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Ausgabe:

1959 Nr. 3

Spalte:

216-218

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller, Armin

Titel/Untertitel:

Bios und Christentum 1959

Rezensent:

Reisner, Erwin

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 3

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er dies Problem wieder auf. Die Offenbarung fordert a) Geheimnis
, b) Zeugnis und c) Geschichte (165). Geheimnis bedeutet
eine Gegebenheit, die dem menschlichen Verstand aus eigener
Kraft nicht zugänglich ist. Da bei Hegel Einheit des „natürlichen"
Bewußtseins mit dem absoluten Geist und jeder Realität besteht,
gibt es für ihn kein Geheimnis. Alle Formen des menschlichen
Wissens sind Momente der wahren Philosophie (166/68). Blondel
dagegen kennt eine 3. Dimension, etwa6 von jedem menschlichen
Erkennen Getrenntes. Gott ist ihm das Ganz-Andere. So hat er
Raum für das Geheimnis (169). — Wissen auf Grund von Zeug-
n i s heißt, daß an die Stelle eigner Kenntnis des Sachverhalts die
Kenntnis des Zeugen tritt. Ein solches Zeugnis ist bei Blond?l
möglich (173). In Hegels Begriffs-Metaphysik aber kann Zeugnis
höchstens Ansporn und Hilfe zu eigener Wissenssuche sein
(174). — Die christlichen Geheimnisse sind geschichtlich kontin-
gent und doch absolut gültig und wahr. Geschichte verlangt
1. ein unableitbares Neues, 2. eine Kontinuität zwischen
dem Alten und dem Neuen, und 3. daß das Neue gültig bleibe
und sich durchhalte (175/76). Bei Hegel ist kein historisches Faktum
unableitbar neu und keines letztgültig, weil alles Historische
mit der Dialektik unlösbar verknüpft ist. Jedes Moment der Dialektik
ist wesenhaft aufhebbar. Das Wahre ist das Ganze. Was
im Absoluten aufbewahrt ist, ist je schon vorhanden gewesen.
Alles ist vom Wesen des Absoluten her errechenbar (177).
Blondel dagegen kennt ein Neues und Unableitbares (178). — So
ist Hegels System mit der Offenbarung unvereinbar. Alle Transzendenz
wird von der Vernunft aufgehoben, aufgesogen (l). Die
Phänomenologie ist pantheistisch. Die Action dagegen ist the-
istisch und führt zur katholischen Offenbarung (6). Das Göttliche
ist für Hegel nur die voll ausgestaltete Wirklichheit der
2. Dimension, die Einheit zweier widersprüchlicher Formalbestimmungen
. Geist ist identitas oppositorum (136). Bei Blondel
dagegen ist das Göttliche ein Jenseits-in-sich-selbst-Stehendes
(147). Die Offenbarung ist für ihn übernatürlich. Sein
System ist für eine geschichtliche Offenbarung Gottes grundsätzlich
offen (156). -

Auch diesen Ausführungen H.s muß widersprochen werden.
H. hat weder verstanden, daß Hegel grundsätzlich von der geschichtlichen
Offenbarung Gottes ausgeht, noch daß Hegels
Gottesbegriff die abstrakten Gegensätze, die er mit Blondel festhalten
möchte, um der Wahrheit willen aufheben muß. Es ist
zwar zuzugeben, daß Hegel über das Geheimnis Gottes mißverständlich
gesprochen hat. In der offenbaren Religion, sagt er
z. B., ist nichts Geheimes mehr an Gött (Werke, XII, 75). Aber
man muß verstehen, wie Hegel das meint. An Gott ist nichts
Geheimes mehr, weil er als Geist offenbar geworden ist und weil
in der absoluten Religion alle Momente der bestimmten Religionen
vollkommen verwirklicht sind. Trotzdem bleibt Gott auch
bei Hegel ein Geheimnis im gewöhnlichen Sinne der Sprache.
Denn der absolute Geist ist wie alles Spekulative ein Mysterium,
das der menschliche Verstand nicht begreift. Hegel hat niemals
behauptet, daß der menschliche Verstand aus eigener Kraft Gott
erkennen könne. Die selbstverständliche und auch oft betonte
Voraussetzung seiner Philosophie ist ja die evangelische Gnaden-
und Rechtfertigungslehre. Gotte6erkenntnis ist nur auf Grund
der Offenbarung Gottes möglich, und die spekulative Philosophie
hat nur die Aufgabe, die in der christlichen Religion vollzogene
Offenbarung begrifflich zu erfassen. Darum schließt Hegels System
auch das Zeugnis nicht aus, sondern ein. Ist doch die Offenbarung
der Zeugen und des Zeugen Jesus Christus seine Voraussetzung
. Wenn aber der Verf. sagt, bei Hegel könne es nichts
geschichtlich Neues geben, so ist zu fragen: Neues — für wen?
Für den Menschen in seiner jeweiligen Situation und für den
Philosophen, der nach Hegel selbst zeitbedingt ist, gibt es Neues.
Für Gott gibt es nichts Neues. Oder will H. behaupten, daß auch
für den absoluten Geist, der doch alles wirkt, in der Geschichte
Neues geschieht? Weiß H. wirklich nichts von Gottes Ideen, in
denen alles sich in der Geschichte Ereignende schon präexistent
ist? Und die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist für Hegel
durchaus etwas Letztgültiges, sonst würde Hegel nicht von einer
absoluten Religion reden. Daß das Wahre das Ganze ist — eine
Einsicht, mit der H. nichts anzufangen weiß —, hebt kein historisches
Moment einfach auf, sondern erhält jedes als ein notwendiges
Moment des Ganzen. — Freilich kann Hegel keine Transzendenz
anerkennen, die dualistisch im Sinne der schlechten Unendlichkeit
dasteht. Aber — den Begriff der wahren Unendlichen
bei Hegel hat H. auch nicht verstanden. Sonst könnte er nicht
den alten Vorwurf des Pantheismus wiederholen, den so viele
Hegel-Forscher schon widerlegt haben. Hegels Gei6t steht über
dem Gegensatz Theismus-Pantheismus. Er hat wohl Raum für
die Transzendenz, auch für eine transzendente Norm, aber nicht
im Sinne einer schlechten Abstraktion. —

Der Verf. schließt mit der These, Hegels Theorie beruhe
auf einer falschen Auslegung der Offenbarungs - Wahrheiten, ja
auf einer konsequenten Weiterführung des protestantischen (f)
Exegeseprinzips (187. 206). Er gibt zu, daß Hegels Anliegen, die
theologischen Einsichten zu Grundprinzipien einer umfassenden
Weltschau zu machen, berechtigt sei. Doch müsse die Philosophie
dann für die Offenbarung wirklich offen 6ein, sowie für ihre
autoritative (!) Auslegung (18 8). — Da der Verf. so viel von
Hegels Vorentscheidungen redet, iet es erlaubt und sind wir berechtigt
, zu fragen, welche Vorentscheidungen denn H. selbst zu
seinem Buche mitgebracht hat? Diese sind sehr deutlich: Es ist
die katholische supranaturalc Auffa66ung von der Offenbarung
. H. hat nicht daran gedacht, seine Theorie von der Offenbarung
unter die Kritik der Hegeischen Dialektik zu stellen,
sondern setzt sie einfach voraus. Offenbarung ist ihm Mitteilung
übernatürlicher Wahrheiten. An dieser dogmatischen
Voraussetzung darf nicht gerüttelt werden. Daß H. von solchen
dogmatischen Prämissen herkommend einen so eminent protestantischen
Denker wie Hegel nicht würdigen kann, ist a priori
klar. Der Verf. hat an mehreren Stellen auch mein Buch über
Hegel zustimmend zitiert (167. 192. 205), aber nur Stellen, in
denen ich Hegel kritisiert habe. Daß ich bei aller Kritik an Hegels
Hamartiologie und Christologie seinen Begriff der wahren
Unendlichkeit und seine Intuition des absoluten Geistes voll und
ganz bejaht und dies auch eingehend begründet habe, erwähnt er
nicht. Die Frage, ob nicht des Apostels Bekenntnis: Von ihm
und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge, inhaltlich mit Hegels
Begriff des absoluten Geistes übereinstimmt, hat H. z. B. nicht
gestellt. Und doch wäre dann sein Urteil über Hegel anders ausgefallen
! — Angesichts dieser dogmatischen Voraussetzungen des
Verf.s, die er nicht begründet, kann sein Buch bei allem Scharfsinn
und bei aller Gelehrsamkeit den Anforderungen strenger
Wissenschaftlichkeit nicht entsprechen. Einen wirklichen Fortschritt
in der Hegel-Interpretation stellt es nicht dar. Denn, so
6agt Hegel, in der Philosophie ist es nicht erlaubt, von Voraussetzungen
auszugehen, die nicht bewiesen werden. Jeder vorausgesetzte
„Anfang" muß im Resultat begründet sein (Werke,
XII, 79). -

Derben/Elbe Erik Schmidt

Müller, Armin: Bios und Christentum. Wege zu einer „natürlichen"
Offenbarung. Stuttgart: Klett [1958]. 280 S. 8°. Lw. DM 14.80.

Von diesem Buch, das zwischen christlichem Glauben und
Biologie eine positive Beziehung herzustellen versucht, wird
man auch dann nur mit Respekt und größter Hochachtung reden
können, wenn man sich mit keinem einzigen seiner Sätze einverstanden
erklärt. Der Verfasser hat sich seine Arbeit jedenfalls
nicht leicht gemacht, sondern auf allen Gebieten gründlich
Umschau gehalten, bevor er ans Werk ging. Dilettantismus kann
ihm weder der Naturwissenschaftler noch der Philosoph noch
auch der Theologe vorwerfen, im Gegenteil: die Literaturhinweise
und Zitate, die eigentlich in den Apparat gehörten, sind
sogar so zahlreich, daß sie die Lesbarkeit des Buches oft fühlbar
beeinträchtigen. Will man der Arbeit wirklich gerecht werden
, wird man sie gesondert nach drei ganz verschiedenen Gesichtpunkten
beurteilen müssen: dem naturwissenschaftlichen,
dem naturphilosophischen und dem theologischen.

Auf dem Feld der Naturwissenschaft, vor allem der Biologie
, ist A. Müller Fachmann. Hier fühle ich mich nicht berufen,
für oder wider irgendwelche seiner Thesen Stellung zu nehmen.
Immerhin überschreiten diese zuweilen die Grenzen der bloßen
Wissenschaft in der Richtung auf eine von Goethe und der Romantik
beeinflußte Naturphilosophie, und an dieser Stelle set-