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Ausgabe:

1959 Nr. 4

Spalte:

243-256

Autor/Hrsg.:

Schenke, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Vom Ursprung der Welt 1959

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 4

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gebracht. Das ändert aber nichts daran, daß man bei ihm als
Theologe wie bei wenig Anderen lernen kann, zwischen den gleich
gefährlichen Klippen eines monistischen und eines dualistischen
Denkens den Weg ins Offene zu suchen. Das Offene, auf da6 er in
6einen Analysen und Synthesen hinsteuerte (indem er schon von
ihm herkam!) war aber die Erkenntnis Jesu Christi. Sie ist es, die
bei ihm in dem Maß sichtbar wird, als er sich durch die heilige
Schrift genötigt sah, 6einen Gottesbegriff und seine in diesem
begründete Vorherbestimmungslehre — wenn nicht unsichtbar,
so doch weniger sichtbar zu machen. Man lerne bei ihm — noch
freier und noch folgerichtiger, als er selbst es getan hat — von
diesem Anfang diesem Ziel entgegen zu sehen und entgegen zu
gehen!

Calvin war nicht nur Theologe. Er war es in der notwendigen
Entfaltung des Glaubens, zu dem er sich persönlich erweckt fand.
Er war es aber vor allem und entscheidend in seiner Verantwortlichkeit
im Dienst der Kirche und der der Kirche zugeordneten
Polis, der für ihn in seinem ganzen Umfang mit dem Dienste
Gottes und des Mitmenschen unmittelbar eins war. Er war aber
als Christ, Kirchenmann und Politiker auch ganz und gar Theologe
. Nach der Priorität einer dieser vier Gestalten seiner Existenz
zu fragen, ist müßig. Sicher ist, daß sowohl seine persönliche
Christlichkeit, als auch 6eine kirchliche, als auch seine politische
Haltung durch dasselbe Licht, aber auch durch dieselben Schatten
ausgezeichnet sind — dieselbe Größe, aber auch dieselben Grenzen
sichtbar machen — die seiner Theologie eigentümlich sind.

Vom Ursprung der Welt

Eine titellose gnostische Abhandlung aus dem Funde von Nag-Hamadi*

Von Hans-Martin Schenke, Berlin

Die gnostische Schrift, die im Folgenden erstmalig in einer
Übersetzung vorgelegt wird, stammt aus dem berühmten Funde,
der 1945/46 bei Nag-Hamadi in Oberägypten gemacht wurde.
Damals ist eine ganze, dreizehn in koptischer Sprache geschriebene
Papyrus-Codices umfassende gnostische Bibliothek ans Tageslicht
gekommen. Das bedeutet den Anfang einer neuen Epoche
in der Erforschung jener tiefen, pessimistischen und dualistischen
Weltanschauung und Daseinsdeutung der Spätantike, die wir mit
dem Wort „Gnosis" bezeichnen, sowie ihrer Beziehungen zu dem
entstehenden Christentum1. Unsere Schrift findet sich in dem
dritten Codex nach der Zählung Puechs, an fünfter Stelle hinter
einer Version des Apokryphon Johannis2, dem Thomas-Evangelium
, dem Philippus-Evangelium, einer Schrift mit dem Titel „Das
Wesen der Archonten" und vor einer Schrift mit dem Titel „Die
Exegese über die Seele" und einem weiteren Buche des Thomas.
Veröffentlicht i6t der Text erst seit ganz kurzer Zeit, und zwar
photographisch im ersten und bisher einzigen Bande einer photographischen
Studienausgabe des Koptischen Museums zu Alt-
Kairo3, die alle im Besitze dieses Institutes befindlichen Handschriften
von Nag-Hamadi (d. h. alle bis auf den sog. Codex Jung,
der sich in Zürich befindet) der interessierten Fachwelt schnell
zugänglich machen und neben den längere Zeit in Anspruch
nehmenden wissenschaftlichen Editionen der Texte erscheinen
soll*. Dieser erste Band nun enthält zunächst auf Tafel 1—46 die
im Koptischen Museum zu Kairo befindlichen, zum Codex Jung
gehörenden Blätter bzw. Blattreste. Tafel 5. 6. 9. 10 gehören zum
6og. Evangelium Veritatis, Tafel 1. 2 bieten den Schluß des 60g.
Briefes an Rheginos, einer Schrift, deren richtiger Titel sich auf
Tafel 2 findet und lautet: „Die Abhandlung (Xöyog) über die Auferstehung
(dvaarann)", alle übrigen Tafeln gehören zur sog. Verhandlung
über die drei Naturen, Tafel 3. 4. 7. 8. H-26. 37. 38. 41
bis 44 mit Sicherheit, Tafel 27-36. 39. 40. 45. 46wahrscheinlich*.

*) Nachträglich ist bekannt geworden, daß die vom International
Committee of Gnosticism autorisierte kommentierte Volledition des
Textes durch die Herren Professor Pahor Labib - Kairo und Professor
Alexander Böhlig - Halle bearbeitet wird.

') Vgl. zu dem Funde in dieser Zeitschrift Doresse: Eine neue
Epoche in der Erforschung der Gnosis, ThLZ 74/1949, Sp. 760—762:
sonst vor allem Puech: Les nouveaüx ecrits gnostiques decouvert« en
Haute-figypte, Coptic Studies in Honor of W. E. Crum, Boston 1950,
p. 91—154 und neuerdings Doresse: Les Livres secrets des gnostiques
d'figypte I, Introduction aux ecrits gnostiques coptes decouverts a
Khenoboskion, Paris 1958.

2) Abgekürzt AJ; eine andere Vereion dieser Schrift ist bereits
veröffentlicht worden in Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus
Berolinensis 8502, hrsg. von W. Till, TU 60, Berlin 1955.

*) Pahor Labib: Coptic Gnostic Papyri in the Coptic Museum at
Old Cairo, Volume I, Cairo 19 56; abgekürzt Lab I.

') In einer solchen wissenschaftlichen Edition liegt bislang von
den bei Nag-Hamadi gefundenen Texten nur das sog. Evangelium der
Wahrheit aus dem Codex lung vor; Evangelium Veritatis, ed. Malininc,
Puech, Quispel, Zürich 1956.

5) Vgl. Schenke: Die fehlenden Seiten des sog. Evangeliums der
Wahrheit, ThLZ 83/1958, Sp. 497 f.; zu den Schriften des Codex Jung
z.B. Quispel: Neue Funde zur valentinianischen Gnosis, Zeitschr. f.
Religions- u. Geistesgesch. 6/1954, S. 289—305.

Weiter enthält der erste Band auf Tafel 47—158 den ersten Teil
des dritten Codex von Nag-Hamadi nach der Zählung Puechs,
nämlich das Apokryphon Johannis auf Tafel 47—80, das Thomas-
Evangelium auf Tafel 80—99, das Philippus-Evangelium auf Tafel
99—134, das „Wesen der Archonten" auf Tafel 134—145 und
schließlich unsere titellose Schrift auf Tafel 145—158. Mit der
Veröffentlichung der Übersetzung und Besprechung dieser letzten
titellosen Schrift ist die Artikelserie, in der Leipoldt und ich mit
der freundlichen Unterstützung des Herausgebers dieser Zeitschrift
es unternommen haben, den der koptischen Sprache nicht
kundigen aber auf die neuen Quellen mit Spannung wartenden
Theologen und Religionshistorikern die Texte dieses ersten
Kairenser Photokopienbandes, soweit sie bisher unbekannt waren
und sich für eine Darbietung im Rahmen dieser Zeitschrift eigneten
, möglichst schnell zu erschließen, vorerst beendet'.

Nach diesen etwas weiter ausholenden Bemerkungen, deren
Berechtigung darin liegt, daß mit vorliegendem Aufsatz ein gewisser
Abschluß erreicht ist, wo es gut ist, das Ganze noch einmal
rückblickend zu überschauen, wenden wir uns speziell der
titellosen Schrift wieder zu. Für den Dialekt, in der uns ihr
koptischer Text erhalten ist, gilt das, was bereits für das Thomas-
Evangelium, das „Wesen der Archonten" und das Philippus-
Evangelium an seiner Stelle gesagt worden ist: es ist ein altertümliches
, vorklassisches Sahidisch mit starkem und wechselndem
achmimischen und subachmimischen Dialekteinschlag. Die vielen
griechischen Fremdwörter veranlassen zu der Annahme, daß unser
Text — ebenso wie die meisten anderen literarischen koptischen
Texte — die Übersetzung einer ursprünglich griechisch abgefaßten
Schrift darstellt. Für die Beantwortung der Frage nach ihrer Abfassungszeit
ist der nächstliegende Anhaltspunkt der Schriftduktus
der un6 vorliegenden koptischen Übersetzung, dessen Auswertung
uns allerdings im besten Falle einen terminus post quem
non liefern kann. Puech nimmt an, daß der nach seiner Zählung
dritte Codex um die Mitte des dritten Jahrhunderts geschrieben
sei7. Labib glaubt, alle Codices von Nag-Hamadi der ersten
Hälfte des vierten Jahrhunderts zuweisen zu können8. Alle diese
Datierungen 6ind aber nur geraten, da es, besonders für die eisten
Jahrhunderte der koptischen Zeit, noch keine den Ansprüchen
genügende koptische Paläographie gibt". In Sachen der Datierung
der Handschrift ist also noch so gut wie alles im Fluß. Was das
Werk selbst betrifft, 60 wird man im Hinblick auf bestimmte
Übereinstimmungen und deren besondere Art jedenfalls behaupten
können, daß es älter ist als die Pistis Sophia.

Seiner Form nach ist unser Text eine Abhandlung. Der Verfasser
versteckt sich nicht hinter irgendeiner Autorität der Ver-

') Das Thomas-Evangelium, ThLZ 83/1958, Sp. 481-496; die fehlenden
Seiten des sog. Evangeliums der Wahrheit, ThLZ 83/1953,
Sp. 497—500; das „Wesen der Archonten", ThLZ 83/1958, Sp. 661
—670; das Philippus-Evangelium, ThLZ 84/1959, Sp. 1—26.

7) Les nouveaux ecrits.

8) Lab I, p. 1.

°) Vgl. dazu Till: Bemerkungen zur Erstausgabe des „Evangelium
veritatis", Orientalia 27/1958, p. 286.