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Ausgabe:

1959 Nr. 4

Spalte:

286-287

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Königsherrschaft Christi 1959

Rezensent:

Andersen, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 4

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berichten bleibt Plinius unbesprochen. Auf S. 67 hätte Andre
Dupont-Sommer (Apercus 1950) zumindest Erwähnung verdient,
der Begründer der essenischen Herleitung der Qumräntexte, zu
der B. eich schon im Buchtitel bekennt („esserrische Qumrän-
sekte"). Auch anderwärts vermißt man entscheidende Namen,
während man mancherlei Arbeiten bescheidenen Ranges recht
häufig zitiert findet. Aber in diesen Dingen kann man immer
verschiedener Meinung 6ein ... Zu DSM 10, 17 f. fragt B. S. 39:
,,Wie eint sich der hier ausgesprochene Verzicht auf die Vergeltung
mit der sonst proklamierten Verpflichtung zu Haß und
Rache gegenüber den Nicht-Sektierern?" Ich glaube, hier sollte
man mit Dupont-Sommer antworten: Die Rache wird nachgeholt
am Tag der eschatologischen Vergeltung (cf. Kriegsbuch,
AHen etc.).

Im zweiten Band konfrontiert B. den Rigorismus der
Qumräntexte mit dem Rigorismus der synoptischen Jesustradition
— wiederum in dem Dreischritt Toragehorsam, Einzelparä-
nesen, Mensch und Gott. Dabei ergeben sich viele Berührungspunkte
(Toraverschärfung, Schriftbeweis, Buße u. a. m.) und wesentliche
Differenzpunktc (z. B. Gnadenbotschaft, keine Mahnung
zum Torastudium, keine Geheimlehren, keine Ritualvorschriften,
,.wenig Juridik"). Einzelne wichtige Beobachtungen 6eien hier
stichwortartig herausgehoben: Jesus hat sich nicht als Messias
bezeichnet oder verhalten (S. 2; 5 u. ö.). Die drei Antithesen
Mt 5, 22. 28. 34/37 führen nicht über den qumranischen Rigorismus
hinaus (S. 5). Mt 5, 17/19 verrät qumranischen Geist (S. 11).
Der synoptische Jesus fordert nirgends eine „Bekehrung zur
Tora" (S. 17). In Mt 24,26 liegt vielleicht Polemik gegen die
Wüstenemigration vor (S. 53). M 7, 15 geht nicht nur auf rituell
unreine Speisen (S. 65). Die Jesustradition interessiert sich
nicht für Gebetszeiten (S. 69). In Mt 24, 20 („nicht am Sabbath")
erkennt man „die spätere rejudaisierende Bewegung" (S i69).
M 2, 27 ist das älteste Stück der Sabbathkontroverse um das
Ähremraufen (S. 70). Die synoptischen Sabbathheilungen 6ind
halachawidrig, da in keinem Fall akute Lebensgefahr vorliegt
(S. 71). Das jesuanischc Schwurverbot ist total (S. 80 f.). Der
Schriftbewei6 M 10, 5/8 stammt aus der QumTäntradition
(S. 111). Der synoptische Jesus interessiert sich nicht für eherechtlich
verbotene Verwandtschaftsgrade (S. 113).

Das alles ist m. E. völlig richtig. Dagegen scheinen mir andere Thesen
B.s nicht ganz so überzeugend, so z.B.: M 12,31 könnte an sich
gut allgemein-spätjüdisch sein (S. 31). [Hier hat T.W. Manson schärfer
gesehen, dessen oft ausgezeichnete Analysen B. leider nirgends zitiert.]
Der Begriff teleios in Mt 5, 48 geht auf Jesus zurück (S. 43). Die jüdische
Apokalyptik hatte im Gegensatz zu Qumrän und Jesus keine
Naherwarrung (S. 51). Die synoptische Ehehalacha enthält nichts typisch
Jesuani6ches (S. 108). Die Polemik gegen die Unzucht fehlt in den
synoptischen Herrenworten, weil sie (die Polemik) sich von selbst versteht
(S. 109). Mt 19, 12 ist ein echtes Jesuswort (S. 113).

Aber das sind kritische Einzelfragen. Grundsätzlicher sind
meine Vorbehalte gegen die Arbeitsweise und Anlage des Buches.
B. bezeichnet Jesus als „Lehrer, Propheten und Exorzisten" und
betrachtet die Kampfworte gegen die Pharisäer sowie die Hercen-
worte von der Naherwartung und Buße als besonders altertümlich
(S. 2 f.; 9; 32). Die paulinische Anthropologie und Gnadenlehre
6ei mindestens implizit schon in der Botschaft Jesu enthalten
(S. 132'135). Das ist das Jesusbild, das die protestantische
Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen hat
(A. Schweitzer, K. Holl, J. Schniewind, R. Bultmann u.a.). B. übernimmt
dieses Jesusbild — genau so, wie er in formgeschichtlichen
fragen allermeist die Ergebnisse von Bultmanns „Synoptischer
Tradition" übernimmt. Er übernimmt damit die beliebteste Jesusdeutung
und die respektabelste Evangelicnanalyse, die wir heute
haben, ganz gewiß. Aber beide stammen aus der Zeit vor der
Entdeckung der Qumräntexte. Wären Schweitzers Jesusbild und
Bultmanns Traditionsanalyse wohl ebenso ausgefallen, wenn
beide Autoren ihre grundlegenden Werke erst nach 1947 getrieben
hätten? Wäre es nicht eigentlich die Aufgabe unserer
Generation, jenes Jesusbild und diese Evangelienanalyse aufgrund
<?er neuen Quellenkunde ganz neu zu überprüfen — auf die Ge-
|a"r hin, daß wir noch einmal ganz von vorn anfangen müssen?
Dieser Aufgabe unterzieht sich das Braunsche Buch jedenfalls
n i c h t. Es knüpft an, es führt weiter, aber es macht keinen
ne"en Anfang.

B. erklärt Seite 1: „Eine absolute Sicherheit dafür, bei dem von
den Synoptikern Tradierten es mit verba ipsissima Jesu zu tun zu haben
, gibt es nicht." Er spricht darum in seinem Buche mit Vorliebe von
„Jesustradition", „Jesusüberlieferung", „Jesu6bewegung". Das sind behutsame
und kluge Formulierungen, die nicht zu wenig sagen und nicht
zu viel. Aber es sind vage Kategorien. Gibt es wirklich keine Möglichkeit
, über diese unbestimmte Formelsprache hinauszukommen und eine
gewiß nicht absolut sichere, aber doch einigermaßen haltbare Grenzlinie
zu ziehen zwischen der Botschaft Jesu von Nazareth und der Jesusüberlieferung
der Christusgemeinde? Es gibt Leute, denen diese Frage
gleichgültig ist, weil sie glücklich und zufrieden sind mit dem, was sie
für das Kerygma halten. B. spricht (wenn ich richtig behalten habe)
nirgends vom Kerygma. Ihm ist (wenn ich richtig sehe) Je6us von Nazareth
nicht ganz gleichgültig. Darum richte ich jene Frage an ihn.

B. hat im ersten Bande jede Qumränschrift für sich behandelt
. Wie sähe wohl das Endergebnis aus, wenn er im zweiten
Bande jedes Evangelium gleichfalls für sich behandelt hätte? An
Vorarbeiten dazu fehlt es heute nicht mehr (Marxsen, Stendahl,
Conzelmann u. a.). Natürlich achtet auch Braun (genau wie Bultmann
1921) von Fall zu Fall sehr gewissenhaft auf die innersynoptischen
Differenzen. Aber sie kommen bei der summarischen
Darstellung der „Jesusüberlieferung" nicht diakritisch genug zur
Geltung. Bei einer spezifizierenden Behandlung der drei Synoptiker
würde sich vermutlich herausstellen, daß der Prozentsatz
der qumranischen Elemente im ältesten Evangelium am geringsten
ist. Das spricht dafür, daß Jesus von Nazareth der qumranischen
Extrafrömmigkeit recht fern stand. Auf der anderen Seite würde
sich wohl zeigen, daß die Frequenz der Verschärfungsmotive im
Mt weitaus am höchsten ist. Das spricht dafür, daß das Ideal der
Toraverschärfung eine Lieblingsidee de6 Matthäuskreises ist, die
erst nach dem Tode Jesu in der Urgemeinde Fuß gefaßt hat. Das
Gleiche dürfte mutatis mutandis für Schriftbeweis, Toragehorsam
, Kasuistik und alle (!) Juridik, aber auch für Besitzverzicht,
Ehepessimismus und vieles andere gelten. In summa, man muß
m- E. mit der Möglichkeit rechnen, daß die „qumranischen" Motive
der Synoptiker mit Jesus von Nazareth so gut wie nichts zu
tun haben, vielmehr erst auf dem Wege der Rejudaisierung in
die verschiedenen Kreise der Urgemeinde, von da in die verschiedenen
Ströme der Jesusüberlieferung und von da aus wiederum
in die verschiedenen Jesusschriften (Q) und Evangelien (M,
Mt, L, J) gelangt sind.

Die Anmerkungen der beiden Bändchen bieten eine Fülle wertvoller
Beobachtungen und Erörterungen, Belege und Statistiken. Aber
sie sind fürchterlich zu lesen. Wir wissen alle, man kann seine Bücher
heute nicht mehr in der „ungeschützten" Form herausbringen wie einstmals
Johannes Weiß seine Predigt Jesu vom Reiche Gottes, man muß
oder müßte sich auf Schritt und Tritt vorsehen gegen das Heer der
Besserwisser, die ein Leben lang von dem zehren, was sie einmal in
ihrem fünften Semester gelernt und begriffen haben. Aber müssen Anmerkungen
so sein? Die Anm. II 46, 1 z. B. ist 7, 5 Seiten lang. Dann
steht (S. 47) ein Satz von 10. 3 Zeilen, darin 4 Klammerparenthesen,
darunter eine von 7 Zeilen, ferner 6 Verweise auf andere loci operis,
ferner ca. 21 Bibelstellen, 2 hebräische und 11 griechische Termini oder
Wortverbindungen, alles in dem Einen Satz. Und das ist wohl nicht einmal
ein Rekordfall. Kommt hinzu, daß B. erfreulicherweise die vielfach
recht fragwürdige Formel a. a. O. vermeiden will, stattdessen aber bei
jedem Buchzitat auf die Stelle seines Werkes zurückverweist, wo jenes
Buch erstmalig und vollständig zitiert ist. Man muß fürchten, daß nicht
nur die unwillkommenen Leser durch dieses gelehrte Drahtverhau abgeschreckt
werden, und möchte sich darum für die nächste Auflage ein
(numeriertes?) Literaturverzeichnis wünschen und einen Anhang, der
sub titulo Exkurse wenigstens die allerlängsten Anmerkungen in 6ich
aufnehmen könnte.

Erlangen Ethclbert S11 u f 1c r

Schmauch, Werner, u. Ernst Wolf: Königsherrschaft Christi.

Der Christ im Staat. München: Kaiser 1958. 70 S. 8° = Theologische
Existenz heute, hrsg. v. K. G. Steck u. G. Eichholz, N. F.
Nr. 64. DM 4.20.

Dieses Heft enthält die Vorträge von W. Schmauch: „Reich
Gottes und menschliche Existenz nach der Bergpredigt" und
E. Wolf: „Die Königsherrschaft Christi und der Staat", die auf
der Tagung der Kirchlichen Bruderschaften vom 14.—16. Oktober
1957 in Wuppertal gehalten wurden. Beigefügt ist ein Kurzbericht
über die Aussprache und eine Zusammenfassung des Ergebnisses
in Leitsätzen, aus denen dann die ebenfalls abgedruckte