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Ausgabe:

1959 Nr. 7

Spalte:

491-500

Autor/Hrsg.:

Maurer, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Erbe des 19. Jahrhunderts 1959

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 7

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sagen des 16. Jahrh. darstellt, so daß deren Gegensätzlichkeit
nicht eigentlich durch eine elementare neue „dritte" Konzeption
zu einem echten Lehrkonsens überwunden, vielmehr nur
durch teilweise neuartige Formulierungsweise überdeckt worden
wt!?

Diese kritische Fragen wollen nicht das ernste Anliegen
und die intensiven Bemühungen, die hinter diesen Thesen
stehen, verkleinern. Sie müssen aber gestellt werden, eben weil

diese ganze Sache so ungemein ernst und wichtig ist. Gerade
deswegen dürfen diese Thesen ja nicht „billig" oder nur emotional
hingenommen und pragmatisch verwandt werden, vielmehr
müssen sie in verantwortlicher kritischer Prüfung unter
der Wahrheitsfrage ernst genommen werden. Das Schlimmste,
was ihnen passieren könnte, wäre dies, daß bei ihnen nur das
„Daß" der Gemeinsamkeit ihrer Aussagen gewertet, über ihr
inhaltliches „Wa6" aber zur Tagesordnung übergegangen würde!

Das Erbe des 19. Jahrhunderts

Zum Gedächtnis an Heinrich H ermelin k f 11. 2. 1958

Von Wilhelm Maurer, Erlangen

Als Heinrich Hermclink (geb. 30. 12. 1877) im eben vollendeten
80. Lebensjahr in München-Obermenzing starb, lag als
Abschluß seiner Lebensarbeit in 3 Bänden vor: Das Christentum
in der Menschheitsgeschichte von der Französischen Revolution
bis zur Gegenwart1; ein 4. Band (Das Zeitalter der Weltkriege,
1914—1950) war geplant, wurde aber nicht vollendet.

Das Erbe des 19. Jahrhunderts wird in diesem monumentalen
Werke an die Gegenwart herangetragen, denen, die von
diesem Erbe unbewußt zehren, obwohl 6ie es bewußt ablehnen,
zur Besinnung und zur Klärung; denen, die um eine kritische
Bewertung und um eine Fruchtbarmachung dieses Erbes bemüht
ßind, zur Förderung und zur dankbaren Bewunderung.

Mit Recht kann der Verfasser über seine theologischen Vorgänger
(die Übersichten zur T h e o 1 o g i egeschichte gehören auf
ein besonderes Blatt) mit einer leichten Handbewegung hinweggehen
; keiner von ihnen kann sich in Weite und Tiefe seiner
Darstellung mit ihm messen. Vor allem wird nunmehr das aus
der Polemik entstandene und polemisch verzerrte Handbuch von
Friedrich Nippold (5 Bände, 3. Aufl. 1901 ff.) seine Rolle ausgespielt
haben. Nur Franz Schnabels „Deutsche Geschichte im
19. Jahrhundert" verdient die anerkennende Erwähnung, die sie
bei Hermelink findet. Ihr 4. Band hat in seiner Darstellung ein
Gegenstück, das ihn freilich in universaler Weite und an theologischer
Vertiefung weit übertrifft. In die geschichtliche Erzählung
hat Hermelink — jeweils in den Anmerkungen gekennzeichnet
— eine Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts au6 der Feder
des 1914 verstorbenen Bonner Kirchenhistorikers Karl Seil verwoben
, dessen Urteilen er sich freilich nicht überall anschließen
kann.

Natürlich sind uns auch, nachdem wir Hermelinks umfassende
Darstellung besitzen, nicht alle Fragen gelöst. Wir werden
mit dem Erbe des 19. Jahrhunderts nicht auf einmal fertig; auf
allen Lebensgebieten stehen wir mitten in der Auseinandersetzung
. Die großen geistigen und politischen Revolutionen dieses
Jahrhunderts sind zwar nicht von Deutschland ausgegangen,
aber von ihm aufgenommen und intensiviert worden. Und in
keinem Volke, wohl selbst im russischen nicht, haben sie das
Bewußtsein historischer Kontinuität so stark zerstören können
wie bei uns. So ist das Erbe des 19. Jhdts. nur zerstückelt auf
uns gekommen. Der eine schaut, ob freundlich oder feindlich,
mehr auf dieses, der andere mehr auf jenes Bruchstück. In Unkenntnis
der Motive, oft auch in Trotz und Feindschaft blicken
die Enkel geringschätzend auf das, was ihnen die Großvater
hinterlassen haben.

Hermelink ist noch aus den treibenden Kräften des 19. Jhdts.
hervorgewachsen; die Männer, die den letzten Jahrzehnten vor
1914 das Gepräge gaben, sind seine Väter und Lehrer. Schwaben
sind es zumeist oder doch Männer, die an der schwäbischen
Landesuniversität Tübingen hauptsächlich ihre Wirkungsstätte
gefunden haben. Und kein Land hat in Deutschland die Revolutionen
des 19. Jhdts. so gut überstanden, hat so wenig revolu-

') Hermelink, Heinrich, Prof. D. Dr.: Das Christentum in der
Menschheitsgeschichte von der französischen Revolution bis zur Gegenwart
. Bd. I: Revolution und Restauration 1789—1835. XX, 528 S.
DM 26.— ; Lw. DM 34.—. Bd. II: Liberalismus und Konservatismus
1835—1870. XI, 629 S. Lw. DM 38.50. Bd. III: Nationalismus und
Sozialismus 1870-1914. XII, 683 S. DM 33.— ; Lw. DM 39.-. Stuttgart
: Metzler u. Tübingen: Wunderlich [1951/53/55]. 8°.

tionären wie reaktionären Radikalismus gekannt wie Württemberg
; wenn irgendwo, so gibt es hier eine geschichtliche Kontinuität
, die die revolutionären Anregungen aufnimmt, umgestaltet
und mit dem Überkommenen verschmilzt. Die nahe Verwandtschaft
von Pietismus, Aufklärung und Idealismus, an
Koryphäen wie Schiller, Schelling, Hegel mehr oder weniger
deutlich wahrnehmbar, wirkt sich im Schwabenlande günstig aus,
hat gleichsam seine geistige Temperatur bestimmt; und so wurde
das ganze 19. Jhdt. hindurch eine Atmosphäre des Ausgleichs
geschaffen, in der die Spannungen zwar leidenschaftlich durchgefochten
wurden, 6ich aber auch fruchtbar lösten. Im kirchlichen
Leben hielt ein bodenständiger Pietismus der von Strauß und
Bauir ausgehenden kritischen Theologie das Gegengewicht. Und
die Tübinger Universität lebte von dieser Vermittlung der Gegensätze
und wirkte damit — nicht nur bei den Vertretern der
Vermittlungstheologie von Dorner bis Schlattetr, sondern auch
in den anderen Wissenschaften — weit über die Grenzen des
Landes hinaus. Besonders liebevoll ist Hermelink diesen Ausstrahlungen
seiner Heimat nachgegangen; man merkt, wie warm
sein Herz schlägt, wo immer er ihnen in der Geistesgeschichte
des 19. Jhdts. begegnet.

Man versteht Hermelink nur, wenn man weiß, daß er
Schwabe ist, Schwabe besonderer Art. Von der Erweckungs-
bewegung ergriffen, war der Vater einst von Friesland nach Basel
gewandert, um sich nach Indien als Missionar senden zu lassen
. Nach einigen Jahren wurde ihm die Gattin aus den alt-
pietistischen Gemeinschaften Württembergs durchs Los bestimmt
und nach Indien nachgeschickt. Mütterliche Heimat ist dem in
Mulki-Ostindien geborenen und in früher Jugend allein nach
Europa zurückgekehrten Missionarssohn die schwäbische Erde geworden
, 60 leidenschaftlich geliebt, daß noch der Leipziger
Privatdozent nach Möglichkeit auf dem Bahnhof seinen Mittagskaffee
trank, um wenigstens die Schnellzüge zu beobachten, die
nach Stuttgart abfuhren. Und daß diese schwäbische Heimat,
deren Muttersprache er unverfälscht mit seiner ganzen Familie
über Leipzig (1906/13), Kiel (1913/14), Mairburg (1919/35) und
München (1938/58) bewahrt hatte, keine wissenschaftliche Werkstätte
für seine Lebensarbeit bot — nur nach seiner durch den
Kirchenkampf herbeigeführten Zwangsemeriticrung in Marbuirg
war er 3 Jahre Pfarrer in Eschenbach unter dem Fuchseck
(Württ.) —, wair ihm zeitlebens ein Schmerz.

Er aber hat seiner schwäbischen Heimat die Treue gehalten;
ihr Geist hat seine kirchengeschichtliche Arbeit geprägt. Was
am schwäbischen Pietismus echt war und groß, blieb die Grundlage
seiner Frömmigkeit. Diese seine Jesusfrömmigkeit läßt ihn
offen sein für das Anliegen beider Blumhardts. Jesus siegt' —
diese Parole des älteren Blumhardt taufcht immer wieder als Motto
über der Kirchengeschichte des 19. Jhdts. auf. Den Sinn für soziale
Verantwortung hat er mit dem jüngeren Blumhardt gemeinsam
; und ohne den Blick auf ihn wären die Abschnitte über die
soziale Entwicklung des 19. Jhdts. nicht so geschrieben, der Anteil
, den die Kirche an ihr genommen, und die Versäumnisse'
die sie sich ihr gegenüber hat zuschulden kommen lassen, nicht
so geschildert, wie es geschehen ist. Daß Hermelink das Christentum
des 19. Jhdts. in den Rahmen der Menschheitsgeschichte
hineinstellt, daß er in ihm ,den Hebel der Weltgeschichte' erblickt
und alle großen Menschheitsideen in der Auseinandersetzung
mit ihm begriffen sieht - diesen Blick in die Weite ver-