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Ausgabe:

1958 Nr. 2

Spalte:

118-119

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sentzke, Geert

Titel/Untertitel:

Die Theologie Johann Tobias Becks und ihr Einfluß in Finnland 1958

Rezensent:

Israel, Friedrich

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117 Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 2 118

sung des Problems des urchristlichen Glaubens ist die apokalyp-
ti6ch-eschatologische Naherwartung Jesu (77 f.). Hierbei erfährt
die sog. formgeschichtliche Methode eine scharfe Kritik (52 f.).
Gegen ihre (und auch R. Bultmanns) Skepsis wird die Möglichkeit
einer wissenschaftlichen Erkenntnis des historischen Jesus
betont (64 f.). Die Dogmengeschichte hat somit drei Fragen zu
beantworten: 1. Wie verhält sich Jesus zur spätjüdischen Apo-
kalyptik? 2. Wie ist das apostolische Christentum entstanden?
3. Wie hat sich das altkirchliche Dogma aus dem Urchristentum
auf Grund der Parusieverzögerung entwickeln müssen? (13 f.)

Fragestellung und Durchführung dieses Programms zeigen,
welche große systematische Bedeutung die theologische Lebensarbeit
A. Schweitzers für W. hat. Er verdankt ihr den Grundgedanken
seines Werkes: Der dogmengeschichtliche Prozeß ist
der Prozeß der fortgesetzten Enteschatologisierung des Urchristentums
, die durch das Ausbleiben der Parusie notwendig
wurde. Dieser Prozeß führte zur Auflösung, Umdeutung und
Neuformung aller urchristlichen Lehren. Seine wichtigsten Momente
sind: Die erste Umformung fand schon zu Lebzeiten Jesu
statt (105 f.). Nach Jesu Tode zersetzte sich die urchristliche
Lehre vom Heilswerk Christi sehr bald (18 5 f.). Es kam zum
erbitterten Streit zwischen Paulus und der Urgemeinde über die
Geltung des Gesetzes (106), und zu einer Neubewertung des Gesetzes
(197 f.). Im Zusammenhang mit der Lehre von der Überwindung
der Geistermächte durch Christus und dem Problem des
Schicksals der vorchristlichen Gerechten kommt es zum Dogma
von der Hadesfahrt Christi (23 8 f.). Die Auffassung von der
Person Christi wandelt sich grundlegend, so daß aus dem Messias
- Menschensohn der fleischgewordene göttliche Logos - Christus
wurde (302 f. 512 f.). Es ändert sich die Lehre von der Taufe
(420 f.), von der Eucharistie (447 f.) und vom Wesen der
Kirche (636 f.). Die urchristliche Ethik wird — nicht zu ihrem
Vorteil — umgeprägt (703 f.). Endlich wird die ganze Eschato-
logie verwirrt und ihre Reste werden an das Ende des dogmatischen
Systems gerückt, womit ihre Aktualität aufgehoben
wird (667 f.).

Den völligen Abbruch und Neubau des urchristlichen Lehrgebäudes
im Hellenisierungsprozeß weiß der Verf. 60 eindrucksvoll
zu schildern, daß der interessierte Leser in atemloser Spannung
diesem erschütternden Geistesprozeß folgt. Wir fragen:
Welche neuen, bedeutsamen dogmengeschichtlichen Einsichten
vermittelt uns dies Werk? Wichtig ist die Erkenntnis, daß der
Prozeß der Enteschatologisierung und Hellenisierung bereits im
NT beginnt (160 f.), wobei das Ev. Joh. eine (z.T. verhängnisvolle
!) Rolle spielt (165 f.). Die Kirche will das Apostolische
konservieren und muß es zugleich verneinen — das Dokument
dieses Widerspruchs ist das NT! (175 f.). Den Hebammendienst
im Prozeß der Hellenisierung leistet die Häresie, besonders die
Gnosis (126 f.). Sie nötigt die Kirche, ihre Lehren zu präzisieren
, aber auch umzuwandeln, wobei das, was als häretisch oder
als orthodox gilt, sich beständig verändert. Zuletzt ist die
Kirche (mit Hilfe des Staates!) die erfolgreichste Häresie (138).
Besonders die Begriffe Homousie und Trinität sind der Gnosis
entlehnt (591 f.). — Nicht neu ist die Feststellung, daß der kirchliche
„physische" Erlösungsbegriff etwas ganz anderes ist als
der urchristliche, indem er die Auferstehungsleiblichkeit sakramental
sichern will (420 u. ö.). Aber wie viel klarer wird bei
W. die Bedeutung dieser Wandlung des Erlösungsbegriffs! Nicht
ganz neu ist auch die Erkenntnis, daß das NT eine Engelchristo-
logie vertritt (302 f.), weshalb alle Christologie bis zum 3. Jahrhundert
subordinatianisch sein mußte. Aber welches Licht fällt
bei W. nun auf den Arianismus, der die ursprüngliche Engel-
christologie erhalten wollte! (372 f.). Wie klar zeichnet W. den
Prozeß der Vergottung Jesu: Die neue Erlösungslehre verbindet
sich mit der Logoslehre, scheidet die urchristliche Christologie
aus und mündet in die Dogmen von der Gottheit Christi, der
Trinität und der zwei Naturen in Christus, wobei das urchristliche
Wandlungsschema durch das Zweinaturenschema ersetzt
wird. Wie eindrucksvoll zeigt Verf., daß hier im Grunde zwei
verschiedene Gottesbegriffe, der ursprüngliche (jüdisch-urchristlich
-philosophische) und der gno6tisch-hellenistische (polytheistische
) zu einem widerspruchsvollen Kompromiß verbunden
werden (512 f. 577. 597).

Damit sind wir schon bei der Wertung des ganzen dogmengeschichtlichen
Prozesses angelangt. Der Verf. beurteilt den
Hellenisierungsprozeß im ganzen trotz 6einer inneren Notwendigkeit
und geschichtlichen Folgerichtigkeit als eine Fehlentwicklung
, welche die Kirche in 6chwer heilbare Krisen stürzt (724 f.).
Das Verständnis für Jesus und das Urchristentum wird völlig
verschüttet (175 u. ö.). Die Christologie führt den relativierten
Gottesbegriff der Gnosis und damit die hellenistische Mythologie
in die Kirche ein (517). Während für das Urchristentum, das
den Monotheismus festhielt und den Messias-Menschensohn als
ein hohes Engelwesen verehrte, die Probleme des Verhältnisses
Christi zu Gott und der göttlichen Natur zur menschlichen in
Jesus gar nicht bestanden (311 f.), verstrickt sich die Theologie
in unlösbare Probleme (553 f. 635). — In Einzelfragen ist der
Verf. ebenso kritisch und „neuprotestantisch" wie R. Bultmann.
Die Ungeschichtlichkeit des Dogmas von der Jungfrauengeburt
wird mit den oft angeführten Argumenten erwiesen (352 f.). Die
Auferstehung Christi ist eine visionäre Schau der Jünger gewesen
, die dann (gegen den Widerspruch, der sich gleich anfangs
und auch später meldete) als Auferstehung Jesu gedeutet wurde.
Die Vorstellung von der Auferstehung Christi ist eng mit der
Parusiehoffnung verbunden, wird später aber von ihr gelöst und
als isoliertes Wunder hingestellt (75 u. ö.).

Das Werk, das dem Verf. den D. D. der Foederierten theologischen
Fakultät der Universität Chikago eingetragen hat, hat
schon seit der 1. Auflage in der Fachwelt lebhafte Diskussionen
ausgelöst, ist aber in der breiteren theologischen Öffentlichkeit
noch viel zu wenig beachtet worden. Seit den berühmten Har-
nackschen Querschnitten durch die theologischen Systeme der
alten Kirche ist eine so tiefgründige und scharfsinnige Darstellung
der Entwicklung des altkirchlichen Dogmas nicht mehr erschienen
. Das Werk rührt nicht weniger als R. Bultmanns Ent-
mythologisierungsprogramm an die Fundamente der kirchlichen
Bekenntnisse, fordert daher weit über den Raum der Fachwissenschaft
hinaus zur Stellungnahme heraus. Die systematischen Folgerungen
, die der Verf. bereits in seinem zweiten großen Werk,
».Der protestantische Weg des Glaubens I", andeutet, werden in
Bd. II dieses Buches sicherlich entfaltet werden. Jeder, dem der
Fortschritt der theologischen Erkenntnis am Herzen liegt, muß
daher das besprochene Werk gründlich studieren.

Derben/Elbe Erik Schmidt "

Sentzke, Geert: Die Theologie Johann Tobias Becks und ihr Einfluß
in Finnland. Helsingfors 1957. 275 S. gr. 8° = Schriften der Luther
Agricola Gesellschaft, Band 9.

Einen Gruß aus Finnland an die Kirche der Reformation
nennt Verf., Pfarrer der deutschen Gemeinde in Helsingfors, sein
theologiegeschichtliches Werk. J. T. Beck, 1804—78, von 184^
ab Prof. in Tübingen, war der bedeutendste Vertreter des Biblizismus
im 19. Jhdt. Seiner Theologie hatte Sentzke bereits 1949
einen Band gewidmet (Sehr, der Luther Agricola G., B. 8). Jetzt
fragt er: wie konnte dieser Außenseiter in der Geschichte der
ev. Theologie einen breiten Einfluß in Finnland gewinnen? Die
jüngere Theologengeneration wendet sich wieder dem sonst intim
gehaßten 19. Jhdt. zu. Sentzke, seit 1928 in Finnland, beherrscht
die beiden Landessprachen und entdeckt auch die entlegensten
gedruckten und geschriebenen Quellen, die auf 30 S. Anmerkungen
sprudeln. So ist ein Werk des Forscherfleißes entstanden, der
theologischen Akademie Abo als würdiger Dank für den Ehrendoktor
gewidmet.

Die Einleitung behandelt die finnische Kirche in der 1. Hälfte des
19. Jhdts. Das l.Kap. zeigt, wie die „biblische" Richtung in F. entstand
. Das 2. führt die Beckschüler der ersten Generation vor, den
Pädagogen Alfred Kihlmann, der in Tübingen leiblich und geistlich gesundete
und mit hektografierten Nachschriften von Predigten und Vorlesungen
Beck in seiner Heimat bekannt machte; Lars Stenbäck, auch
als Dichter bekannt; die Pfarrer v. Essen und A. W. Ingmann. Das
3-Kap. ist wohl das Herzstück des Buches: es behandelt den Professor,
späteren Erzbischof Gustaf Johansson, dem Verf. persönlich vertraut,
sonst aus seinen letzten Jahren einseitig als Gegenspieler Natan Söder-
bloms bekannt. Kap. 4 bringt weitere Beckschüler in F. — Kap. 5
faßt zusammen: Der Einfluß des Biblizismus auf die finnische Kirche.
Kap. 6 fragt, wie sich der Biblizismus zu den religiösen Volksbewegungen
in F. stellt. Kap. 7, das ihn als örtlich begrenzte, aber beachtliche
Laienbewegung schildert, hätte gern etwas von den persönlichen