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Ausgabe:

1959 Nr. 8

Spalte:

626-627

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Grabs, Rudolf

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer ; Gelebter Glaube, ein Lesebuch 1959

Rezensent:

Schütz, Roland

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 8

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blcm. — Die religiöse Struktur der Persönlichkeit Schweitzers. -
Einzclprobleme. — Der metaphysische Agnostizismus Schweitzers

— Die Gottesauffassung Schweitzers. — Der historische Jesus in
der Auffassung Schweitzers. — Probleme des Paulinismus bei
Schweitzer. — Schweitzer als praktischer Theologe. — Die Kirche
in der Auffassung Schweitzers. — Relative Lücken in den religiösen
Äußerungen Schweitzers. —

Dazu kommt die Übersicht über die hauptsächlichsten
Lebensdaten und die Werke Schweitzers sowie anderer Autoren.
Ferner ein Literaturverzeichnis und ein Quellennachweis mit mehr
als 800 Zitaten.

Schön ist und für das Buch empfehlend das Relief von
Mayer und der Ausschnitt eines charakteristischen Briefes vom
Jahre 1924 (zwischen den Seiten 8 und 9).

Grabs opponiert dem Doktor überall, wo er einhaken,
widersprechen oder ergänzen kann. Man möchte diese Offenheit
als Stärke des Buches ansehen. Der Angegriffene ist darum nicht
gram; denn er kämpft gern dort, wo es der Sache förderlich ist
und sich wirklich um der Wahrhaftigkeit willen lohnt. Der Angreifer
wiederum ist sich der Pflicht bewußt, mit „intellektueller
Redlichkeit" Schweitzer kritische Fragen vorzutragen, ihn auf
Einseitigkeiten hinzuweisen, ihm eigenwillige Texterläuterungen
der Evangelien anzurechnen, Spannungen und sogar Lücken
in Schweitzers notgedrungen unabgeschlosscncm Denken aufzuzeigen
, die Grabs freilich, um bescheiden zu bleiben, ,,relative
Lücken" nennt. Es ist durchaus am Platze, in bezug auf die transzendente
Wurzel der christlichen Ethik und auf „Erlösungsschn-
sucht" Ergänzungen beizubringen; vornehmlich geschieht dies von
Rudolf Otto her, den Grabs oftmals heranzieht; die Linie ist
..gleichsam punktiert" auch bis zu Schlcicrmachcr weitergezogen.

— Ferner wäre das Bild unvollständig, wenn ,,der Mann mit
seinem Widerspruch" nicht zur Geltung gekommen wäre. Die
Antithesen ,,Mystik" und ,.Rationalismus" sind nebeneinander
und miteinander bei Schweitzer möglich. Martin Stregcs Meinung,
sie verlangten ein „Entweder-Oder", trifft nicht zu (Grabs S. 61 f.).
Vielmehr muß das Paradoxe stehen bleiben, darf nicht abgeschwächt
noch gelöscht werden. Dies hat schon Georges Marchal
in seiner „Hommage" für den 80 Jährigen klar gesagt, indem er
drei Paradoxien als Beispiele hervorhob, ein methodisches, ein
theologisches und ein ethisches Paradoxon. Das theologische betrifft
die Verbindung von historischem und mythischem Element
im Reich Gottes. (Georges Marchal, Lc Paradoxe dans la pensee
d'Albcrt Schweitzer" in der Frcundesgabc „Ehrfurcht vor dem
Leben." Verlag Paul Haupt, Bern 1955, S. 82 ff.)

Grabs ist auch zu der Frage berechtigt, ob denn Paul Althaus
und Rudolf Bultmann wirklich etwas Neues zur Interpretation
der Bschatologic beigetragen haben. Die von Althaus vertretene
Modernisierung ist etwas anderes als die von Schweitzer gewollt:
Übcrtragung. Was Bultmann betrifft, so ist durch „Entmythologisieren
der ncutcstamcntlichen Texte" das Problem der Eschato-
logie auf ein falsches Gleis geschoben. Es handelt sich für Schweitzer
um das Freiwerden von dogmatischen Vorstellungen, die
durch Verbindung mit griechischer Metaphysik in die christliche
Kirche eingedrungen sind, um mit Jesus zu einer schlichten
Herzensfrömmigkeit zu gelangen; nicht um Freiwerden von Mythen
, die hier an falscher Stelle bekämpft werden. -

Nur in einem Nebensatz erwähnt der Verfasser, daß
Schweitzer gegen Hegel „sehr viel vorzubringen hat" (S. 127)
Es wäre eine Bereicherung für das Gesamtbild, etwas von dem
zu erfahren, was hier nur im Vorübergehen mitgeteilt, ja nur angedeutet
wird. Ich weise darauf hin. daß eine grundsätzlich klare
Distanzicrung in Schweitzers Aufsatz vorliegt „Die Religion in
der modernen Kultur" in The Christian Century, New York vom
21. und 28. November 1934. Da stellte er wie ein Unheilsprophet
fest, „daß die Religion keine Macht besitzt. Beweis?

dcr a??' ~ Wie 1<am es cJazu' tische Ideale den unmenschlichen
Idealen des Krieges nicht Widerstand leisten konnten
? Es war auf den Geist des praktischen Realismus zurückzuführen
. Ich stelle den Geist des Idealismus und den Geist des
Realismus als äußerste Gegensätze einander gegenüber... Im
neunzehnten Jahrhundert erhob sich der Geist des Realismus

gegen diesen Geist des Idealismus... Der erste Denker, in dem
er sich ankündigte, war der deutsche Philosoph Hegel."

Noch wäre ein Wunsch und ein ernstes Bedenken anzumelden
: Es wäre zu wünschen, daß die Opposition Schweitzers gegen
Karl Barth und die dialektische Theologie nicht am Rande sporadisch
, sondern grundsätzlich behandelt würde. Der in Ja und
Nein schillernden Theologie durchaus unplatonischer Dialektik
ist er abhold. Vor kurzer Zeit hat der Doktor mir aus Lambarene
geschrieben: „Mein Widerspruch gegen Barth: daß er sich nicht
>™t der historischen Wahrheit über Jesus und das ursprüngliche
Christentum auseinandersetzt, sondern sie einfach souverain
ignorieren zu können glaubt, und daß er die Dialektik in die
Gedankenwelt des Christentums eingeführt hat, wobei ich mich
■rage, was denn Dialektik, dieses dunkle Ding, das in so vielen
Bedeutungen gebraucht wird, mit dem Christentum zu tun hat.
Uer Herr Jesus und Paulus haben nichts von Dialektik gewußt.
Gott sei Dank."

Wir müssen die Kontroverse Barth-Schweitzer noch durch-
exerzieren!

Mit einiger Sorge ist folgendes Bedenken aus dem Durcharbeiten
des Buches erwachsen: „Ist Schweitzer Christ?" - „Ist

diweitzer liberal?" Diese Fragen sollten hier überhaupt nicht
zur Diskussion gestellt werden. Für seine Freunde in aller Welt
s,nd sie überflüssig. Gegner lassen sich nicht überzeugen, auch
wenn die aufgebrachten Probleme noch so gut abgehandelt werden
. Es gibt ja tatsächlich Menschen, die den großen Tierfrcun.J
einen „Tieranbetcr" und den Bekämpfer des Krieges einen welt-

lemden Toren nennen. Solchen sollte man, statt zu diskutieren,
die lapidaren Sätze aus der Schlußbetrachtung der Geschichte der
Leben-Jesu-Forschung vor Augen halten. Albert Schweitzer aber
soll gar pj^f abgefragt werden nach dem, wo er hingehört'
fcr hat sich bekanntlich jedem Glaubensexamen ein für allemal
entzogen. Warum ihn in Fächer und Rubriken einreihen? Ein
Universalgenie läßt sich nirgendwo hineinordnen. Jeder Versuch
dieser Art würde ihm seine Originalität nehmen. Und dabei
droht noch eine Gefahr, unversehens die von Schweitzer gehüteten
Grenzen des Elementaren zu überschreiten und in eine unangebrachte
, um nicht zu sagen vermessene Seelen - Analyse
hineinzugeraten. Indem Grabs es unternimmt, in „die religiöse
Struktur der Persönlichkeit Schweitzers" einzudringen, was im
Kapitel III geschieht, möchte es möglich sein, daß er aus dem
Munde des Abwehrenden die Sätze hören kann: „Ein Mensch
soll nicht in das Wesen des anderen eindringen wollen. Auch die
Seele hat ihre Hüllen, deren man sie nicht entkleiden soll!"

I.udwigthur; Roland Sch U 11

Gr*b», Rudolf: Albert Schweitzer. Gclebter Glaube. Ein Lesebuch.
Ausgewählt und dargestellt. Berlin: Evang. Vcrlagsanstalt [19571.
256 S. g».

Dr. Grabs zeichnet die christliche Persönlichkeit des menschenfreundlichen
Urwald-Doktors ohne den rcligionswissen-
schaftlichen und theologischen Ballast, der für viele hinderlich
war, um die Gedanken der Ehrfurcht vor dem Leben so tief in
sich aufzunehmen, wie es wünschenswert ist. Kein Weg eignet
«ich besser dazu als der vorliegende. Der Verfasser hat au?
Schweitzers Werken ein Lesebuch zusammengetragen, mosaikartig
und doch in fortlaufendem Zusammenhang. Da der Plan und
das Manuskript sogar Schweitzer selber vorgelegen haben und von
ihm auch gebilligt worden sind, ist das Buch eine dokumentarische
Arbeit, die das Verdienst hat. die Leser „zu persönlicher
und unmittelbarer Nacheiferung" anzuregen, wie Grabs es
möchte.

Dies gilt nicht allein für die Leser der Deutschen Demokratischen
Republik, für die das Werk zunächst bestimmt ist. Albert
Schweitzer ist Vorbild und wegweisend in aller Welt. - Der Jugend
überall kann ein Schweitzer zwar nicht zur Nachahmung,
wohl aber zur „Nacheiferung" vor Autren gestellt werden. Dazu
trägt der Verfasser entschieden mit großem Fleiß geschickt bei.

Eine Bereicherung hat das Buch durch acht schöne Bildtafeln
, vermittelt durch die nimmermüde Frau Emmy Martin, erfahren
; ferner ist ein Brief-Faksimile und eine Lageskizze von