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Ausgabe:

1959 Nr. 1

Spalte:

61-64

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Cassirer, Ernst

Titel/Untertitel:

Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit ; 4.Von Hegels Tod bis zur Gegenwart 1959

Rezensent:

Schmidt, Erik

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61 Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 1

Landesverein bald in eine Krise, so daß es im Bericht des Centraiausschusses
der L M. 1864 heißt, der badische Landesverein
scheine nur noch dem Namen nach zu existieren. Da kommt zur
rechten Zeit ein neuer Impuls durch den Reiseprediger des C. A-,
Hesekiel (den späteren Posencr Gcneralsuperintendenten) — aur
seine Initiative geht die „Südwestdeutschc Konferenz" der
Freunde der I. M. (1865) zurück, von der die Arbeit der I. M- m
ihrer ganzen Weite und Breite aktiviert wird — Träger der Arbeit
ist seit 1869/70 der badische Landesausschuß der Südwestdeutschen
Konferenz für I. M., seit 1888 Landesverein für I. M-
genannt. Er hat auch die Krisen zweier Weltkriege und die
Säkularisierungsbestrebungen des Dritten Reiches überstanden.
Der Überblick über die verschiedenen Zweige der Arbeit
(Rettungshausbewegung — wir würden heute sagen: Gefährdeten-
fürsorge, Kleinkinderpflege, Krankenpflege) bringt interessante
Einzelheiten aus der Geschichte der Anstalten, besonders auch der
Diakonissenmutterhäuser — bedeutsame Namen erscheinen, wie
Mutter Jolberg, die erste Oberin des Mutterhauses für Kleinkinderpflege
in Nonnenweier, oder Karl Mez, der Initiator des
Freiburger Stifts, das Waisenhaus, Kinderschule, Mädchenheim,
Hospiz, Altersheim u. a. in sich vereinte, bis es im letzten Kriege
ein Opfer der Bomben wurde. Abschnitt IV schildert die Entwicklung
nach dem ersten Weltkrieg, die engere Verbindung mit
dem Centrai-Ausschuß in Berlin und den organisatorischen Umbau
des Landesvereins zum Landesverband für I. M., in dem der
bisherige Landesverein die Führung behielt — nach anfänglichen
Schwierigkeiten (allzugroßes Übergewicht des Landesvereins über
die andern Mitglieder des Verbandes) brachte dann die Gründung
des Gesamtverbandes der I. M. in Baden 1929 die gesunde Lösung
der Sammlung aller diakonischen Kräfte und Werke unter
tätiger Anteilnahme der Landeskirche. Dieser Gesamtverband hat
sich auch in der Bedrängnis des Dritten Reiches bewährt und im
zweiten Weltkrieg seine Feuerprobe bestanden (Abschnitt V) —
erschütternd zu lesen, wie schon zu Kriegsbeginn die Anstalten
und Heime für Kriegszwecke beschlagnahmt werden, und wie dann
der Bombenkrieg ein Haus nach dem andern niederlegt. Erstaunlich
die Aufbauarbeit, die das Jahrzehnt nach Kriegsende füllt!
Heute ist der Gesamtverband der I. M. in Baden die Zentrale für
die gesamte Arbeit von I. M. und Hilfswerk innerhalb der evgl-
Kirche Badens. Statistische Angaben und ein Schaubild über die
organisatorische Gliederung des Gesamtverbandes ergänzen die
Darstellung. Sie gibt einen soliden Einblick in ein wichtiges Kapitel
Kirchengeschichte — wenn man auch manchmal eine stärkere
Herausarbeitung der grundsätzlichen Fragen gegenüber der sauberen
Aufzählung aller Einzelheiten und Kleinigkeiten gewünscht
hart»

62

te.

Kaiserswerth

Robert Frick

PHILOSOPHIE UND RELfGJONSPHJLOSOPHJE
—---

C a s s i r e r, Ernst f! Das Erkenntnisproblcm in der Philosophie oni
Wissenschaft der neueren Zeit. Von Hegete Tod bis zur Gegenwart
(1832-1932). Stuttgart: Kohlhammer [1957]. 331 S. gr. 8°. DM29.--
Dieser 4. Band des großen Werkes Cassirers über das Erkenntnisproblem
in der Neuzeit, (Band 1—3 6ind 1906—1920 erschienen
), stellt 6ich eine von den drei ersten Bänden abweichende
Aufgabe. Er bringt nicht die spezielle Erkenntnistheorie nach
ihren bedeutendsten Werken zur Darstellung, sondern will zeigen
, wie die Entwicklung der Wissenschaften auf das Problem
der Erkenntnis eingewirkt hat (25). Man mag diese Beschränkung
des Themas bedauern, wird aber zugeben müssen, daß C. keinen
anderen Weg einschlagen konnte, wenn dieser 4. Band nicht noch
einmal zu vier Bänden anwachsen sollte!

In der Einleitung weist C. auf Helmholtz hin, der zuerst den
Ruf ,Zurück zu Kant!" erhob (11) und die Erkenntnistheorie in
neuer Weise mit der Physiologie und Psychologie verband. Ferne
'' auf E. Zeller, den Vater des Psychologismus (12). Die Erkenntnistheorie
gewinnt in der 2. Hälfte des 19. Jhdt.s eine beherrschende
Stellung in der Philosophie, wird aber darum nicht
tiefer. Denn die Philosophie empfängt jetzt ihre Probleme von
den SpezialWissenschaften, statt diese zu befruchten (18). Durch

die Spezialisierung der Wissenschaften aber verliert das Erkenntnisproblem
seine sichere Basis (24). — In den drei Teilen seines
Werkes behandelt C.

1. die exakte Wissenschaft, d.h. Mathematik und Physik.
Hier war zunächst entscheidend wichtig die Entdeckung der Nicht-
Euklidischen Geometrie durch Gauss, Riemann u. a., wodurch die
Wahrheit der Mathematik problematisch wurde (29/30). Dies rief
eine heftige Reaktion der Philosophie hervor, welche die onto-
logische Wertung des Raumes nicht aufgeben wollte, (Lotze!)
(33/35). Die Erkenntnis, daß die Mathematik über die Natur der
Wirklichkeit nichts aussagen kann, daß sie es nur mit der logischen
Struktur, der reinen Form des Raumes zu tun hat, daß die
verschiedenen Geometrien alle gleich wahr und notwendig sind
und zwischen ihnen nur ein Verhältnis der Über- und Unterordnung
stattfindet, daß die Geometrie also eine reine Beziehungslehre
ist und von einer substanziellen Einheit de6 Raumes nichts
weiß, (39/43) — diese Erkenntnis fiel der Philosophie schwer. —
Die neue Geometrie schien aber nicht nur das Raumproblem, sondern
auch die Apriorität der Mathematik zu erschüttern. Pasch,
Comte und Helmholtz versuchen sie daher auf verschiedene Weise
empirisch und durch die Erfahrung zu begründen, wogegen Poin-
care die Axiome der Mathematik als reine Schemata des Denkens
verteidigt (46/54). — Auch der ZahlbegrifT wird problematisch
. Ist er empirisch, wie J. St. Mill meinte, oder apriorisch, wie
frege, Husserl, Helmholtz behaupteten, zu begründen? (62/65).
Hat Cantor Recht, der eine immanente und eine transiente Realität
der Zahlen vertrat, oder Poincare, der die Zahl weder empirisch
noch logisch begründen wollte, aber den rationalen und
konstruktiven Charakter der Mathematik betonte? (80/86). —

Seit Helmholtz und Hertz erfährt auch die Naturwissenschaft
eine kritische Selbstbesinnung, indem die Atomphysik sie
vor völlig neue Probleme stellt und der bisherige Realismus in
der Physik zerstört wird (89/91). Die bis dahin herrschende
kausal-mechanische Erklärung wird durch die phänomenologische
ahgclöst (92/102). (Kirchhof, Mach, R. Mayer.) Seit dem Auftreten
Ostwalds entbrennt der Streit zwischen dem Mechanismus
Und der Energetik (103/04). Das Ergebnis ist die Ausschaltung
fller ontologischen Bestandteile auch aus der Physik. Das Objekt
derselben wird in ein System von Relationen und funktionalen
Verknüpfungen aufgelöst (107). Die Objektivität der physikalischen
Begriffs-Bilder wird damit zu einem schweren Problem.
Sind die Begriffe der Physik Vorbilder für mögliche Erfahrungen
(Hertz) oder Abbilder wirklicher Erfahrungen (Mach)? (110/13).
poincare vertrat die Freiheit und Eigenlogik der physikalischen
Begriffsbildung (117/118). Auch Duhem betonte die Unabhängigkeit
der physikalischen Begriffe von der Wahrnehmung, ihren
strengen Symbolcharakter, wobei freilich die Ordnung der Symbole
der Ordnung der Phänomene entsprechen muß (119/21).

2. Im zweiten Teil behandelt C. das Erkenntnisproblem in
der Biologie (127). Linne hatte die Pflanzenwelt in ein System
gebracht. Es fragte sich aber, wie weit dies System nur künstlich
War? Cuvier verlegte den Schwerpunkt der biologischen Forschung
ln die Morphologie (136). Die Frage nach dem Wesen und dem
Ursprung des Lebens will er nicht entscheiden, sondern nur die
Segebenen Lebensformen analysieren und systematisieren. Dabei
verwendet Cuvier den Begriff des Typus und die vergleichende
Anatomie (137). Alles Sein ist gegliedert, es gilt daher, die
Haupt- und Grundtypen der Lebewesen zu erkennen (138). Der
Typus i6t ein Seinsbegriff, die biologischen Gesetze sind nicht
solche des Werdens, sondern der Koexistenz. Cuvier vertritt dem
gemäß die Konstanz der Arten (140/41). De Candoll übertrug
Guviers Methode auf die Pflanzenwelt und fragte nach der objektiven
Gültigkeit des Artbegriffs. Sein Leitfaden war der Begriff
des Systemplanes (143/44). — Offenbar lag in diesen Methoden
eine Einseitigkeit, es fehlte der Entwicklungsgedanke. Bevor aber
C auf diesen eingeht, befaßt er sich ausführlich mit Goethes
Metamorphosenlehre (145). Goethe suchte das Beständige im
Werden, sein Grundbegriff war der der Gestalt, 6ein Erkenntnisideal
war die empirische Intuition, er wollte verstehend in das
Leben eindringen, — und gewann so die Idee der Urpflanze
(' 46/51). Mit alledem vertrat Goethe noch keine Entwicklungslehre
, vielmehr lehnte er jeden „Historismus" in der Biologie ab.
Seine Metamorphose ist keine Deszendenztheorie und seine Ge-