Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1958 Nr. 2

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

133

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 2

134

der Weise für seine Schöpfung übernimmt. Das verlangt durchaus
nicht eine originale Leistung; in der Art des Meistergesangs
kam es vielmehr darauf an, aus der Fülle vorhandener musikalischer
Elemente, wie sie der mittelalterliche Kirchengesang und
das Volkslied boten, neue Melodien zu formen. Vorbildlose
durchaus originale Weisen sind sehr selten; selbst Luther muß
noch mehr als bisher in der Tradition der Meistersinger verstanden
werden. Dabei ist es bedeutsam, daß die Verwendung „weltlicher
" Melodien erweist, wie wenig man die Welt in einen sakralen
und einen profanen Bereich aufspaltete. Obwohl eine
unbedingte Verbindung von Wort und Ton bei diesem Rückgriff
auf gegebene Melodieelemente nicht die Regel sein konnte
— eine fast einzigartige Ausnahme bildet Luthers „Mitten wir
im Leben sind" —, auch schon durch die Mehrstrophigkeit der
Lieder in Frage gestellt würde, sind „Spuren eines Bestrebens
zur ausgesprochenen Textvertonung" immer wieder festzustellen
. Auch weist die von den ersten Anfängen des evangelischen
Gemeindegesanges spürbare Tendenz zur „eigenen Weise" in
diese Richtung. Kap. 2 „Die Weisen aus dem Umkreis von Wittenberg
" geht 1. auf die Hymnenweisen, 2. auf die Weisen mit
sonstigem' mittelalterlichen geistigen Ursprung, 3. auf die jonischen
Weisen im Oktavraum, die man heute nicht mehr ohne
weiteres als „Luthers Personalstil" anzuerkennen vermag, und
4. die Weisen in Barform und mit Ursprung im Volkslied ein.
Zweierlei macht die innere Einheitlichkeit dieses Melodiengutes
aus: das Bestreben zum Gemeindeliedmäßigen und die Tatsache,
daß diese Weisen um des Wortes Gottes und seiner Verkündigung
willen den Text zur Geltung bringen wollen. So bietet das
reformatorische Lied eine „ungezwungen-natürliche Einheit von
Singen und Sagen". Der Schleier des Anonymen über diesem
Liedgut hebt sich am ehesten im Umkreis Luthers, weil hier die
Liedweisen am stärksten individuelle Prägung gewinnen, doch
läßt sich selbst Luthers eigene Autorschaft an einzelnen Liedern
nicht mit unbedingter Sicherheit erweisen. Nicht aus prinzipieller
Unterschiedlichkeit, sondern nur infolge ihres Umfanges im EKG
sind in einem 3. Kapitel „Die Weisen der böhmisch-mährischen
Brüder, von Straßburg und des Genfer Liedpsalters" zusammengefaßt
. Gegenüber weitverbreiteten Meinungen hält Bl. auch
gegenüber dem Genfer Psalter die Frage nach Vorlagen und Melodiebruchstücken
nach wie vor für berechtigt. Unter dem Gesichtspunkt
der Wort-Tonbezogenheit treten diese Weisen in ein
„eigentümliches Licht", wenn man daran denkt, wie bald sie
übersetzte Texte oder gar ganz andere Texte zu tragen bekamen
. Nur diese Genfer Psalmlieder liefern uns einen tatsächlich
„untrüglichen Beweis für rhythmischen Gemeindegesang", während
sich mit diesem Begriff im Blick auf die lutherischen Gemeinden
der Reformationszeit noch manche Probleme verbinden.
Das 4. Kapitel führt uns „Von Nikolaus Herman bis Philipp Nicolai
", während Kapitel 5 „Die Liedweisen der ersten Hälfte
des 17. Jahrhunderts" behandelt. Hier entstehen zuerst individuelle
Andachtslieder, die als Mittel persönlicher Selbstaus-
spradie auch ohne Weise ihren erbaulichen Zweck erfüllen können
. Ihre Vertonung hängt davon ab, ob sich ein Komponist findet
. Damit trennen sich die Wege des Dichters von denen des
Melodieschöpfers. Eine vom funktionell - harmonischen Denken
bestimmte Melodik verstärkt die klanglich-sinnlichen Elemente
in den Weisen jener Zeit. Der musikalische Ausdruck bekommt
damit ein zunehmendes Gewicht. Andererseits wirkt sich die gestalterische
Kraft neu aufgenommener rhythmischer Elemente
dahin aus, daß viele Melodien in betonter und hervorgehobener
Weise zu reden beginnen. Bl. sieht darin eine interessante
Parallele zur wachsenden Vormachtstellung der Predigt. Zugleich
erhalten die Weisen durch diese Rhythmik, wesentlich vom
Tanzlied der Zeit bestimmt, eine ganz besondere Gemeinde-
Semäßheit. Im 6. Kapitel „Die Liedweisen der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts und des Pietismus" werden zunächst die
isometrischen Weisen behandelt. Während die Isometrik reformatorischer
Weisen diesen einen eigentümlich schwebenden, meditativen
Charakter verleiht, schafft die streng taktgebundene
neue Isometrik eine Affektbetontheit, die diese Melodien vor
allem zum Ausdrucksmittel individueller Empfindung, ja, des Gefühlsüberschwangs
macht. Hier bahnt sich jene Verabsolutierung
des Klanges aru die zur Lösung der Melodie vom Texte führen

mußte und damit „einen folgenschweren Säkularisierungsprozeß
in der musikalischen Geschichte des evangelischen Gesangbuches"
einleitet. Wie schnell diese Tendenz sich ausgewirkt hat, zeigt
die nachfolgende Behandlung von Weisen im Soloarienstil. Der
musikalische Bestand des Freylinghausenschen Gesangbuchs von
1704 und des Köthenschen von 1733 erweist, wie in den Melodien
der persönliche Enthusiasmus neben dem gesungenen
Wort sich eine darüber hinausgehende Ausdrucksform schafft, infolge
deren Wort und Weise auseinanderklaffen. Selbst das gesamte
alte Melodiengut muß sich eine Anpassung an den neuen
Geschmack gefallen lassen. Kapitel 7 „Ausblick" zeigt, wie Aufklärung
und Rationalismus die vorausgegangenen schöpferischen
Perioden radikal beenden. Es beginnt die Zeit, in der man möglichst
viele Lieder auf möglichst wenig Melodien singt. Im Rüde-
Schlag gegen die Nüchternheit einer Epoche, die dementsprechend
auch den Gottesdienst allein auf lehrhafte Abzweckung ausrichtete
, mußte 6ich dann jener romantische Gefühlsüberschwang
Bahn brechen, der, unterstützt von Schleiermachers Theologie,
der Musik unabhängig vom Text eine gottesdienstliche Funktion
zuschreiben wollte, indem sie „die Seele erheben, Gefühle erwecken
und Gesinnungen beleben soll". Ins EKG haben darum
nur zwei Melodien dieser Zeit Aufnahme gefunden. Wir wissen,
wie sich bis heute im christlichen Liedgut außerhalb des Gottesdienstes
dieser Ansprudi der Musik auf die eigenständige Funktion
, neben dem Wort und abgesehen von ihm erweckende Wirkungen
ausüben zu können, auswirkt. Demgegenüber hat die
kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung in einem neuen Singen
ein zunehmendes Verständnis „für das Wesen einer echten
Kirchenliedweise im Sinne der Reformatoren, d. h. des in ihr waltenden
Verhältnisses von Wort und Ton" geweckt. Aber das
darf nicht bedeuten, künftig nur vom Erbe der Väter leben zu
wollen, sondern muß seine Kraft in der Schöpfung neuer gottesdienstlicher
Weisen in einem Gewand unserer Zeit, aber aus dem
Geist der Reformation heraus erweisen müssen. —

Zur Melodie von „Ein feste Burg", die sich der Verf. nur schwer
als von der Gemeinde in ihrer originalen rhythmischen Fassung gesungen
vorstellen kann (S. 68), scheint es mir von Bedeutung, daß eine
plane Fassung der Weise in der Reformationszeit nirgendwo überliefert
lst (vgl. Konrad Ameln, Die älteste Überlieferung der Weise „Ein feste
Burg", in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. 1. Jg. S. 110 ff.).

In dem auf S. 83 zitierten Aufsatz von Pierre Pidoux „Über die
Herkunft der Melodien des Hugenottenpsalters" erscheint es mir außerdem
wichtig, daß er zwar nach wie vor die größte Zahl der Melodien
a's eigens für die Psalmendichtungen komponiert ansieht, aber doch zumindest
dem gregorianischen Choral eine Bedeutung für den Ursprung
von Psalmmelodien zuerkennen muß. —

Einige Druckfehler 6eien berichtigt angemerkt: S. 53, Z. 14 ,,Ge-
hets-"; S. 55, Z. 19 v.u. „Eindruck"; S. 73, Z. 2 v.u. „Musik":
S. 82, Z. 20 „wahrscheinlich"; S. 8 8, Z. 11 es fehlt vor ,,-fert" die Silbe
„lie-"; S. 92, Z. 2 v. u. „Morgenstern"; S. 93, Z. 12 v. u. „Schritt";
S- 104, Z. 17 ,,-trische"; S, 116, Z. 9 v.u. „Erneuerungsbewegung". —

Gerade weil uns Theologen weithin jeder Einblick in die
vom Verf. dargestellten Zusammenhänge fehlt, scheint mir
Grund zu besonderer Dankbarkeit für diesen auch dem musikalischen
Laien verständlichen Abriß. Nicht nur wer in seiner Gemeinde
ein rechtes Singen pflegen will, nein, auch der an Aufgaben
der Kirchen- oder Frömmigkeitsgeschichte arbeitende
Theologe kann an diesem bisher einmaligen Buch kaum vorübergehen
.

Greifswald William Nagel

B r o d d e, Otto: Zur Lage des evangelischen Kirchenmusikerstandes.

Evangelische Welt 11, 1957 S. 625—628.
Hauschild t, Karl: Die Botschaft der Reformation in den Liedern

Paul Gerhardts.

Luther. Mitteilungen der Luthergesellschaft 1957 S. 63—74.

H e u b a c h, Joachim: Die Bedeutung des geistlichen Liedes für die
christliche Jugendunterweisung nach Joh. Arnos Comenius. Zum 500-
jährigen Bestehen der Brüder-Unität.
Theologische Zeitschrift 13, 1957 S. 285—297.

S ö h n g e n, Oskar: Wiedergewonnene Mitte? Die Rolle der Kirchenmusik
in der modernen Musik. Berlin u. Darmstadt: Merseburger
[1956]. 24 S. gr. 8°. DM 2.40.