Fustel de
Coulanges erfaßt die Bedeutung der Religion, des Glaubens für
Gesellschafts- und Staatsbildung der alten Zeit. Er erkennt die
Priorität des Ritus und Kultus vor dem Mythos (312/16). — Und
so tritt im 19. Jahrhundert an die Stelle der Metaphysik der
Historismus, der das Sein nicht mehr im Absoluten, sondern im
menschlichen Geist und in der Totalität des Menschentums sucht
(327/28).

Mit dieser Feststellung beschließt C. seine 6ehr gründlichen,
interessanten und aufschlußreichen Analysen des Erkenntnisproblems
im 19./20. Jahrhundert. Und da6 systematische Ergebnis
für Philosophie und Theologie? Wir müssen gestehen, das Ergebnis
ist etwas mager! So viele bedeutende Forscher, ein so gewaltiges
geistiges Ringen mit den tiefsten Fragen, und das Resultat
weithin ein negatives, ein Nonliquet! Wäre das Bild nicht anders
ausgefallen, wenn sich C. nicht auf die Einzelwissenschaften beschränkt
, sondern auch die eigentliche Philosophie mehr herangezogen
hätte? Haben uns Lotze, Windelband, Rickert, Dilthey,
Bergson, Scheler, N. Hartmann usw. nicht in bezug auf das Erkenntnisproblem
noch mehr zu sagen? Was haben uns die
Spezialwissenschaften denn schließlich gebracht? Die Geometrie
weiß nichts über die Natur des Raumes (35.40). Sie ist reine
Beziehungslehre, kennt nur Ordnungsbestimmungen (42). Ihre
Axiome 6ind nur freie Setzungen, Schemata des Denkens. Keine
Geometrie kann ontologische Fragen entscheiden (52/53). Auch
die Physik schaltet das ontologische Problem aus. Die Substanz
löst sich in ein System von Relationen und funktionellen Verknüpfungen
auf (107). Jedes Bild vom Atom ist eo ipso falsch
(124). Die Entwicklungslehre ist voll ungelöster Probleme (184/
86). Die Mechanik beschreibt, aber sie erklärt nichts (191). Der
Vitalismus führt nur zur Feststellung einer Planmäßigkeit (208),
zu Begriffen wie Ganzheit, Ordnung, System (219/21). Die
Objektivität des Geschichtsforschers ist sowohl in der idealistischen
wie in der positivistischen Geschichtsbetrachtung eine sehr
zweifelhafte (244/58). Ein göttlicher Plan in der Geschichte ist
ebenso problematisch wie die Postulierung von Zeitaltern (279.
291). Immer wieder Negationen und ein Ignoramus! Mit solchen
Ergebnissen und Erkenntnismethoden mögen Mathematik und
Physik, vielleicht auch noch Biologie und Psychologie zufrieden
sein und forschen können, — für den philosophischen Geist, der
nach Tieferem verlangt, sind sie besten Falles Warnungstafeln
vor unkritischer Spekulation. So legt der Leser, der mehr erwartete
, das schöne Werk C.s mit einer gewissen Enttäuschung und
Ratlosigkeit beiseite, zwar sehr gründlich belehrt und daher dem
verstorbenen Verfasser von Herzen dankbar, aber nicht wahrhaft
philosophisch „erbaut". —

Derben/Elbe Erik S c h m i d t

Augustin y, Waldemar: Albert Schweitzer und Du. Berlin: Union
Verlag 1957. (Lizenzausgabe des Luther - Verlags, Witten/Ruhr).
307 S. kl. 8°. Lw. DM 7.50.

In der Fülle der Literatur über Albert Schweitzer hat dieses
Buch die besondere Absicht, die in der Titelsetzung angegeben
ist. Es ist kein wissenschaftliches Buch und keine umfassende Biographie
, sondern eine Konfrontierung des Lesers mit seiner inneren
Existenz. Sie kommt zustande durch die geistige Begegnung
mit dem Weisen von Lambarene. Die erschütterndste Stelle des
Buches ist wohl die von der Schwester eines Bekannten des Ver-