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Ausgabe:

1959 Nr. 7

Spalte:

499-505

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Sammlung und Sendung 1959

Rezensent:

Hupfeld, Renatus

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 7

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mehr den Anfängen der neuen Diesseitigkeitsreligion nach.
Hermelinks Antwort auf die Frage, wie der Massenenthusiasmus
für jene möglich geworden sei, ist verblüffend einfach, kann
freilich nur den befriedigen, der weiß, welchen großen Anteil
ein radikaler, apokalyptisch - utopistischer Pietismus an
der Ausprägung gerade der deutschen Aufklärung genommen
hat. Wir werden nämlich verwiesen auf ,die in der
Volksschule gepflegte Aufklärung des im liberalen Bürgertum
fortlebenden Rationalismus' (III 265). Daß in demselben Deutschland
die .Zwangsvolksschule' (zuerst in dem pietistisch-aufgeklärten
Preußen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II.) besonders
scharf ausgeprägt ist, in dem auch die proletarische Massenbewegung
entstand, bildet eine Stütze jener These.

Mag nun wirklich der aufgeklärte preußische Schulmeister
nicht nur die Schlacht bei Königgrätz gewonnen, sondern auch
die Kampforganisationen der proletarischen Bewegung beseelt
und formiert haben oder nicht — das, worauf es Hermelink ankommt
, liegt tiefer: Die Aufklärung ist eine religiöse Bewegung,
auf dem Boden des Christentums gewachsen. Vertreter der Kirche
haben sie ein Jahrhundert lang nicht nur gepredigt, sondern auch
das Volk darin erzogen; nicht ohne Grund nennt die Kirche
sich die Mutter des modernen — in der Aufklärung gestalteten —
Schulwesens. Wenn die wirksamste der modernen Ersatzreligionen
aus dieser von der Kirche mitgetragenen, ja oft erst entfachten
Aufklärung hervorgegangen ist, dann kann sich christliche
Verantwortung dieser Entwicklung und den daraus erwachsenen
Folgen nicht entziehen. Und wenn das liberale
Bürgertum, indem es die Aufklärung weitergab an die breiten
Massen, bei diesen gleichsam einen religiösen Hungertyphus
hervorgerufen hat, so hat es kein Recht, die Kirche als .Ordnungsmacht
' gegen dieselben Massen auszuspielen, so steht es
innerlich der Kirche nicht näher als jene auch.

Bs ist ein Aufruf zur Gerechtigkeit, der hier von Hermelinks
geschichtlicher Darstellung aus an die Kirchen ergeht. Sowohl
die breiten industriellen Massen wie das liberale Bürgertum
sind, weil die Kirche ihnen nichts anderes als .Aufklärung'
zu geben vermochte, ihr entfremdet worden. Das ist wohl das
verhängnisvollste Erbe, das uns das 19. Jhdt. hinterlassen hat.
Nun dürfen wir die Schuld dieser Entfremdung nicht bei den
andern, sondern müssen sie bei uns selbst suchen. Sie besteht
nicht darin, daß wir in Theologie und Kirche der Aufklärung zu
viel oder zu wenig gehuldigt hätten — mit solchen Anklagen
pflegten die kirchlichen Gruppen des 19. Jhdts. sich gegenseitig
zu überschütten —, sondern daß wir dem Menschen der Aufklärung
und des Idealismus, des Liberalismus und des Marxismus
die überzeugende, das Gewissen überführende Verkündigung
des Evangeliums schuldig geblieben sind. Das besagt nichts gegen
die Treue und den Ernst, die Erfindungskraft und die Liebe vieler
Prediger und Theologen des 19. Jhdts.; Hermelinks Darstellung
gibt davon vielmehr überreichliche Proben. Aber es
zeigt, daß der Kirche und ihrer Verkündigung damals die Vollmacht
gefehlt hat. Wie weit das Schuld der damaligen Menschen
ist, wie weit eine Folge strafenden Gotteszorns, der da heimsucht
der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte
Glied, das kann kein Historiker ergründen, solche Analysen
stehen in keines Menschen Verfügung. Das Erbe des 19. Jhdts.

ALLGEMEINES: FESTSCHRIFTEN

[R e n d t o r f f, H.:) Sammlung und Sendung. Vom Auftrag der Kirche
in der Welt. Eine Festgabe für D. Heinrich Rendtorff zu seinem
70. Geburtstag am 9. April 1958. Hrsg. v. Joachim Heubach und
Heinrich-Hermann Ulrich. Berlin: Christi. Zeitschriftenverlag
[1958]. 352 S., lTaf. gr. 8°. Kart. DM 12.— ; Lw. DM 15.—.

Diese Festgabe zu Heinrich Rendtorffs 70. Geburtstag entspricht
in sehr feiner Weise in ihrem Grundcharakter dem Wesen

kann von den Christen des 20. nur mit Furcht und Zittern ergriffen
werden.

Das meint Hermelink wohl auch, wenn er zum Abschluß
seines Werkes, in der sehr persönlich, fast seelsorgerlich
gehaltenen Zusammenfassung des 3. Bandes (III 658) zu
dem Ergebnis kommt: „Die Kirchengeschichte des 19. Jhdts.
(übrigens auch die früherer Jahrhunderte) wirkt im Grunde als
Bußpredigt und erfüllt damit eine ihrer wesentlichsten
Aufgaben." Das 19. Jhdt. ist mit allem seinem Glanz und Reichtum
schon von vielen 6einer Zeitgenossen als ein Zeitalter des
Verfalls und des drohenden Untergangs erfahren worden. Unter
seinen führenden Männern zählt es eine stattliche Reihe von
Unheilspropheten innerhalb und außerhalb der Kirchen. Und
es hat seinen Erben im 20. Jhdt wenig von seinem Glänze und
viel von seinen ungeweinten Tränen hinterlassen. Es wäre dem
Geschichtsschreiber, der in diesem neuen Jahrhundert Taten und
Unterlassungen des Vergangenen beschreibt, ein Leichtes, aus
dem erzählenden Bericht eine Gerichtsrede zu machen.

Der Kirchengeschichtsschreiber Hermelink hat das nicht getan
. Er ist ein Sohn der lutherischen Reformation. Er hat mit
seiner Geschichtsdarstellung seine Kirche zur Buße leiten wollen
und zum Glauben an das Evangelium, das in der Geschichte auch
da sich durchzusetzen vermag, wo seine Verkündiger versagen.
Er hat die im 19. Jhdt. geschaffenen Wirklichkeiten, mit denen
wir nicht fertig werden und mit denen er nicht fertig geworden
ist, so zu uns Teden lassen, daß sie uns Buße und Glauben predigen
. Mag seine Theologie — wie die eines jeden von uns —
der Zeit, die ihn hervorbrachte, ihren Zoll entrichtet haben, in
der Predigt der Tatsachen, die er in seiner Geschichtsschreibung
zu uns reden läßt, ist er ein Lutheraner, der im Sinne des Reformators
die unvergängliche Wahrheit des Evangeliums verkündigt.

Als ein Mensch, ausgestattet mit überreichen Gaben, auch
denen der liebenswürdigen Freundschaft, gezeichnet aber auch
von früher Kindheit an mit dem Siegel großer innerer Einsamkeit
, ist er, beladen mit dem Erbe seiner Vergangenheit,
über die Schwelle des 19. Jhdts. zum 20. hinübergeschritten, hat
er uns bis über die Mitte unseres Jahrhunderts hinaus begleiten
können. Die Leiden der zwei Menschenalter, die unser Jahrhundert
durchlebt hat und in deren Mitte jedesmal ein Weltkrieg
steht, haben ihn nicht verschont, haben seinem tief durchfurchten
Gesicht ihren Stempel aufgedrückt. Aber indem er die Leiden
seiner Zeit tapfer und gläubig überwand, hat er die Kraft aufgebracht
, auch das Erbe des 19. Jhdts. verarbeitend und nachschaffend
in seiner Geschichtsschreibung zu sammeln und zu
klären, und hat dadurch den Nachlebenden geholfen, es zu
überwinden.

Daß der Dienst des Geschichtsschreibers den Nachkommen
eine Hilfe ist, ihr Erbe recht zu verwalten, das hat Hermelink
uns, seinen Schülern, vorgelebt. Möchte seine Kirchengeschichte
des 19. Jhdts. vielen diese Hilfe leisten, möchte sie auch den
Eifer entfachen, den überreichen Stoff dieses unbekannten Zeitraums
immer tiefer zu durchdringen, immer übersichtlicher zu
gestalten. Nur so können wir in Kirche und Volk aus der Unsicherheit
herauskommen, die uns gegenüber dem Erbe des
19. Jhdts. noch immer gefangen hält.

und Wirken des Jubilars. Für ihn ist das Wort Gottes immer
bewegendes Wort gewesen, Ruf des Herrn, der seine
Gemeinde, die sich um sein Wort sammelt, nicht in Ruhe
läßt, sondern in die Welt sendet, ihn zu bezeugen: seine gesamte
Arbeit war missionarisch, speziell volksmissionarisch ausgerichtet
. So habe auch ich ihn seinerzeit in Mecklenburg in dankbarer
Freude erlebt: den „Landesbischof als Volksmissionar",
der sich als Frontkämpfer voll einsetzte, ohne sich dabei aber in
Vielgeschäftigkeit zu zersplittern, vielmehr sich Kraft holend aus
dem sehr ernst genommenen Bibelwort und auch die Kirche stetig