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Ausgabe:

1959 Nr. 8

Spalte:

604

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kassing, Altfrid

Titel/Untertitel:

Die Kirche und Maria 1959

Rezensent:

Strathmann, Hermann

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 8

604

es hält den Bau zusammen". Selbst Verpflichtungen göttlichen
Rechts hebt die Kirche gelegentlich auf, „aber oft löst sie den kanonisch
Gebundenen um des drohenden Skandalon willen nicht von
der Last seiner ihm von ihr selbst auferlegten Rechtsverpflichtung
" (15). Skandalon ist jetzt „der Ärger der Kirche und ihrer
Glieder über Ungehorsam ihr selbst und ihren Gesetzen gegenüber
, oder auch bloße Kritik, wenn sie die Öffentlichkeit tangiert
" (24). Um des Skandalon willen wird dem einzelnen angesonnen
, nicht nur seinen Intellekt, sondern auch sein Gewissen
zum Opfer zu bringen (25 f.). „Eine Gewissensfreiheit, welche
die Entscheidung zum Glauben einbezöge, kann es für den Katholiken
nicht geben" (33). K. widerlegt eine vielzitierte gegenteilige
Behauptung Karl Adams, der sich zu Unrecht auf Thomas
beruft; ebenso die dogmatisch und kanonistisch unhaltbare These
Hans Barions, der Häretiker sei ein straffrei ausgehender Über-
2eugungstäter (35—84). — In der zweiten Abhandlung über
„Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts", die bereits
ThLZ 75 (1950), Sp. 356 f. besprochen wurde, fordert K. „die
Verwirklichung der Kirche der freien Gefolgschaft" (112). „Am
2. Oktober 1950 wurde die Schrift auf den Index der verbotenen
Bücher gesetzt" (114). K. ging nicht den Weg der löblichen Unterwerfung
, sondern wurde evangelisch.

Aus dem Inhalt der übrigen acht Abhandlungen, die durchweg
sehr instruktiv sind, sei folgendes hervorgehoben: Das
Naturrecht hat im römisch-katholischen System die Aufgabe, den
kirchlichen Machtansprüchen den Weg zu bahnen, da das kirchliche
Lehramt der autoritative Interpret des Naturrechts ist.
„Der Zugriff auf die Welt schlechthin, also nicht nur auf die
christliche, ist hier unverkennbar" (281; vgl. 285. 307. 455). Im
übrigen wird der „Rechtsanspruch der Kirche auf Beherrschung
der Welt" auf rechtlich ausgedeutete Herrenworte, vor allem den
Missionsauftrag, gestützt (126). Diese Verquickung von Recht
und Glauben, bei der das Recht auf Grund seiner Rationalität
immer die Vorhand hat, führt zu einem „absoluten Totalitaris-
mus", im Vergleich zu dem aller staatliche Totalitarismus „nur
ein schattenhafter Abklatsch" ist (123; vgl. 174. 458). „De facto
fehlt der Kirche heute die Machtposition, um die mit ihrem
Totalitarismus gegebenen Rechtskonsequenzen voll wahrzunehmen
" (123 f.), aber die darum vielfach anzutreffende Rede von
„einer Vergeistigung des Kirchenrechts" ist eine völlige Verkennung
der Tatsachen, die sich besonders bei denen findet, „die
die Kirche von außen sehen", z.B. auch bei Stutz (124). Man
darf nicht in den Fehler verfallen, den Opportunismus mit dem
Prinzip zu verwechseln.

Die Tendenz zur Verrechtlichung gehört zum Wesen des
römischen Katholizismus: „die Kirche verwandelt die ihr im
Laufe der Geschichte auf Grund zeitbedingter Umstände zugewachsenen
Aufgaben in grundsätzliche Rechtsfordeningen und
gibt ihnen zu diesem Zweck eine systematische pseudojuristische
Begründung" (241). Und zwar ist die Verrechtlichung immer noch
im Vordringen begriffen, wie K. an Einzelbeispielen nachweist
(317 ff.). Der Verrechtlichung sind auch Theologie und Philosophie
dienstbar gemacht. Wenn z. B. das Tridentinum mit Nachdruck
auf dem Satz besteht: Gott befiehlt nichts Unmögliches,
so spielt dabei der Gedanke herein: „Was aber der Mensch kann,
dazu vermag man ihn rechtlich zu zwingen!" (252). Und Thomas
wurde zum Normalphilosophen der römischen Kirche, weil „er
ihr historisch gewordenes faktisches Sein interpretierte und als
zu Recht bestehend nachwies. Entscheidend war dafür seine
Philosophie, nicht seine Theologie" (428). Der Unterschied zwischen
Thomismus und Neuthomismus ist nach K. folgender:
„der Thomismus ist eine historisch gewachsene concordantia
discordantium sententiarum, der Neuthomismus eine rechtlich
verfugte und restaurativ aufrechterhaltene; seine Konstanten bestimmt
die kirchliche Lehrgewalt als summa auetoritas iuridica"
(463). Besonders verhängnisvoll wirkt sich die Verrechtlichung
auf dem Gebiet der Sakramente aus; K. behandelt ausführlich
das Ehesakrament, das (zumal in den Mischehen) auch für den
evangelischen Christen erhebliche praktische Bedeutung hat.

Bei aller berechtigten sachlichen Kritik verliert K. nicht den
Blick für das, was katholische und evangelische Christen verbindet
: „Beide können und müssen einander in Ehrfurcht begegnen
, um gemeinsam für Christus Zeugnis abzulegen in selbstloser
Verwirklichung seines Wortes vom Tun der Wahrheit, die
er selber ist" (420).

Halle/Saale Erdmann Sch o 11

u

K a s s i n g, Altfrid Th.: Die Kirche und Maria. Ihr Verhältnis im
12. Kapitel der Apokalypse. Düsseldorf: Patmos-Verlag [195S]. 178 S.
8°. Kart. DM 22.50.

Die innere Entwicklung der Frömmigkeit des Katholizismus
während der letzten hundert Jahre ist durch nichts so gekennzeichnet
wie durch die hypertrophische Entfaltung des Marienkultus
, die am 1. Nov. 1950 in der pompös aufgezogenen Verkündigung
des nunmehr alle Gläubigen verpflichtenden Dogmas
von der leiblichen Himmelfahrt Mariens durch Pius XII. ihren
Abschluß fand'.

Höchst bedeutsam ist, was die damals verkündigte Bulle
„Munificentissimus" zur Rechtfertigung des neuen Dogmas sagt,
und zwar insofern, als das entscheidende Gewicht darauf gelegt
wird, daß seit langer Zeit eine wachsende katholische Volksbewegung
und in Übereinstimmung mit ihr das kirchliche Lehramt
die Dogmatisicrung dieser Lehre wünsche, womit bewiesen
sei, „daß dieser Gnadenvorzug Marias eine von Gott geoffenbarte
Wahrheit" und in dem kirchlichen Glaubensgut enthalten
sei! Maßgebend hierfür ist also nicht die Übereinstimmung
mit den Urzeugnissen des christlichen Glaubens, wie sie
im NT vorliegen, auch nicht mit der in möglichst frühe Zeit
zurückreichenden „Tradition", sondern mit dem in der Kirche der
Gegenwart lebenden „Glaubenssinn". Und ob das so ist, darüber
entscheidet allein der Papst, ohne Mitwirkung eines Konzils, nach
dem 1870 verkündigten Dogma von der Unfehlbarkeit päpstlicher
Kathedralentscheidungen.

Das ist ein etwas kühnes Gebäude, besonders wegen des
Verzichts auf den Nachweis der Übereinstimmung mit dem NT!
Denn dieses enthält ja nun auch trotz aller Poesie der Weihnachtsgeschichten
in Mt 1 und Lk 2 wirklich nichts, was zur
Fundamentierung des neuen Dogmas geeignet wäre. Oder etwa
doch? Sollte vielleicht das außerordentlich lebhafte Interesse, das
die katholische Exegese seit einigen Jahrzehnten dem 12. Kapitel
der Apokalypse entgegenbringt, damit zusammenhängen? Denn
sie bemüht sich mit angestrengter Zähigkeit immer neu um eine
„mariologische" Auslegung dieses Kapitels, im
Gegensatz zu einer „ekklesiologischen".

Es ist daher durchaus angebracht und verdienstlich, daß die
vorliegende Dissertation eines Benediktinerpaters aus Maria Laach
diese Auslegungsweise einer sorgfältigen Nachprüfung unterzieht.
Diese kommt zunächst zu dem Ergebnis, daß in Kap. 12, 5 von
der Geburt des Messias aus dem Gottesvolk die Rede sei»
aber bei dem Bilde von der gebärenden Frau sich der Gedanki
an Maria nahelege. Doch sei Maria nicht einmal in V. 5 das
direkt gemeinte Subjekt, geschweige denn, daß diese Deutung
sich an der Gesamtvision durchführen ließe (S. 74). So hält
denn der Verf. an der grundlegend ekklesiologischen Deutung
fest, glaubt aber, nach dem Vorbild anderer katholischer Autoren
, sie mit einer Mariologischen Deutung verbinden zu können
, und zwar so, daß in einem „ekklesiologischen Gcsamtsinn
jeweils ein „Mariologischer Teilsinn" der einzelnen Aussage"
enthalten sei. Das zusammenfassende Ergebnis lautet:

„Es liegt nur e i n Sinn der Gestalt des Weibes von
Apok. 12 vor, der ekklesiologische, welcher die Gottesgemeinde
der ganzen Heilsgeschichte umspannt." Aber dieser ekklesiö'
logische Sinn enthält den mariologischen so, wie Maria in dieser
umfassenden Heilsgemeindc ihren Platz hat. Es wird als0'
scheint es, auf den kombinatorischen Scharfsinn des Exegeten
ankommen, überall mariologische Andeutungen wiederzue'j'
kennen. Ein übermäßig fester Boden einer historisch-philologiscn
wohlfundierten Auslegung wird sich so schwerlich ergeben. Aber
wir leben bekanntlich im Mariologischen Zeitalter der Kirche.

Erlangen Hermann S t ra t h m a n n

') Zum Einzelnen vgLmsigS kle'nc volkstümliche Schrift „Marie»*-,
tum oder Christentum?" 1 «^Göppingen, Martelli-Verlag, 1957.