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Ausgabe:

1959 Nr. 11

Spalte:

809-814

Autor/Hrsg.:

Koepp, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Der junge J. G. Hamann 1959

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809

Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 11

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Welche Folgerungen ergeben sich aus diesen Überlegungen
für eine evangelische Dogmengeschichtsschreibung? Zunächst ist
eine Klärung ihres kirchlich-theologischen Charakters, bei der die
historische Fragestellung dieser Disziplin zu ihrem Recht kommt,
unerläßlich. Vor dieser Aufgabe steht sie in der gleichen Weise
wie die wissenschaftliche Arbeit am Alten und Neuen Testament.
Aber die Dogmengeschichte muß sich auch sachlich neu auf ihren
biblischen Ausgangspunkt besinnen, und sie gerät damit notwendig
in die Problematik der hermeneutischen Diskussion. Nicht nur
die Frage nach dem rechten Verhältnis von Schrift und Tradition,
sondern auch die Versuche, dem Dogma der Kirche die hermeneutischen
Prinzipien für das rechte Schriftverständnis (Diem) zu
entnehmen, sind für den Dogmengeschichtler von großer Bedeutung
. Er hat — auch wenn er es wollte — seine Aufgabe gar nicht
mehr als ein Spezialgebiet für sich, das er rein historisch behandeln
kann. Sie ist damit sehr viel komplizierter geworden. Aber
in dieser Schwierigkeit kann zugleich auch eine Verheißung liegen
. Die Dogmengeschichte ist auf die ihr eigene Weise eine Besinnung
auf die eine Mitte aller Theologie, von der alle theologischen
Disziplinen ihre jeweilige Ausrichtung haben. Diese
Mitte ist das Selbstzeugnis des dreieinigen Gottes. Diese Besinnung
ist nicht nur von historischem Interesse, denn auch sie gilt
letztlich dem Dienst der Kirche heute. Deshalb darf von ihr nicht
eine Rechtfertigung des gewordenen konfessionellen Kirchentums
gefordert werden. Sie wird vielmehr — von der Mitte aller Theologie
her, im Blick auf die Vergangenheit und Gegenwart — zur
I kirchlich-konfessionellen Selbstkritik anleiten, damit die Kirche
Werde, was 6ie von Gott her ist und sein 6oll: Schöpfung und
Werkzeug des dreieinigen Gottes.

Der junge J.G. Hamann

Von Wilhelm K o e p p, Kleinmachnow bei Berlin

Die Jugend Hamanns, 1730-1760, umfragt dreierlei: die
Gesamthaltung vor 1757, die Londoner Erleuchtung und ihre
Zeugnisse 175g, die Ansätze der öffentlichen Autorschaft und
des endgültigen Gesichts. Die umfassende Quellenerschließung
durch die verdienstvolle, aber auch umstrittene Hamannausgabc
Nadlers, seit 1949, hat gerade für diese Zeit neue Forschungen
angeregt. Wichtige Beiträge versuchten neuestens
Accolti Gil Vitale1, Karlfried Gründer, Elfriede
Büchsei3.

Abkürzungen: Na = Nadler, Hamanns Werke I—VI; Be = Kommentar
bei Bertelsmann; ZH = Ziesemcr und Henkel, Hamanns Briefwechsel
, Bd. 1—3; Acc = Accolti; Gr = Gründer; Bü = Büchsei;
Ha = Hamann.

Bei Accolti wird Ha primär kulturgeschichtlich gesehen, mit
existcnzialistisdicm Einschlag. Nach einem sehr umsdiauenden Bericht
über die Dcutungsgcschidite, zumal auch die italienische, behandelt Acc
in drei Kapiteln die lahrc des gärenden Wachsens, die Londoner ,,Wiedergeburt
", den Jugendabschluß. Alles Religiöse wird wohl beachtet. Das
Entscheidende ist gegenüber der Aufklärung die neue Wirklichkeit, das
Vitale einer neuen geistigen Atmosphäre (XI) mit ihrer schillernden
Vielseitigkeit und ihren weiten verborgenen Auswirkungen. Sorgfältig
analysiert werden aus dem Londoner Schrifttum die Erkenntnisweise
aus der Bibel. Analogie und neue Logik, deren Rolle in der Geschichte,
die Wertung der Natur als Symbol und Sprache, der Symbolismus der
Welt (110f.), endlich die theologischen Zentren der Herablassung Gottes,
des Glaubens gegenüber Vernunft- und Sinnenerkenntnis, des Christo-
zentrismus. Mit dem Titel des letzten Kapitels gipfelt das sorgfältige
Werk bedeutungsvoll in der Idee der Ha'schen „Sokratesmythe", die Ha
radikal antiaufklärcrisch gegen Bcrcns, Kant und z. T. auch Hume mit
einem neuen ironischen Stil versucht.

Gründers philosophiegcschichtliche Betrachtung will „Ansätze
Ha's" geschichtsphilosophisch „in Horizonte stellen". „Dabei
bleibt eine gewisse Unausgeglichenheit" zu historischer Einzelschau
„unvermeidbar". Gr. sieht den Ha der Londoner Zeit sehr stark als
Theologen; lange theologische Einschläge bringen auch ältere Sekundärliteratur
, zumal thcologicgeschichtlich über die Kondeszendenzidee
(S. 28-74), über die Typologie aus der Exegesegeschichtc (117-131);
Gr. selbst nennt sie „unverhohlen sekundär oder tertiär" (118). Im
eigentlichen Gedankengang treten die ontologischen Strukturen der
Geschidnlichkcit und der Geschichte einerseits, andererseits die Frage
nach der Sprache heraus; das erbringt das Thema „Figur und Geschichte".
Die „Herablassung" sei klare Geschichtstheologie; diese müsse aber
geschichtsphilosophisch „den Entwurf einer philosophiegeschichtlichen
Gesamtinterpretation Ha's" andeuten (19). Theologische Kondeszendenz
und Logos werden ontologisch: Geschichte und Sprache. Sprache ist Bild-
'ede. Hindeutung, Tvpos, ist also typologisch auszulegen. Gott spridit
mjet Schöpfung schaffend seinen Willen zu seinen Engclmächtcn in der

v ') Accolti Gil Vitale, Nicola: La Giovinezza di Hamann.

Varese; Ed. Magcnta [l«57]. LXIV. 171 S. 8° = Saeei e Ricerche 3.
L '•500.— "

„ ^Gründer, Knrlfricd: Figur und Geschichte. Johann Georg
amanns „Biblische Betrachtungen" als Ansatz einer Geschichtsphilo-
sopnie. Hciburg-Mündien: Albcr 1958. XI, 192 S. 8° - Symposion.
Kh^sophischc Schriftenreihe, hrsg. v. Max Müller, B. Welte, Erik Wolf,
Ar- 13-g0-

Buch»el, Elfricde: „Hamanns Schrift .Die Magi aus Morgen-

• ieparatdruck aus der Theol. Ztschr. Basel. 1958, S. 191-213.

„Engclsprache" (Na II, 199) und gibt so Unterricht zur Menschensprache.
In der Bibel redet er offenbarend direkt 6cin Wort; „Natur" und „Geschichte
" werden von ihr aus auch typologische Gottessprache. Alles
w'rd Hindeutung auf Gottes sich ereignenden Willen. Man mag das
aus Ansätzen Ha's zu entwickeln suchen (mag auch der Begriff „Figur"
unter den Synonyma selten — vgl. Gr 95, Acc 108 — und „Geschidite"
immer eine Einheit aus lauter „Geschichten" sein, Na II 40, 18f.; vgl.
1 303, 9). Zum Schluß (ab S. 169) geht Gr über zum Gesamtwerk Ha's,
zu Michaelis, Herder, Kant; bei guten neuen Blicken bleiben doch Fragen
. Wie viel Recht man einer solchen Verfärbung zubilligt, hängt natürlich
von der Gesamtproblematik Philosophie-Theologie ab. (Ein Akzentfehler
S. 96, Z. 8. Ersetzte man diabetisch nicht besser durch „diathekisch
"?)

Die Arbeit E. Büchseis will reiner Kommentar sein und ist es
auch. Sie gehörte in das Kommentarwerk Be. Bü. geht von der „Veröffentlichung
in der Zeitung" 1760 aus. Gleichwohl nimmt sie den Na-
Text (II 137) jm Zusammenhang der „Kreuzzüge eines Philologen" von
1762; beide Texte sind aber nach Na 11,403 verschieden. Der ausgezeichnete
Kommentar löst leider auf dem Höhepunkt nicht alle Zweifel
(Absch n. 9). Ha schreibt: Christenwandel sei „das Meisterstück des
unbekannten Genies, das Himmel und Erde für den einigen Schöpfer,
Mittler und Statthalter erkennet und erkennen wird in verklärter
Menschengestalt". Bü dolmetscht: „das Meisterstück Gottes, den Himmel
und Erde als einigen Schöpfer . . . erkennet und in der Gestalt
Christi erkennen wird". Zu erwägen wäre doch auch: „das Meisterstück
jener höchsten menschlichen Kraft, die das All Gottes als den Dreieinigen
erkennet und in esdiatologischer Verklärung erkennen wird".
Hierbei ist freilich schwierig der Ausdruck „Himmel und Erde"; aber
das Wort „Genie" bezeichnet nie Gott, außer in höchster Ironie (Na II,
294, 26—33 schon im Druck ironisch), sondern stets eine höchste menschliche
Kraft; vor allem sichert sich das letztere Verständnis im Gesamtzusammenhang
.

In guter Nestwärme, sehr umhegt, wuchs Ha heran, im Stil
der Zeit früh, etwas irregulär, sehr ausgeweitet unterrichtet: Ein
Neigungsstudium mehrerer Fakultäten, sehr fleißig, blieb ohne
Abschluß. Er war sehr charmant, 6ehr weit- und modeversiert,
sehr klug, sehr offen, gewann sich alle Herzen. Im geheimen hatte
er Ansprüche, war leise dickköpfig. Er strebte in die Welt und
dachte ein erweitertes Zuhause, fand es nicht ganz, aber doch
viel wertvollste Freundschaft (den jungen reichen Handelsherrn
Berens, Kant u. a.), die ihn immer wieder aufnahm, fand zwar
keinen eigentlichen Beruf, aber doch Brot ak Hauslehrer an fremden
Tischen, und wurde ein ganzer freier Literat. Überall ist für
'hn stets „Vorsehung", der pietistisch-lutherische Glaube des
Elternhauses ist selbstverständlich. Sein Freund Berens bot ihm
eine Bildungsreise als Kaufmann und Aufnahme in das große
Kaufherrenhaus, die Reise mit einem offenbar schon vorweg
gescheiterten Londoner Auftrag. In der Fremde versagten seine
Vorzüge. Er verteidigte sich zäh, eigensinnig und unglücklich.

Bis London fesselte ihn eigentlich nichts endgültig. Aber er
teilte sehr lebhaft alle Interessen seiner Freunde. An ihrer literarischen
Wochenschrift Daphne arbeitete schon der 20jährige mit
(Na IV). Modernstem Geist über die Religion galten gleich seine
ersten Beiträge. Fünf Jahre später kommen große Übersetzungen
aus dem modernsten Westen: Jesuitenbetrachtungen über die