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Ausgabe:

1959

Spalte:

417-420

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG); 3., völlig neu bearb. Aufl.: Bd. 2 D-G 1959

Rezensent:

Wingren, Gustaf

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417

Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 6

sorge dienendes Kirchenzuchtrecht umwandeln wollen. Geistliches
Amt und Gemeinde sollten in sinnvollem Zusammenwirken
das fehlbare Kirchenglied wieder auf den rechten Weg führen.

Die geschichtliche Entwicklung ist dann andere Wege gegangen
. Der absolute Polizei6taat benutzte die Kirchenzucht nur
zu gern als polizeiliches Mittel, das durch Zwang äußere Ordnung
zu schaffen hatte. So kam e6 wieder zu echten Kirchenstrafen,
die in die persönliche Ehre eingriffen, wie z. B. Versagen des
Hochzeits- oder Trauergeläutes, Nominalelenchus, Weglassen der
Bezeichnung als „Jungfrau" im öffentlichen Aufgebot. Das alles
wurde vom geistlichen Amt oft nur als Vollstreckungsorgan ausgeführt
. Im Hintergrund stand als eigentliche und maßgebende
Instanz der Kirchenzucht die staatliche Behörde, das Konsistorium
. Um dem reformatorischen Gedanken der Beteiligung der
Gemeinde an der Kirchenzucht gerecht zu werden, sah man es
zugleich in gezwungener Konstruktion als Repräsentant der Gemeinde
an. In Wirklichkeit war dieses ganze System zu einer rein
säkularen Angelegenheit geworden und mußte schon im 19. Jahrhundert
aufhören, als der Polizeistaat alten Stiles nicht mehr unmittelbar
dahinter stand.

Im Gegensatz dazu haben die neuen Lebensordnungen eine
ganz andere Grundlage. Sie sind wieder zu der ursprünglichen
reformatorischen Auffassung zurückgekehrt, daß die Reinhaltung
des kirchlichen Lebens ureigene Aufgabe von Amt und Gemeinde
ist, und daß das Ziel nicht Strafe, sondern bessernde Seelsorge
sein muß. Deshalb ist die Leben6ordnung mehr als Kirchenzucht-
recht. Das Kirchenzuchtrecht steht keineswegs im Vordergrund,
obwohl der Begriff in einem besonderen der Kirchenzucht gewidmeten
Unterabschnitt noch vorkommt. Aber dieser Abschnitt
6teht am Ende und ist damit nichts anderes als eine Institution
unter mehreren, die in der Lebensordnung geregelt sind.

Die Lebensordnung handelt, wie schon ihr Name sagt, vom
kirchlichen Leben. Dabei 6teht keineswegs das anormale, der
Kirchenzucht anheimfallende Leben eines fehlbaren Kirchengliedes
im Vordergrund, sondern das normale Leben der Kirchenglieder,
die 6ich zur Kirche halten. Ihre Stellung als Mitglieder der Kirche
ist im einzelnen festgelegt. Es handelt sich dabei nicht nur um
Pflichten, sondern ebenso auch um Rechte der Kirchenmitgliedschaft
. Sie beginnen mit der Taufe, die bereits dem Kinde ein
Recht auf christliche Erziehung und Hineinwachsen in die Gemeinde
gewährt. Dabei muß allerdings zwischen der „Gliedschaft
in der Kirche Jesu Christi", welche die Taufe zunächst allein vermittelt
, und der Mitgliedschaft in einer Kirche als rechtlicher
Körperschaft unterschieden werden. Die Gliedschaft bleibt, die
Mitgliedschaft kann aufgegeben werden oder wechseln, z. B.
wenn ein Kirchenmitglied seinen Wohnsitz in das Gebiet einer
anderen lutherischen Kirche verlegt.

Die zentrale Institution des kirchlichen Lebens ist das Sakrament
des Heiligen Abendmahls. Die Zurückweisung von ihm,
die keineswegs nach außen in Erscheinung zu treten braucht, ist
zugleich das äußerste der Kirche zur Verfügung stehende Mittel

der seelsorgerlichen Zurechtweisung. Die Versagung der Kommunion
nimmt die communio, die Gemeinschaft mit der Gemeinde.
Dabei ist aber zugleich zu bedenken, daß damit kein völliges Zerschneiden
des Bandes zum fehlbaren Kirchenglied erfolgt. Der
Zurückgewiesene bleibt rechtlich Kirchenmitglied. Es erfolgt kein
„großer Bann", der ihn völlig aus der Gemeinschaft ausstößt. Er
ist in den neuen Leben6ordnungen nicht mehr zu finden, während
er früher da und dort geübt worden ist. Wie beim Abendmahl
kann die Kirche auch bei anderen Anlässen, wie z. B. Trauung
oder Beerdigung, ihre Mitwirkung versagen. Es ist jedoch bei
allem diesem Handeln, wie die Lebensordnung immer wieder
einschärft, kein Strafen, sondern ein seelsorgerliches Handeln am
Gestrauchelten einzig und allein Sinn der kirchlichen Maßnahme.

Der 6eel6orgerliche Charakter der Lebensordnungen geht
bereits aus ihrer äußeren Gestalt hervor. Sie unterscheiden sich
von den üblichen Kirchengesetzen dadurch, daß 6ie nicht in
Paragraphen oder Artikel eingeteilt sind, sondern in größeren
Abschnitten da6 Leben der Kirche zu gestalten suchen. Deswegen
enthalten große Teile überhaupt keine Rechtsnormen, sondern
sind rein ermahnend gehalten, ohne an die Nichterfüllung der
Mahnung irgendwelche Rechtsfolgen zu knüpfen. Sie reden in
das Gewissen, ohne zwingen zu wollen.

Das entspricht ihrem Wesen, macht aber ihre Anwendung
im Einzelfall oft recht schwierig. Es ist immer leichter, eine scharf
umrissene Norm zu handhaben, als mit Mahnungen und nicht
normativen Zustands6chiIderungen zu arbeiten, die regelmäßig
dem seelsorgerlichen Ermessen einen weiten Spielraum lassen.
Der erfahrene Seelsorger wird es als glücklich empfinden, daß er
regelmäßig, von einigen ganz klaren Fällen abgesehen, nicht in
ein unübersteigbares Gehege von Rechtsregeln eingezwängt ist.
Aber er wird auch unter der Verantwortung, die ihm damit auferlegt
ist, um so schwerer tragen. Denn vielfach ist die Entscheidung
dem Seelsorger aufgegeben. Zwar ist die Gemeinde weithin
eingeschaltet. Aber das geht nur, 60 lange die Sache offenkundig
ist und das forum externum angeht. Sowie das Beichtsiegel und
damit das forum internum berührt wird, ist das geistliche Amt
allein verantwortlich. Das läßt sich nicht ändern, sondern liegt
zutiefst im Wesen von Beichte und Absolution begründet. Aber
wo das nicht der Fall ist, sind die Lebensordnungen mit Erfolg
bemüht, in echt lutherischer Tradition aus reformatorischer Zeit
Gemeinde und Amt, jede Institution in ihrer Weise, im geistlichen
Raum gemeinsam geistlich wirken zu lassen.

Denn auf die geistliche Wirksamkeit kommt es allein an.
Die Ordnung des kirchlichen Lebens, die so lang von den Zeiten
des Staatskirchentums her in der Hauptsache nur noch vordergründig
als strafende Kirchenzucht in Erscheinung trat, ist nun
wieder ihrer säkularen Bestandteile ledig geworden. Diese haben
sie lange ganz beschwert und echter Kirchlichkeit entfremdet.
Sie haben nun einer wirklich geistlichen Ordnung de« Lebens der
Kirche und ihrer Mitglieder Platz gemacht.

ALLGEMEINES: FESTSCHRIFTEN

Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG).

3., völlig neu bearb. Aufl. in Gemeinschaft mit Hans Frhr. v. Campenhausen
, Erich D i n k 1 e r, Gerhard G1 o e g e und Knud E-
L o g s t r u p hrsg. von Kurt Galling. Band 2: D — G. Tübingen!
Mohr 1958. 1924 Sp. u. XXXIS. 4°. Subskr. je Lfg. DM 4.20.

Viele Artikel sind wert, erwähnt zu werden, was ich hier
auswähle, sind nur Beispiele aus einer reichen Schatzkammer.
„Erlöser" und „Erlösung" beginnen beide in der Religionsgeschichte
und gehen dann zu biblischen Texten, wobei „Erlösung
" eine Analyse des Alten Testaments (H.-J. Kraus) und
eine des Neuen Testaments (P. Vielhauer) enthält. Danach wird
von C. Andresen die Erlösungsfrage in der Dogmengeschichte
behandelt, aber der gewöhnliche Übergang zur systematischen
Der zweite Band von RGG ist ebenso pünktlich wie der Theologie fehlt und die letzte Überschrift heißt nur „Religions-
«ste Band erschienen, ganz nach dem festgesetzten Plan (Be- Philosophisch" (L. Richter in Berlin), stark philosophiege-
"----- J.....«~ n„„j„„ j;___,o-;7. schichtlich bestimmt und von großem Interesse. Lang und inhaltreich
ist „Eschatologie" (39 Spalten), wo Paul Althaus das
Ganze religionsphilosophisch und dogmatisch abrundet.
„Existenzphilosophie" (O. F. Bollnow) und „Existenztheologie"
(K. E. Legstrup) nehmen — vielleicht stärker als sonst in strittigen
Fragen in dieser Auflage von RGG der Fall ist - Stellung
für das behandelte Objekt und gegen die Kritiker, das gilt
besonders dem Artikel von Logstrup (der letztgenannte ist

sprechungen de6 ersten Bandes in dieser Zeitschrift 19*7,
Sp. 909, und 1958 Sp. 499). Der neue Band besteht wie der
vorige aus 21 Lieferungen, diesmal nur in 10 Heften, aber er ist
etwas umfangreicher als der erste, 1924 Spalten statt 1898
Sieben Karten, alle europäisch, und sechs Bildtafeln, darunter
zwei mit Bildern aus Dura-Europos, sind im neuen Band wertvolle
Zusätze zum Text. Gute Benutzungshinweise (S. XXX f-,
erleichtern das Lesen.