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Ausgabe:

1959 Nr. 6

Spalte:

465-467

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Rendtorff, Trutz

Titel/Untertitel:

Die soziale Struktur der Gemeinde 1959

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 6

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Ihm wurde die Gnade gegeben, daß immer wieder eine neu
deutlich werdende Not oder Aufgabe ihn ergriff und zwang, sie
und sich zu klären und sich einzusetzen. So bleibt sein Leben bis
zum letzten Augenblick bewegt und aufrüttelnde Macht für alle,
die er berührte. Aber von hier aus wird auch klar, warum der
ihm so eng verbundene Freundeskreis sich nach seinem Tod
spaltete. Da sind eben die, denen er Maßstab und abschließendes
Urteil gab und die, denen er der wegweisende Prophet war, der
einen Weg weiß, den sie weitergehen mußten und müssen in
immer neuen Entscheidungen, so wird seine Zeitschrift „Neue
Wege" von Hugo Kramer in einer erstaunlichen Kraft und Entschiedenheit
weitergeführt.

Leipzig Emil F u c h s

Rcndtorff, Trutz, Dr. theol.: Die soziale Struktur der Gemeinde.

Die kirchlichen Lebensformen im gesellschaftlichen Wandel der
Gegenwart. Eine kirchensoziologische Untersuchung. Hamburg:
Furche-Verlag [1958]. 158 S. 8° = Studien zur evang. Sozialtheologie
und Sozialethik, hrsg. in Zusammenarb. mit E. Steinbach, H. Thie-
licke u. E.Thier v. H.-D. Wendland, Bd. 1. Lw. DM 10.80.

Wir haben es mit einer soziologischen Untersuchung zu
tun, deren wissenschaftstheoretischen Ort der VeTf. selbst zu
fixieren sucht. Während die ältere Schule (Weber, Troeltsch) nach
dem Anteil der Religion am Aufbau der modernen Gesellschaft
gefragt hätte, frage die jüngere umgekehrt nach der wesentlichen
Bedeutung der Gesellschaft für die Kirche als Institution. Dabei
wird die „Religionssoziologie der Praktiker", die hauptsächlich
in den USA und in Frankreich zuhause ist, kritisch abgewertet,
weil sie die Soziologie nur instrumental in den Dienst der kirchlichen
Praxis stelle, — besser spräche man bei ihr von „Religions-
soziographie". R. will bei ihr nicht stehen bleiben, obgleich er
sich ihrer Methoden bedient, denn durch sie hat er aus schleswig-
holsteinschen Kirchengemeinden sein statistisches Material bekommen
. Er weist die rein instrumentale Auffassung der Paro-
chie — eine der kirchlichen Erfahrung entstammende äußerlichzweckmäßige
Gliederung — als ungenügend zurück, denn sein
Fragen drängt auf das Wesen der kirchlichen Gemeinde (natürlich
im soziologischen Verständnis), nach dem „inneren Zusammenhang
zwischen der Situation des Menschen in der Gesellschaft
und der inneren Struktur der Kirche und ihres Lebens als
Gemeinde Jesu Christi" (20). „Denn eine Kirchensoziologie, von
deren Einsichten aus nicht auch die Frage nach der Kirche in einem
hinter nur äußerliche Organisationsprobleme zurückweisenden
Sinne ernsthaft gestellt werden kann, hat für die Theologie nur
sehr untergeordnetes Interesse" (20). Damit ist wohl auf die
theologische Lehre von der Kirche im engeren Sinn hingedeutet,
die der systematischen Theologie aufgetragen ist und in unserm
Buch nur gelegentlich gestreift wird, obgleich das letzte Zitat
anderes erwarten läßt.

Verweilen wir zunächst beim 60ziographischen Teil! Das statistische
Material zur Kirchlichkeit schleswig-holsteinscher Gemeinden —
es betrifft den Besuch des Gottesdienstes und das Begehr der kirchlichen
Amtshandlungen — ist nicht überraschend, aber dennoch instruktiv:
unerechütterter Hochstand der nominellen Kirchenzugehörigkeit, konservatives
Festhalten an den institutionellen Amtshandlungen, unaufhaltsames
Absinken des sonntäglichen Kirchenbesuches auf den Nullpunkt
zu. Der normale Gottesdienst wird vorwiegend von den Umgesiedelten
besucht. „Die einheimischen Glieder der Kirchengemeinde . . .
sind am Sonntag nur äußerst selten in der Kirche zu finden" (59). Unter
den Zugewanderten hat eine Siebung stattgefunden dergestalt, daß die
Alten und Lebensuntüditigen, die den Anschluß an die neuen Verhältnisse
nicht mehr fanden, also die sozial Schwächeren, das Hauptkontingent
der Kirchenbesudier stellen, während die Jugend sich der unkirchlichen
Umwelt assimiliert. Allgemein habitualisiert sich die Unkirchlich-
keit. „Die Ortskirchengemeinde hat sich vom Gottesdienst gelöst" (64).
Die Amtshandlungen dagegen werden begehrt. Sie sind trotz einer Sinnwandlung
gegen früher die Klammern zur alten institutionellen Kirch-
lichkcit. deren überkommene Struktur seit über einem halben Jahrhundert
durch neue „gemeinschaftliche Lebensformen" der „Gemeindekreise
" bedrängt wird; zu ihrer Phänomenologie und Kritik wird Gutes
herzugetragen. Über Umfang und Einfluß der „Kreise" empfangen wir
wieder statistisches Material aus Schleswig-Holstein.

Indem wir uns der We6ensfrage im soziologischen Kirchenbegriff
zuwenden, um die es dem Buch vordringlich zu tun sein
dürfte, nähern wir uns dem neuralgischen Punkt der Untersuchung
. Um unser Urteil vorwegzunehmen: wir können nicht
finden, daß R. über der Wesensfrage zur Klarheit gekommen ist.
Was er im Auge hat und ihn fasziniert, ist die Einheit der Bürgerund
Kirchengemeinde in der alten Zeit, die in der Brandung des
modernen gesellschaftlichen Lebens zersplittert ist und den Tod
der alten Kirchlichkeit herauf geführt hat. Daß wir in der Paro-
chie, solange sie existieren wird, immer eine soziologische Einheit
vor uns haben werden, ist gewiß, wie es ebenso gewiß ist, daß
ihre innerste Struktur veränderlich ist. Aber damit dürften wir
6chon über R. hinausgegangen sein, denn er will eine „Grundstruktur
" erheben, von der zu reden nur dann sinnvoll sein
dürfte, wenn ihr eine Konstanz eignet. Fragt man nach dieser
Konstanz, so kommt man mit R. über die rein formale Antwort
nicht hinaus, daß kirchliche Gemeinde immer mit naturhafter und
geschichtlicher Gemeinschaft verwoben sei. Diesem komplexen
Sachverhalt wird u. E. nur eine dynamische Betrachtungsweise gerecht
, die auf eine reale Grundstruktur ganz verzichtet — sie
wird, soweit wir sehen, bei R. nirgendwo sichtbar —, sondern im
Wesensgrund als allein wirkender Potenz dem christlichen Glauben
begegnet, an dem der Mensch von Fleisch und Blut partizipiert
, wodurch kirchliche Gemeinschaft wird. Wird der Hauptakzent
nicht hier gesetzt, kann u. E. in der Wesensfrage Klarheit
nicht erreicht werden. Die Schwierigkeiten werden wohl dort am
sichtbarsten, wo es ohne Konkretisierung nicht mehr geht. Zur
Bedeutung der Taufe lesen wir: „In der örtlichen Kirchengemeinde
bedeutet die Kindertaufe die kirchliche Bestätigung eines bestimmten
sozialen Status, in den der Mensch in seiner sozialen
Umwelt eintritt" (37). Das ist uns neu. Daß hier Geburt und
Taufe vertauscht sind, muß R. selbst empfunden haben, weil er
fortfährt: „So wie die Geburt in einer verhältnismäßig stabilen
Gesellschaftsordnung . .. den sozialen Standort des Menschen
festlegt, so bedeutet auch die Taufe in der kleinen örtlichen Gesellschaft
die Anerkennung des kirchlichen .Standes' des Menschen
." Muß man nicht fragen, ob hier die Unterschiede zwischen
Geburt und Taufe gesehen sind? Vielleicht wird die empfundene
Unklarheit durch ein bald folgendes Zitat behoben: „Die tiefreichende
Formung der Taufpraxis ... ist für die Untersuchung der
inneren Struktur der Lebensformen der Kirche richtungweisend."
Wir können darin zunächst nur einen Vorverweis auf die Unsitte
der Haustaufen sehen. „Es gibt heute noch Gemeinden, in denen
nahezu 50 v. H. der Taufen in Privathäusern stattfinden" (86).
Werden gesellschaftlich abgestufte Festlichkeiten mit der Taufe
verbunden, so kann man vielleicht von außen her von einer sozialen
Ortsbestimmung des gleichzeitig mit der Taufe mit einer mehr
oder weniger rauschenden Festlichkeit geehrten Kindes reden. „Von
außen her", so 6agen wir. R. aber will in der „tiefreichenden
Formung der Taufpraxis" die „innere Struktur der Lebensform
der Kirche richtungweisend" erkennen. Parallel liegen die Fälle
bei andern Kasualien. Jeder kennt die unheilvolle Verquickung
vom Stand, der am Geld gemessen ist, und hochbezahltem kirchlichen
Begräbnis oder die Entsprechung zwischen bürgerlicher
Geltung und Platz am Abendmahlstisch. Natürlich ist hier und
sonst mit R. über Entartung und Mißbrauch jeder Wortwechsel
überflüssig. Aber — irgendwie soll in der Zusammenordnung von
bürgerlichem Stand und Kirdiengliedschaft das Wesen der
Kirchengemeinde sich ausdrücken. Wie — das bleibt für uns undeutlich
. So treffend die Bemerkungen über die heut so beliebte
missionarische Ausbeutung der Kasualreden sind, so dunkel
bleibt, welche Substanz ihnen eigen sein muß, zumal immer von
neuem wiederholt wird, daß die alte ständische Gliederung hin
ist und nicht wiederkehrt, allen romantischen Sehnsüchten zum
Trotz. Wenn es stimmt, daß die institutionellen alten kirchlichen
Lebensformen in der Begegnung mit der modernen Gesellschaft
zum Sturz in die Unkirchlichkeit führten, muß ein Rekurs auf
eine Grundstruktur der alten Lebensformen solange als Romantik
gelten, solange der Einheitspunkt zwischen ihnen, den ständischen,
und den modernen, den gesellschaftlichen Lebensformen noch
nicht in Sicht gekommen ist. Der kritische Leser unseres Buches
kann entsprechend seinem Ergebnis kaum anders folgern: die
VeTquickung von Bürger- und Christenstand erklärt den Zusammenbruch
der Kirchlichkeit, weist aber keine Wege zu ihrer
neuen Begründung.