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Ausgabe:

1958 Nr. 2

Spalte:

95-104

Autor/Hrsg.:

Richter, Liselotte

Titel/Untertitel:

Existenz und Geschichte bei Sören Kierkegaard 1958

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 2

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anzuwenden und zur Durchsetzung zu bringen, von der wir oben
gesprochen haben. Allmählich trat aber eine Verschiebung des
Motivs ein, so, daß man die technische Seite, die bloße Bewegung
der Hand, für wichtig hielt: der Pfarrer durfte das Sakrament
nicht eigenhändig ergreifen, sondern er mußte es, wie alle anderen
auch, aus der Hand eines zweiten empfangen. Dies ist jedoch
deutlich ein sekundärer Faktor; seine Bedeutung aber wuchs
in gleichem Maße wie es seltener wurde, einen Pfarrer selbst
Wein und Brot beim Abendmahl nehmen zu sehen. So kam es
mit der Zeit dahin, daß diese Formfrage ungebührlich stark
übertrieben wurde. Sie gerade hat den zur Zeit in Finnland aktuellen
Vorschlag veranlaßt, einsame Pfarrer seien bei ihrer
Kommunion von Laien zu bedienen.

Wie zu Anfang gesagt, hat man in den meisten lutherischen
Kirchen dadurch wieder den Pfarrern den Abendmahlstisch für
sie selbst zugänglich gemacht, daß man ihnen das Recht zur
Selbstkommunion wieder einräumte. Der Weg aus der 6oeben
gezeichneten Lage ist ziemlich lang gewesen, der Kampf bisweilen
recht hart. Aber man versteht, es hätte kaum anders sein
können. Die Vorkämpfer der Selbstkommunion verkannten in
der Regel die Motive, die zu ihrer Abschaffung geführt hatten:
die lutherischen Kirchenmänner wollten gewisse lutherische Gedanken
wahren, selbst wenn sie es von einer Position her taten,
die nicht Luthers eigene war, weshalb sie auf falsche Wege gerieten
. Dagegen war es nicht leicht, die Gegner der Selbstkommunion
davon zu überzeugen, daß die herrschenden Verhältnisse
es nicht jedem Pfarrer erlaubten, sich ein berechtigtes
Maß persönlicher Erbauung zu sichern — mehr stand damals
nicht zur Diskussion. Hauptsächlich handelte es sich um Zugeständnisse
des Rechtes zur Selbstkommunion, die von Anfang
an unter der Voraussetzung gegeben wurden, nur ausnahmsweise
und im Notfall zu gelten. Das entsprach aber keineswegs Luthers
Absicht. Glücklicherweise ließen jedoch die Bestimmungen eine
liberale Anwendung zu, zumal allmählich das Verständnis für die
Bedeutung des Abendmahls zunahm und der Pfarrer begriff,
welche Verpflichtung diese Gabe für ihn selbst bedeutete.

Hält man Luthers Auffassung von der Bedeutung des Gottesdienstes
und des Pfarrers in ihm fest, so ist es wichtig, daß diejenigen
Bestimmungen, die das kirchliche Leben regeln, die Möglichkeit
der Selbstkommunion des Liturgen im lutherischen
Gottesdienst nicht in anderer Weise begrenzen, als daß die

Kommunion wirklich zusammen mit der Gemeinde geschehen
muß. Weiß der Pfarrer mit Sicherheit, daß kein anderes Gemeindeglied
das Sakrament in diesem Gottesdienst zu empfangen
gedenkt, so kann er kein Abendmahl halten, da er nicht dazu
berufen ist, sich selbst zu bedienen, sondern andere. Wird dies
in den kirchenrechtlichen und liturgischen Bestimmungen deutlich
verlangt, so kommt ein richtiger lutherischer Grundsatz zur
Geltung.

Eine Frage, die sicher erörtert werden wird und bei der verschiedene
Standpunkte zum Ausdruck kommen werden, ist die,
inwiefern die Selbstkommunion nur dann angewandt werden
darf, wenn kein zweiter amtierender Geistlicher zugegen ist, ob
also die z. B. in Schweden offiziell erlassene Ordnung etwas für
die Art des lutherischen Gottesdienstes Wesentliches ausdrückt.
Man kann nicht leugnen, daß die Forderung nach gegenseitiger
Bedienung zweier Pfarrer eine im Prinzip unwichtige Formfrage
in den Mittelpunkt stellt und im liturgischen Brauch ein Scheinproblem
mit fatalen Komplikationen sanktioniert. Aber mit
dieser Forderung erhebt sich wenigstens kein Hindernis für die
regelmäßige Kommunion des Geistlichen. Daß sich der Liturg
von einem Mithelfer, wo ein solcher auch sonst im Gottesdienst
beteiligt ist, bedienen läßt, ist für eine Kirche wie die lutherische
ganz natürlich, denn die Rücksichtnahme auf die altererbten
Bräuche ist in ihr ja groß. Jedoch eine solche Bestimmung gesetzmäßig
einzuführen hat das Risiko, daß man leicht zu der
Vorstellung kommt, das Abendmahl werde .besser' und .richtiger'
gefeiert, wenn es einem von einem anderen Pfarrer gereicht wird.
Es ist durchaus nötig, daß der Liturg sich dessen bewußt bleibt,
daß seine regelmäßige Teilnahme an der Kommunion seiner Gemeinde
selbstverständlich ist, abgesehen davon, ob er alleine amtiert
oder einen Helfer mit dabei hat.

Die Frage nach dem amtierenden Pfarrer als Abendmahlsgast
im Gottesdienst der lutherischen Kirche ist natürlich keine von
den großen Fragen, sie verdient aber dennoch volle Aufmerksamkeit
, nicht zuletzt in unserer heutigen kirchlichen Lage, in der
es eine der wichtigsten Aufgaben des Pfarrers ist, seiner Gemeinde
den Weg zurück zum Tisch des Herrn zu zeigen. Die
Abendmahlsgemeinschaft als Zentrum des evangelischen Gemeindelebens
ist ein lange unausgenutztes Erbe der lutherischen
Kirche, das wieder lebendig gemacht werden muß, um uns an die
Kraftquellen des biblischen Christentums näher heranzuführen.

Existenz und Geschichte bei Sören Kierkegaard

Von Liselotte Richter, Berlin

Die Arbeit des jungen norwegischen Kierkegaard-Forschers
PerL0nning: „Samtidighedens Situation"1 setzt sich zum
Ziel, die grundlegenden Motive der Christentumsauffassung
Kierkegaards durch eine Analyse seiner Erwähnungen der „Gleichzeitigkeit
" als Situation ethischer und christlicher Stellungnahme
nachzuweisen. Alle biographischen und historischen Gesichtspunkte
werden dem Zweck untergeordnet, Kierkegaards Anschauung
in ihrem sachlich-immanenten Zusammenhang zu verstehen.
Er stellt sich damit bewußt in den Gegensatz zu der Methode,
die Kierkegaards Theologie primär als Ausdruck seiner persönlichen
Entwicklung und Erfahrung ansehen will, wie etwa Geismar
, E. Hirsch u. a. Ebenso aber wird auch die Auffassung H.
Diems abgelehnt, nach der Kierkegaard nicht Verkündiger einer
christlichen Lehre, sondern nur Vertreter einer besonderen dialektischen
Lehre ist. Andererseits hat auch T. Bohlin die Bestimmungen
Kierkegaards zu sehr in ein fertiges dogmatisches
Schema hineininterpretiert. Man muß davon ausgehen, daß
Kierkegaard immer vom und zum existentiellen Sünder spricht.
Wenn man dies bei der Interpretation Kierkegaards vergißt, werden
alle Aussagen unfehlbar Mißinterpretationen werden. Stets
muß man das Schema seiner geistigen Aneignung vor Augen haben
: Die Vergegenwärtigung vergangener Wirklichkeit setzt
ihre Auflösung in Möglichkeit voraus. Die Möglichkeit ist das

*) Lenning, Per: »Samtidighedens Situation«. En Studie i
Soren Kierkegaards kristendomsforstäelse. Mit einer deutschen Zusammenfassung
. Oslo: Forlaget Land og Kirke 1954. VI, 329 S. gr. 8°.

Medium des Verständnisses und der Lehre; sie ist die notwendige
Voraussetzung der intellektuellen Aneignung. Sie ist aber
immer nur existentielle Durchgangssphäre und darf nie als Sphäre
der Objektivität abgeschlossen werden. Jeder Textzusammenhang
muß im Verhältnis zu seiner ganzen Produktion kritisch überdacht
werden. So wurde der Begriff der Gleichzeitigkeit zuerst
im Zusammenhang des existentiellen Werdens und dann im Zusammenhang
des genuin Christlichen untersucht. Der Begriff der
Gleichzeitigkeit wurde von Kierkegaard selbst als „Gedanke
meines Lebens" bezeichnet, und er bestätigt sich in kritischer
Analyse als ein tragender Grundaspekt von der Jahreswende
1842/43 bis zu Kierkegaards Tod sowohl in religiöser wie ethischer
Beziehung.

Die Gleichzeitigkeit wird unter vier verschiedenen Fragestellungen
zunächst untersucht: 1.) Gleichzeitigkeit als Verhältnis zum eigenen
Selbst; 2.) als Verhältnis zu den Begriffen „Wirklichkeit" und „Situation
; 3.) zu den Begriffen „Entscheidung" und „Augenblick"; 4.) zu
den Begriffen „Zeit" und „Ewigkeit". Die meisten Menschen werden
sich in ihrer Religiosität nur in einem Vergangenen „oder Künftigen"
gegenwärtig und bleiben dadurch bei der Erinnerung oder einem abstrakten
Beschluß stehen. Der Übergang vom Möglichen ist immer ein
Sprung. Wie am „Begriff Angst" sichtbar wird, hat Kierkegaard nach
Meinung des Verf.s die „Elastizität des Sprungs" nicht auf eine logisch
eindeutige Weise darzustellen vermocht. Es liegt eine Zweideutigkeit
über Kierkegaards Verständnis der existentiellen Dynamik, die erst
voll beurteilt werden kann, wenn sie in ihrem Verhältnis zu seiner
Christentumsauffassung gesehen wird. Hier kommt der Verf. zu dem
Schluß, daß — in wörtlicher Übersetzung — „Kierkegaards Gleichzeitig-