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Ausgabe:

1959 Nr. 7

Spalte:

505-507

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Leipoldt, Johannes

Titel/Untertitel:

Von Epidauros bis Lourdes 1959

Rezensent:

Beth, Karl

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 7

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die kräftiger im Sinn einer wirklichen kirchlichen Erziehung zu
wirken imstande sind.

Daß zwei Söhne des Jubilars Beiträge zu dieser Ehrung ihres
Vaters liefern konnten, macht diesen Band besonders liebenswert
. Von Rolf Rendtorffs Aufsatz habe ich schon gesprochen.
Trutz Rendtorffs Artikel über den „Menschen in der Strafe"
lenkt die Aufmerksamkeit auf das Problem, daß eigentlich weder
die Auffassung der Strafe als Wiederherstellung gebrochener
Ordnung, noch die als Erziehung zur Eingliederung in die Gesellschaft
die Tatsache, daß das Vergehen ja aus dem Zusammenhang
der Lebensgeschichte des Täters nicht herauszulösen ist, ins
Blickfeld bekommt. „Vor allen Überlegungen über die rechte
Strafe muß die Einsicht in die eigene Geschichte des Täters
stehen." Leider kommt dieser die verschiedenen Straftheorien
sehr klar charakterisierende Artikel bezüglich des eigenen Anliegens
nicht über Andeutungen hinaus.

Blickt man auf das Ganze des Buches zurück, dann kann gesagt
werden, daß es eine unglaubliche Fülle von Anregungen
ausstrahlt, daß es an kaum einer Stelle an der Oberfläche bleibt,
daß es sowohl in der Dimension der Weite, wie der Tiefe, der
Entwicklung solider Grundlagen kirchlicher Arbeit, wie des Entwurfs
neuer Wege ein wunderbares Echo aller entscheidenden
Anliegen des Jubilars ist. Man kann nur wünschen, daß es viele
aufmerksame Leser findet.'

Heidelberg Renatus Hupf eld

RELIGIONSWISSENSCHAFT

L e i p o 1 d t, Johannes: Von Epidauros bis Lourdes. Bilder aus der Geschichte
volkstümlicher Frömmigkeit. Hamburg-Bergstedt: Reich 1957
(Lizenzausgabe de« Verlags Koehler & Amelang, Leipzig). 313 S.,
16 Taf. kl. 8°. Hlw. DM 8.50.

Epidauros ist der erste in der langen Liste der von Leipoldt
in außerordentlicher Vollständigkeit zusammengeordneten Gnadenorte
und unterscheidet sich von vielen seinesgleichen dadurch,
daß sich die dort fungierenden Priester des Asklepios „auf Werbung
" und Betrieb verstanden und auf großen Inschrifttafeln die
schönsten Wunder verzeichneten, die ihr Gott gewirkt hatte. In
vielen Fällen wußte die Tafel viel Wunderbareres zu erzählen, als
es die gleichfalls erhaltenen Weihetafeln der Geheilten bezeugen.
Die Parallelen, die Leipoldt für das Wesenhafte aufzeigt, das
diesen und ähnlichen Institutionen — sie sind ein Gemeinbesitz
von Christentum und vorchristlichen Mittelmeerkulturen — ihre
Stellung in der Religion und Gesellschaft gibt, sind außerordentlich
lehrreich für den Religionspsychologen und Religions-
geschichtler, nicht zum mindesten aber für den praktischen Theologen
. Wir sehen hier die Bedürfnisse leidender Menschen am
Werke ebenso wie die Mittel, sie in einfacher, direkter Weise zu
befriedigen. Wir sehen, wie Bedürfnisse und Mittel trotz scheinbaren
Wandels unverändert dieselben bleiben. So werden die
theoretischen und dogmatischen Schlußfolgerungen, die man aus
dem reichen Material ableiten kann, von besonderem Wert.

Es ist die „Erbfolge der Religionen", die Leipoldt hier auf;
zeigt. Das (hier vorchristliche) Erbe erweist sich letzten Ende6
machtvoller als die Bestrebungen der Kirchen und der Theologen
; es schiebt scheinbar grundlegende Lehrsätze zur Seite, oder
deutet sie um, bis sie den Theologen akzeptabler erscheinen
mögen, aber eben nicht mehr die ursprüngliche Lehre sind. Die
„Erbfolge der Religionen" ist nicht identisch mit dem, was
Toynbee im Auge hat, wenn er meint, daß das höchste und wertvollste
Kulturgut von einer Kultur, von einer Religion zur andern
übergeht. Hier sind es primitive Formen, die oft 6chon von
der vorchristlichen Kultur verworfen worden waren. Im Zusammenbruch
der Hochkultur, die das Vordringen des Christentums
begleitete, machte sich der von der Philosophie zu Anfang
der christlichen Aera zurückgedrängte Volksglaube (Zauberglaube
) zunehmend geltend. Was 60 übernommen werden mußte,
womit sich die Kirche im täglichen Leben auseinandersetzte, war
so nicht nur — und vielleicht nicht einmal in erster Linie — die
Argumentation der Philosophen und die Rivalität der Sekten,

es waren weit mehr Brauchtum und religiöse Instinkte, die sich
nicht aus der Welt dekretieren ließen.

Leipoldt zeigt die Mannigfaltigkeit der Motive, die das Vorgehen
der Kirchen bestimmen. Schon Paulus wußte, daß man in
Sprachgebrauch und Vorstellungswahl an das Vorgegebene anknüpfen
muß. Man muß aus dem alten Gedankengut übernehmen
, was nur im mindesten mit dem Neuen verträglich ist. Da
der neue Wein in neuen Schläuchen unakzeptabel wäre, scheint
es weise, „zunächst" die alten zu benützen. Abgesehen davon reagieren
die Menschen auf analoge Geschehnisse in analogen Formen
: der Märtyrer wird „geliebt", und man legt Wert darauf, die
Distinktion zu betonen, daß dies nicht Verehrung sei, weil nur
Gott Verehrung gebühre. Aber wie schwer i6t die Distinktion
festzuhalten, insbesondere wenn die wunderwirkende Macht der
Märtyrergebeine, ihr Vermögen bei Gott Fürbitte zu tun, immer
stärker in den Vordergrund rückt. Die donatistische Frau, die als
unmittelbare Vorbereitung auf das eucharistische Mahl einen
Heiligenknochen küßt, wird zwar getadelt; aber nur weil dies
die Eucharistie herabzusetzen scheint.

Als der Massenzustrom mangelhaft vorbereiteter Neugläubiger
beginnt, viele von denen nicht wirklich mit dem alten
Brauchtum brechen wollten, schien es das Beste, für eine „Übergangszeit
" ihnen zu geben, was sie nicht entbehren konnten.
Gewohnte Schmausereien, Zusammenkünfte, heilige Tage und
heilige Orte wurden nur mit einem Mäntelchen umkleidet, in der
Hoffnung, die alte Nüchternheit bald wieder herstellen zu können
. Dieses Provisorium wurde nie abgeschafft. Aber die Kirche
verlor die Einsicht, daß sie mit fremdem Gut beschwert sei.
Einer der Einbruchspunkte für die Annahme heidnischer Vorstellungen
(wunderwirkende Statuen, geheiligte Reliquien, Gnadenorte
, und vieles andere) war die Tatsache, daß die Kirche
diese numinosen Machterweisungen nie geleugnet hatte; sie hatte
sie nur als Auswirkung teuflischer Mächte erklärt; deshalb
konnte sie ähnliches leicht für sich selbst in Anspruch nehmen,
als Auswirkung der „Macht von Oben", die natürlich die „Macht
von Unten" überwindet und übertrifft. Leipoldt zeigt die Übergänge
, die Bedenklichkeiten der Theologen im Zwiestreit mit den
Anforderungen der Praxis an Äußerungen der Kirchenväter, besonders
Augustins. Wenn man wie Augustin überzeugt ist von
der wunderwirkenden Macht geweihter heidnischer Bilder, so ist
es zur christlichen Bilderverehrung nur ein Schritt. Und wenn die
Theologen diesen Schritt gemacht haben, so schlägt volkstümliche
Frömmigkeit bald all die unverständlichen Distinktionen in
den Wind. Soll die Kirche nun mit diesem Gut leben, so muß sie
dafür auch in ihrem Lehrbereich Raum schaffen. Damit wird
selbst für die schärfsten Denker die klare Linie der ursprünglichen
Lehre getrübt, ja im wesentlichen verändert.

Was für Folgerungen ergeben sich aus alledem für den Praktiker
? Vor allem wohl, daß gewisse psychische Bedürfnisse als
Tatsache behandelt werden müssen: das Bedürfnis nach Hand-
haftigkeit des religiösen Objekts (in lebendiger Verkörperung
als große Persönlichkeit, lebendig oder tot; als Träger von
Kräften, die der Durchschnittsmensch direkt nicht erreichen kann
oder will; Mittlerschaft aller Arten); das Bedürfnis nach Annäherung
in Bild, Schrift, Symbol und so weiter, und damit verbunden
die Scheu vor dem Fernen, Schwer-Zugänglichen, Schwer-
Verstehbaren; das Bedürfnis nach konstanter Hilfeleistung von
Seiten des Übernatürlichen, das man sich mit einem Minimum an
Anstrengung erkaufen kann; das Bedürfnis nach einer handhaften
Zauberformel (in Amerika bietet sie heutzutage ein Norman
Vincent Peale), die das Gefühl der Abhängigkeit oder-Preisgegebenheit
, der existentialen Situation, im Handumdrehen In
sein Gegenteil verkehrt; die Sucht nach dem „Wunder", aber
nicht nur nach dem „Heilwunder"; die Schwierigkeit, eingewurzeltes
Brauchtum zu ändern. Ein wundervolles Beispiel für
diesen letzteren Punkt bringt Leipoldt in seiner Erzählung von
einer protestantischen Kirche, wo sich die Männer, nachdem sie
das Abendmahl genommen hatten, zur Frauenseite hin verbeugten
. Die Ursache dieses rätselhaften Verhaltens wurde öffenbar,
als der Verputz an der Wand hinter der Frauenseite entfernt
wurde. Zum Vorschein kam ein Marienbild, das wahrscheinlich
in dieser Weise in vor-reformatorischen Zeiten geehrt wurde;