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Ausgabe:

1959

Spalte:

370-372

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Neuser, Wilhelm H.

Titel/Untertitel:

Der Ansatz der Theologie Philipp Melanchthons 1959

Rezensent:

Lorenz, Rudolf

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369 Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 5_____370

bekannten Schaffen Melanchthons vorgelegt und der Versuch
unternommen wird, mancherlei Vorurteile in der Melanchthon-
forschung aufzulockern.

Der Aufriß der Untersuchung folgt den vom Verfasser
beobachteten Einschnitten in der Entwicklung Melanchthons:
1525, 1527 und 1530.

In dem einleitenden Abschnitt (1521-1524) wird die Großtat
der Loci von 1521 gewürdigt mit dem für die ganze Reformation
grundlegenden Verständnis der Rechtfertigungslehre als
Lehre von Gesetz und Evangelium, von timor und fiducia, von
mortificatio und vivificatio.

Für die weitere Entwicklung der dogmatischen Arbeit geben
die erschreckenden Erfahrungen mit den Bilderstürmern in Wittenberg
, mit den Bauern und Reichsrittern, also mit dem schwärmerischen
Mißverständnis der Reformation das entscheidende Motiv.
Darum bekommt die Lehre von dem doppelten Weltregiment
Gottes stärkeres Gewicht und drängt die prädestinatianischen
Aussagen zurück, wobei auch 6chon der Gedanke der Gott-
Ebenbildlichkeit des Menschen mitschwingt. Das Leben des
Christen als Buße und die Aufgabe der Predigt, die Schicksalsschläge
Gottes als auferlegtes Christenkreuz zu deuten, werden
Stärker hervorgehoben.

Damit sind aber auch die Stichworte für die weitere Entwicklung
angedeutet. Bis 1527 haben wir in dem Kommentar
zum Kolosser-Brief und den Visitationsartikeln die wichtigsten
Zeugnisse einer sich vollziehenden Wandlung und einer
vertieften Auffassung. Gegen Herlinger, Trillhaas und Neuser
darf diese Wandlung nicht verstanden werden als eine einfache
Rückkehr zu ethizistischen und humanistischen Anschauungen.
Der Humanismus wird von der Theologie in Dienst genommen,
wie auch die Verantwortung der weltlichen Obrigkeit für Wissenschaft
und Kirche tiefer verstanden wird auf Grund der
immer klarer hervortretenden Aufeinanderbezogenheit von actio
dei generalis und der gubernatio dei. Letztlich ist die Verantwortung
für die Freiheit des Evangeliums und das Gebot der
Nächstenliebe, wie Luther es verstanden hat, die Triebkraft für
das duplex regimen Gottes.

Die Entwicklung von 1528 bis 1530 ist 6tark durch die
Hoffnungen auf ein Konzil und die dadurch mögliche Erhaltung
der Einheit der Kirche bestimmt. Die Abwehr der Zwinglianer
und der durch sie heraufbeschworenen Gefahren für das Evangelium
gibt diesem Einheitsbemühen seine Dringlichkeit und
führt zu stärkeren Anknüpfungen an die trinitarische und
christologische Lehrentscheidung der alten Kirche.

In der Apologie angedeutet, aber erst deutlich erkennbar im
Römerbrief-Kommentar von 1532 und in der Loci-Vorlesung
von 1 533 erfolgen die entscheidenden Klärungen, die in den Loci
von 1 5 35 für die ganze Folgezeit wirksam werden. Es ist besonders
die psychologische Klärung der Glaubenserkenntnis und des
HeiUwcges mit der starken Betonung des Gewissens und der
durch die Erlösung wiedergewonnenen Gott-Ebenbildlichkeit des
Menschen auf der einen Seite und das immer stärkere Zurücktreten
des deus absconditus und des Determinismus auf der anderen
Seite, die den neuen theologischen Ansatz bestimmen. Der
Verfasser findet den Vorwurf des Synergismus, den schon die
Zeitgenossen Melanchthons jetzt erhoben, unbegründet und versucht
, die dahingehenden Formulierungen Melanchthons aus
seinem theologischen Zentralanliegen, der Gottesgemeinschaft,
zu verstehen.

Zum methodischen Aufbau der Untersuchung darf angemerkt
werden, daß die Analyse aller einschlägigen Schriften
Melanchthons zwischen 1525 und 1535 — so verdienstvoll sie
im einzelnen ist - bei der bekannten Vorliebe Melanchthons für
gleichbleibende Formulierungen wegen der zahlreichen Wiederholungen
etwas verwirrend wirkt. Man wünschte mitunter, die
einzelnen Gedanken-Linien von Anfang bis zum Ende durchgezogen
zu sehen. Sachlich erscheint uns die zentrale Wertung
der ^radestinarionslehre in den Loci von 1521-1522 überbetont
Uarum wird auch das Zurücktreten dieser Gedanken leicht überbewertet
. Die Darlegungen über die zentrale Bedeutung der
imago dei in nomine, das Bemühen um das Verständnis für die

6ynergistischen Gedanken bei Melanchthon wären bei einer linearen
Behandlung noch deutlicher und darum vielleicht noch überzeugender
geworden. Es ist schade, daß die angekündigte Anmerkung
49 im Apparat fehlt. i

Hannover Friedrich H ü b n e r

N e u s e r, Wilhelm H.: Der Ansatz der Theologie Philipp Melanchthons
. Neukirchen Kr. Moers: Verlag der Buchhandl. d. Erziehungsvereins
Neukirchen Kr. Moers 1957. X, 13 8 S. 8° = Beiträge zur
Geschichte und Lehre der Reformierten Kirche IX, 1. DM 5.75; Lw.
DM 7.50.

Diese Arbeit (es handelt sich um die Dissertation des Verfassers
) versucht den Nachweis, daß der Unterschied der melan-
chthonianischen Theologie von Luther vom ersten Augenblick
der reformatorischen Wirksamkeit Melanchthons an da sei.
Melanchthons theologischer Ansatz sei durch seine philosophische
Einstellung, die er sich als Humanist angeeignet habe, wesentlich
bestimmt. In den Loci von 1521 würden die reformatorischen
Grundgedanken nach humanistischem Vorbild moralisiert. Zwischen
Luther und Melanchthon bestehe eine Einheit in der reformatorischen
Wertung des Wortes und eine philosophisch bedingte
Verschiedenheit in der Aneignung des reformatorischen Zeugnisses
. Zudem 6eien die Loci von 1522 ein bisher nicht beachteter
wichtiger Wendepunkt in der Entwicklung Melanchthons vom
Lutherschüler zur Selbständigkeit.

Dabei mißt Neuser der theologischen Methode Melanchthons
entscheidende Bedeutung bei. Die melanchthonianische
Lokalmethode trage humanistisch - philosophischen Charakter,
ordne das Evangelium in eine ihm nicht wesensgemäße Form ein
und wirke so als Zwangsjacke für die Theologie Melanchthons
. Humanistische Dialektik und Paulinismus verbinden
sich bei Melanchthon — dabei erweise sich aber der exklusive
Paulinismus des Reformators als verborgener Humanismus.

Der Verfasser verfolgt die Entwicklung der loci-commu-
nes-Methode beim frühen Melanchthon. Hier konstruiert er
einen merkwürdigen Zickzack-Weg. Melanchthon strebt ursprünglich
im Sinne der Humanisten nach Besserung der Sitten
durch Erkenntnis und Belehrung. Die loci communes 6eien dementsprechend
in der Rhetorik von 1519 moralische Grundsätze,
welche die Jugend aus der Bibel oder den Schriften der Alten
entnehmen müsse. Unter dem Eindruck der reformatorischen Erkenntnis
Luthers zerschlage Melanchthon im Jahre 1520 in der
Compendiaria dialectices ratio die humanistische, rhetorisch-
dialektische Methode von 1519, indem er den rhetorischen
Grundbegriffen (loci communes) die ethische Wirksamkeit abspreche
und die Dialektik gegenüber der Rhetorik selbständig
mache. In den Loci communes von 1521 aber knüpfe Melanchthon
wieder an die Rhetorik von 1519 an. Die loci communes
theologici hätten die Nachfolge der humanistischen loci communes
angetreten. Sie seien wie jene loci morales.

Das Problem liegt nach Ansicht des Rezensenten in der ausschließlichen
Hervorhebung des ethischen Charakters der loci
communes durch den Verfasser. Der Begriff der loci hat jedoch
auch eine wissenschaftstheoretische Seite, sowohl bei Cicero wie
auch bei Melanchthon, der in den Loci von 1521 nicht von der
ethischen, sondern von der wissenschaftstheoretischen Funktion
des Begriffs ausgeht: Requiri 6olent in singulis artibus loci qui-
dam, quibus artis cuiusque summa comprehenditur, qui scopi
vice, ad quem omnia studia dirigamus, habentur (S. 5, 23 Engelland
). Der Reformator erhebt sogar nachdrücklichen Protest gegen
die ethische Verengung der loci-Methode: Plerique locos virtu-
tum et vitiorum tantum in scripturis requirunt, sed ea obser-
vatio philosophica magis est quam christiana (Loci 1521, S. 8, 4
Engelland). Von der Einschränkung des Begriffs der loci communes
auf das Ethische her achtet Neuser vor allem auf die Abhängigkeit
Melanchthons von der humanistischen Rhetorik, während
Melanchthon selbst sein Werk in den weiteren Zusammenhang
der theologischen Tradition stellt. (Zum Einfluß des Petrus
Lombardus auf die Komposition der Loci vergleiche jetzt
W. Maurer: Zur Komposition der Loci Melanchthons von 1521,
Luther-Jahrbuch 25, 1958, 146—180.)

Neuser führt seine Grundthese, das humanistische und