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Ausgabe:

1958

Spalte:

111-114

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Michel, Otto

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Römer 1958

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

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Thcologisdie Literaturzeitung 1958 Nr. 2

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eklektisch begründeten Exegesen jedoch des öfteren nicht folgen
. So wird z. B. die christologische Antithese im ersten Teil
gewonnen, indem die Würdebezeichnungen Davidssohn und
Gottessohn den Bezeichnungen Menschensohn und Herr gegenübergestellt
werden; dabei wird weder die sich aus der religionsgeschichtlichen
Analyse ergebende Vieldeutigkeit dieser Bezeichnungen
noch die Schichtung der Tradition ausreichend beachtet.
Letzteres fällt auch im zweiten Teil auf. Z. B. ist, was auf S. 63 f.
als institutionelle Setzung dargestellt wird, in Wirklichkeit lu-
kanische Theologie.

Dieses exegetische Verfahren steht im Dienste einer Fragestellung
, die mir nicht ganz sachgemäß zu sein scheint. Der Verfasser
sucht nach rein institutionellen und rein ereignishaften
Erscheinungen im Urchristentum; in Wirklichkeit aber eignet
allen echt christlichen Erscheinungen beides. Die judenchristliche
Kirche z. B. war gewiß stärker institutionell als die pau-
linische Heidenkirche, aber sie war es sicher nicht ausschließlich;
in ihr lebte auch ein charismatisches Element, und zwar in höherem
Maße als die Apostelgeschichte erkennen läßt. Nur weil
beide Kirchen charismatisch und institutionell zugleich waren,
waren sie Kirche und nur deshalb war eine Gemeinschaft zwischen
beiden sachlich möglich.

Dies führt auf eine letzte Frage: wird hier die Einheit zwischen
Institution und Ereignis nicht zu sehr statuiert und zu
wenig aus dem Wesen beider abgeleitet? Beide verhalten sich
nach Leuba — das ist ein beachtlicher Ansatz — wie Erfüllung
und Überbietung der Verheißung oder wie der Ausdruck der
Treue und der freien Allgewalt Gottes. Aber es wird nicht ausreichend
sichtbar, daß ersteres auch Ausdruck des Gesetzes und
letzteres auch Ausdruck des Eschatons ist. Das Neue Testament
redet nicht, wie der Verf., von einem „erneuerten" (S. 121 ff.),
sondern von dem neuen Bunde; denn Jesus wurde unter dem
Gesetz gekreuzigtl Bei Leuba fügt sich das Gesetz zu harmlos in
die Heilsgeschichte ein. Deshalb wrrd auch die Auseinandersetzung
über das Gesetz im Urchristentum verharmlost: Zwischen
der Heidenkirche und der Kirche von Jerusalem steht nicht nur,
wie S. 76 f. gesagt wird, die Frage des Ritualgesetzes, sondern
die des Gesetzes überhaupt. Daß die Judenchristen zur Einhaltung
des Gesetzes verpflichtet seien, war nicht, wie S. 71 behauptet
wird, Meinung des Paulus, sondern des Herrnbruders Jakobus.
In beidem folgt der Verfasser zu sehr der unklaren Darstellung
der Apg., zu wenig dem Bericht des Paulus.

Diese Bedenken heben das Ergebnis des Buches nicht auf.
Leuba hat wirklich gezeigt, daß Institution und Ereignis in der
Sicht des Neuen Testaments nicht verschiedene theologische
Auffassungen sind, sondern zwei Seiten des Heilswerkes Gottes,
die eben deshalb als Einheit anzuerkennen sind, weil sie Ausdruck
desselben Gotteswerkes sind. Die Untersuchung zeigt
überzeugend, daß sie zusammengehören — das sollte in der neu-
testamentlichen Forschung und im kirchlichen Gespräch nicht
mehr übersehen werden —, aber sie läßt das Wie unklar.

Die deutsche Übersetzung, die dieses weiterführende Buch
dankenswerterweise einem größeren Leserkreis zugänglich
macht, ist im allgemeinen exakt und zutreffend.

Einige Einzelheiten dürfen dazu angemerkt werden: S. 33, Anm. 87
wäre bei M. W. G. Kuemmel das M. zu streichen und statt ue ü zu
setzen; S. 42, Anm. 30 müßte es statt „übersetzt" heißen „erklärt".
Soll man Wörter wie „Notablen" (S. 71) oder „pejorativ" (S. 93) in
einer Verdeutschung' verwenden und gegen Duden „Apostolat" als
Maskulinum gebrauchen?

Hamburg L. Goppelt

Michel, Otto, Prof. D.: Der Brief an die Römer übersetzt und erklärt
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1955. XVI, 357 S. gr. 8°
= Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament.
4. Abt. 10. Aufl. Lw. DM 25.—.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit B.
Weiß die 9. Auflage der Erklärung des Römerbriefs im Meyer-
schen Kommentarwerk erscheinen ließ. Da auch die wissenschaftlichen
Kommentare von Th. Zahn und H. Lietzmann seit
langer Zeit vergriffen sind, fehlte 6chon lange eine ausreichende
wissenschaftliche Erklärung des Römerbriefs in deutscher Sprache
. E. v. Dobschütz, der die Neubearbeitung des Römerbriefs

für das Meyersche Kommentarwerk übernommen hatte, war vor
Vollendung der Arbeit gestorben; A. Fridrichsen, der die ihm
übertragene Fertigstellung infolge der Kriegsverhältnisse ebenfalls
nicht zu Ende führen konnte, übergab 1940 Otto Michel
die Aufgabe der Vollendung des Werkes. Doch sah sich Michel
trotz der ihm überlassenen Vorarbeiten gezwungen, die Arbeit
völlig neu zu beginnen. Mit Freuden begrüßt man daher nach
so langer Zeit das Erscheinen der Neubearbeitung des unentbehrlichen
Kommentars. Er schließt sich formal andern Neubearbeitungen
innerhalb des Meyerschen Kommentarwerks an, indem
nach einer historischen Einleitung jedem Abschnitt der Übersetzung
eine Analyse folgt, ehe auf die Einzelerklärung eingegangen
wird, und daß mehrere Exkurse theologische Einzelfragen
zusammenfassend erörtern.

Die Einleitung behandelt in 4 Paragraphen die Entstehungsverhältnisse
(Rm. ist Ostern 58 in Korinth geschrieben; es
handelt sich um „Übergang des Predigtwortes in die literarische
Form", die nächsten literarischen Parallelen sind spätjüdische
Trost- und Mahnschreiben), die Gemeindeverhältnisse (die judenchristliche
Gruppe der römischen Gemeinde erhielt durch Zuwanderung
wachsende Unterstützung; in die dadurch entstandene
kritische Situation greift der Brief ein; aus 16, 17 ff. sei
auf antijudaistische Tendenz zu schließen), den Aufbau des
Briefes (Einschnitt nach Kap. 4; Kap. 16 ist nach Rom gerichtet
) und die Geschichte des Briefes (wobei die Erwähnung der
Handschriftengruppen in 2 Sätzen ebenso nutzlos ist wie die
Geschichte der Auslegung von Origenes bis LutheT auf 2 Seiten).

Die Auslegung bemüht sich einerseits um die Bestimmung
des grammatischen Sinnes und die Feststellung der verwerteten
Traditionen, andererseits um die Aufdeckung der theologischen
Bedeutung des Textes. Rabbinische und sektiererisch-jüdische
Texte werden vor allem zur Erklärung neu herangezogen, die
neuere Literatur ist reichlich, aber keineswegs erschöpfend angeführt
. Michel legt bei der Erklärung den Ton besonders darauf
, daß es im ganzen Römerbrief um die Darstellung der escha-
tologischen Gerechtigkeit Gottes geht, und daß insofern Rm. 1,17
wirklich „Thema und Text" des Römerbriefs sind. Die überkommenen
jüdischen und hellenistischen Vorstellungen sind der
Verkündigung von der eschatologischen Heilsgabe Gottes eingeordnet
. Die Auseinandersetzung mit den neueren Kommentaren
wird laufend vollzogen, doch vermißt man ungern bei
wichtigeren exegetischen Entscheidungen die Aufzählung der
Verfechter der sich widersprechenden Auslegungen (wie sie
B. Weiß bot und jetzt wieder O. Kuß bietet), weil nur so eine
allseitige Übersicht über die exegetische Situation möglich ist.
Auffälligerweise ist die Auslegung von Kap. 9 ff. umfassender
als die in der ersten Hälfte des Briefes. Im übrigen bietet der
Kommentar nicht nur reiches exegetisches Material, sondern
weithin eine klare und eindringende Erklärung des Textes, so
daß das Verständnis des schwierigen Textes wirklich gefördert
und dem Benutzer eine Begegnung mit der paulinischen Verkündigung
ermöglicht wird.

Diesen Vorzügen, zu denen auch die klare Ausdrucksweise
gehört, steht freilich ein immer wieder begegnender Mißstand
gegenüber: bei zahlreichen wichtigen Texten wird der Leser zwar
vor da6 Problem geführt, das der Text aufgibt, ihm aber keine
Lösung geboten, und oftmals sind wichtige exegetische Schwierigkeiten
überhaupt nicht berührt. So wird z.B. zu 1, 3f. die Möglichkeit
einer „adoptianischen" Erklärung angeführt, aber über
ihre Richtigkeit nicht entschieden; so wird Bultmanns Begründung
der Annahme einer Interpolation von 6, 17b referiert, aber
weder abgelehnt noch bejaht, und ähnlich wird zu 7, 25b die
Hypothese einer Versumstellung genannt, auch in der Übersetzung
S. 144 befolgt, aber nicht deutlich gebilligt; so wird S. 152,
Anm. 2 und S. 153, Anm. 1 Bultmanns Interpretation von Rm. 7
erwähnt, aber nicht beurteilt usw. Die Problematik der natürlichen
Gesetzeserkenntnis in 2, 14, des Sinnes von 5, 7b und
5, 13b, des Gerichts nach den Werken 2, 9 f., des eigentlich nur
vom Christen auszusagenden Pneumabesitzes 2, 29 fehlt ebenso
wie eine Begründung, warum ndgeaiq in 3,25 von ä(peai<;
unterschieden werden müsse, wie dia biv.aioovvrv in 8, 10 zu
verstehen sei, warum die Auslegung von egovolcu in 13, 1 ff.