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Ausgabe:

1959 Nr. 3

Spalte:

218-221

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Systematische Theologie ; Bd. 2 1959

Rezensent:

Schmidt, Erik

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 3

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zen meine Bedenken bereits ein, obwohl oder gerade weil ich
gleichfalls mit romantischen Gedankengängen sympathisiere.
Man muß aber klar sehen, daß Naturwissenschaft und Naturphilosophie
zwei verschiedene Dinge sind. Begriffe wie etwa
,,Sinn" oder „Wert" haben zwar in der Philosophie, nicht aber
auch in der Wissenschaft Heimatrecht. Entweder interpretiere
ich die Phänomene rein wissenschaftlich, dann behält die teleologische
Deutung bestenfalls regulativen Wert, oder ich halte
die Teleologie für konstitutiv, dann habe ich den Boden des
legitim wissenschaftlichen Denkens auch schon verlassen. Der
folgende, für Müllers Diktion außerordentlich charakteristische
Satz reizt zum Widerspruch: „Auch wenn wir die geschlossene
Naturkausalität... nicht anerkennen ..., 60 wird
doch auch hier an einem letzthin gesetzlichen Charakter des Geschehens
festgehalten" (60). Es ist eine contradictio in adiecto,
von „transphysikalischen" oder transkausalen Gesetzen zu reden
; denn nur das streng Kausale verdient überhaupt den Namen
des Gesetzes. Transkausal heißt auch transgesetzhch.

Ich könnte vielen Aussagen Müllers durchaus zustimmen,
wenn sie ausschließlich philosophisch und nicht auch wissenschaftlich
verstanden 6ein wollten. So erscheint mir z. B. der
Hinweis, daß das Leben als solches noch keinen Wert darstellt,
sondern nur sofern es im Dienst anderer Werte steht, die sich
nicht auf den Nenner der Nützlichkeit bringen lassen, als rein
philosophische These sehr wichtig und bemerkenswert. Damit ist
gesagt, daß das Biologische seinem Sinngehalt nach nur vom Metabiologischen
und Metaphysischen, also Überwissenschaftlichen
her zu verstehen ist. „Die Nutzwerte haben so viel Wert, wie
das Leben wert ist, das sie erhalten" (138).

Mit alldem befinden wir uns aber freilich noch im Vorhof;
denn eingestandenermaßen geht es dem Verfasser zuletzt gar
nicht um philosophische oder gar wissenschaftliche, sondern eben
um theologische Probleme, nämlich, wie ja schon der
Untertitel des Buches erkennen läßt, um die leidige „natürliche"
Theologie oder natürliche Offenbarung. „Alles käme darauf an,
die lebendige Natur als göttliches Schöpfungswerk
wirklich zum Sprechen zu bringen
und ihre Bezeugungen des Göttlichen als der Idee des Guten (siel)
auch wirklich zu verstehen" (66). „Sie (die Natur) allein kann
dem hellhörig Gewordenen, dem tiefgründig Schauenden zu einem
Offenbarungswunder werden, das Kunde gibt von jenem letzten
ontologischen Mysterium, das uns in eindringlichster personaler
Gestalt in Jesus Christus sichtbar wird" (243). Als evangelischer
Theologe kann man dazu wirklich nur sein kompromißloses
Nein sprechen. Müller ist theologisch viel zu versiert, um
nicht selbst zu erkennen, daß er sich damit im Widerspruch befindet
zu allen Voraussetzungen de6 refonnatorischen Denkens
und nicht etwa nur der „dialektischen Theologie". Ein Protestantismus
, der dazu sein Plazet geben würde, müßte sich selbst aufgeben
. Wir Christen haben nicht den Auftrag, „nach neuen
Offenbarungsquellen Umschau zu halten" (13), sondern nur die
andere, uns der einzigen Offenbarungsquelle, die es überhaupt
gibt, der neutestamentlichen, immer und immer wieder zu versichern
; denn der erste Weg führt unabdingbar zu den Götzen
und Dämonen. Müller weiß genau, daß die Annahme seiner Thesen
nur möglich wäre auf Grund der „Absage an die Lehre von
"er radikalen Sündhaftigkeit menschlicher Existenz" (259), also
Von der Ursünde. Aber dieser Lehre abzusagen weigern wir uns
gerade, weil ohne sie das ganze Erlösungswerk Christi sinnlos
erscheinen würde. Mit platonischer Philosophie und mit Goethe
kann man nicht christliche Mission treiben. Das hat man lange
genug versucht, und eben dagegen wendet sich die zeitgenössische
."eologie, soweit sie das Gebot der Stunde begriffen hat DaO
s'e damit Ärgernis erregt, vor allem auch bei den Anhängern der
tneologia naturalis, ist richtig, schadet aber nichts, weil die
evangelische Wahrheit ohne Ärgernis kraftlos bliebe. Das Ke-
rvgnia muß den natürlichen Menschen vor den Kopf stoßen oder
es ist nicht das Kerygma, und je härter, je brutaler es das tut,
Je weniger es also dem Wunsch nach natürlicher Gotteserkenntnis
entgegenkommt, um so zeitgemäßer wird es sein.

Es ist gewiß wahr, daß der Mensch, der in Christus und nur
ihm allein Gott erkannt hat, ihn nachher auch in seinen
erken zu erkennen vermag, aber dann sicher nicht dort oder

nur dort, wo ihn auch der homo religiosus naturalis zu erkennen
meint, also in den handgreiflichen Schönheiten, Erhabenheiten,
Zweckmäßigkeiten, kurz, in der uns zugänglichen Sinnhaftigkeit
der Natur, sondern gerade in ihrer offenkundigen Sinnwidrigkeit,
Grausamkeit und Häßlichkeit, dort, wo sie etwa verwest und
stinkt. Gott aus der Natur erkennen, das würde dann heißen, ihn
erkennen und preisen als den Schöpfer des Behemoth und des
Leviathan, aber eben das können wir niemals, wenn wir ihn nicht
vorher schon in dem Gekreuzigten erkannt haben.

Berlin Erwin Reisner

Seilers, James E.: Five Approadies to the Human Situation.
Theology Today XV, 1959 S. 521—530.

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

T i 11 i c h, Paul: Systematische Theologie. Bd. II. Stuttgart: Evang.

Verlagswerk [1958]. 197 S. 8°. J a £"j( . QJ u?C^

Nunmehr liegt der 2. Band der System. Theologie von
P- Tillich vor. Er enthält das Herz jeder Theologie, die Sündenlehre
und die Christologie (7). In der Einleitung gibt T. die Erläuterung
zu einigen wichtigen Einsichten des 1. Bandes, und
zwar zu der Lehre von Gctt (12 f.), zur analogischen und symbolischen
Struktur der Gotteserkenntnis (15 f.), zum Seinsbegriff
in seinem Bezug auf den Gottesbegriff (17 f.) und zur Methode
der Korrelation (19 f.). Da diese Begriffe im Wesentlichen schon
im 1. Bande entwickelt worden sind, brauchen wir hier nicht
näher auf sie einzugehen. —

Das Studium dieses 2. Bandes des theol. Systems Ts. ist
ein hoher geistiger Genuß. Rez. gesteht, daß es ihm schwer
fällt, über das Werk nüchtern-wissenschaftlich zu referieren
und nicht einen Lobpreis anzustimmen, so begeistert hat ihn
die Lektüre auch dieses 2. Bandes! Man atmet befreit auf: Endlich
wieder eine Theologie, die christozentrisch ist, ohne einem
engherzigen Christomonismus zu verfallen; die strengste kritische
Wissenschaftlichkeit mit positiver Gläubigkeit verbindet;
die im besten Sinne des Wortes modern und doch in der theologischen
und philosophischen Tradition tief verwurzelt istl
Wir bringen zuerst die Grundgedanken des 2. Bandes, um
dann die Frage nach dem Grundcharakter dieser Christologie
zu stellen. —

I. Die Grundgedanken. — 1. Die Entfremdung.
T.s Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen einer essentiellen
und einer existentiellen Ebene der Wirklichkeit (27). Der
Mensch gehört dem essentiellen Sein an und bleibt mit ihm stets
verbunden, aber er ist seinem wahren Sein entfremdet. Der Zustand
der Entfremdung ist die Existenz (52/53). Das Symbol für
diese menschliche Situation, die universal ist, ist der Sündenfall
(35). Der Mensch kann fallen, weil er das Ebenbild Gottes ist,
die endliche Freiheit besitzt (38/39). Gott muß die Sünde zulassen
, weil es sonst keine Freiheit geben würde (70). Der essentielle
Zustand des Menschen vor dem Fall ist der einer „träumenden
Unschuld" (40). Diesen Zustand beendet der Mensch,
indem er seine Freiheit aktualisiert (42). Das göttliche Verbot
setzt dabei schon die Spaltung zwischen Schöpfer und Geschöpf
voraus. Der Sündenfall gehört nicht zur Schöpfung, der Übergang
von der Essenz zur Existenz ist ein unableitbares Faktum (36).
Das Potentielle der Schöpfung wird niemals und nirgendwo aktuell
(51). Wohl sind verwirklichte Schöpfung und entfremdete
Existenz materialiter identisch, aber die Existenz bleibt trotzdem
etwas anderes als die Essenz (52). Der Sündenfall ist auch kein
einzelnes isoliertes Ereignis (39). Des Menschen Freiheit ist ein-
eebettet in ein universales Schicksal. Der Übergang von der
Essenz zur Existenz ist eine universale Qualität des endlichen
Seins überhaupt, kein Ereignis in Raum und Zeit (43. 48). Der
rall des Menschen hat auch nicht die Natur verändert, denn die
Natur ist nicht unschuldig (49/51). Sünde ist existentielle Selbstentfremdung
de6 Menschen. Zerreißung der essentiellen Einheit
mit Gott, Abwendung von Gott oder Unglaube (46. 55/56).
Daß Sünde auch Schicksal ist, hebt ihren Entscheidungs- und
Schulddiarakter nicht auf (54. 68). Durch die Entfremdung wird