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Ausgabe:

1958 Nr. 12

Spalte:

876-877

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Popitz, Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Symbolik des menschlichen Leibes 1958

Rezensent:

Rössler, Dietrich

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 12

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ländegewinns noch immer recht isoliert dastände. Die „Konfliktpsychologie
" will von der allgemeinen Psychologie her den
Brückenschlag vollziehen. Besondere Förderung wird für die systematische
Jugend- und Berufsberatung erhofft.

Entscheidend wichtig ist der Einsatz beim Phänomen des Bedürfnisses
, dem nach der Meinung des Verf.s die schuldige Beachtung
noch nicht geschenkt sei. Was von Klages und Lersch

— sie werden von uns hier als Hauptrepräsentanten genannt —
als „Antrieb", „Strebung", „Triebfeder" beschrieben ist, wird
unter dem Aspekt des Bedürfnisses neu durchmustert, mit der
Absicht, möglichst viel des hier schon Erarbeiteten für den neuen
Schlüsselbegriff zu beschlagnahmen. Dabei wird mit relativ leichter
Mühe eine gute Ernte vereinnahmt, weil nur eine neue Akzentuierung
zu geschehen brauchte. In der Selbstverwirklichung, die
der Mensch zu vollziehen hat, werden tatsächlich immerfort auch
Bedürfnisse befriedigt. Sie sind nach L. von der äußeren Erfahrung
her bestimmt, der sie „nachwachsen". Als Ausgangspunkt
gilt: es gibt eine konstitutive Konfliktträchtigkeit des Menschen.
In ideen- und materialreichen Kapiteln wird dann das Ausgangsproblem
umkreist. Dabei dürfte die Durchleuchtung des Motivgewebes
am besten gelungen sein. Die Reduktion der Antriebe
auf e i n Thema nach dem Vorbild von Freud und Adler wird
verworfen; es gäbe grundsätzlich mehrere Letztmotive (120).
An die Frage der Motivation wird folgerichtig die der Realisation
(= Bedürfniserfüllung) angeschlossen. Lehrreich ist hier u. a. der
Katalog des seelisch Unentbehrlichen von Busemann (152). Unter
dem Stichwort „Frustration" wird den Hinderungen der Realisation
nachgespürt; hier begegnet u.a. eine gute Analyse der Situation
der Gefangenschaft. Zwei Kapitel über Regulation (=
Steuerungsfunktionen und -instanzen) und Reduktion (= Spannungslinderung
) beschließen den ersten Teil. Ein besonderer Hinweis
gelte noch der inhaltsreichen Analyse der Angst (226 ff.).

Wenn schon aus diesen Hinweisen hervorgehen dürfte, daß
der Seelsorger, der im Vorwort mit Recht apostrophiert wird,
hier viel lernen kann, 60 gilt dasselbe in erhöhtem Maße vom
zweiten Teil, der die komplexen Konstellationen behandelt. Auch
hier geht der Verf. behutsam voran. Vorangestellt ist ein fast
100 Seiten umfassendes Kapitel über die Normation, das ganz
dem Phänomen des Gewissens gewidmet ist. Aus dem übrigen
reichen Inhalt hier sei nur die Durchleuchtung des Problems der
Autorität hervorgehoben. Nachdem die Grundlagen gelegt sind

— in der Motivation einerseits und der Normation andererseits —,
kann die eigentliche Konfliktenlehre gegeben werden. L. entfaltet
sie in zwei Kapiteln; von ihnen behandelt das erste die Aufgliederung
der Konfliktinitien, das zweite die Phänomenologie
der Konflikte. Zu den Themen hier gehören die menschlichen
Entwicklungs- und Reifungsprozesse, die Erziehungssituation, die
Grunderlebnisse, die Weisen der individuellen Erlebnisverarbeitung
u. a.

Unsere Anerkennung für das Geleistete ist groß. Trotzdem
braucht es an kritischen Fragen nicht zu fehlen. Von ihnen wiegt
diejenige am leichtesten, ob der Überreichtum, der durch einen
soliden Nachschlageapparat gut erschlossen bleibt, nicht mehr
hätte eingedämmt werden müssen. In einer Hochflut psychologischen
Schrifttums hat ein Werk von bald 600 Seiten Großformat
es schwer sich durchzusetzen. U. E. hätte die Diskussion
mit den Mitforschenden gut und gern mehr begrenzt, die Referate
gekürzt und die großen Auszüge aus klassischer Literatur vermieden
werden können, — Schönheitsfehler, über die hinweggesehen
werden kann. In die Diskussion hineingezogen werden
müßte aber wohl Zweierlei, das an die Substanz des Buches
rührt:

1. Die weitgehende Umprägung der Strebungen in Bedürfnisse
, also der Ausgangspunkt und das Leitmotiv der ganzen
Untersuchung, ist u. E. erkauft mit einer zu großen Einbuße an
philosophischer Substanz, speziell der Ontologie und der philosophischen
Anthropologie. Es gehört zur Größe des klassischen
Buches von Philipp Lersch, Aufbau der Person, 1954°, ohne das
Lückert — wie er durchaus weiß — nicht hätte schreiben können,
daß es ein gewichtiger Beitrag zur Ontologie der Person ist.

Gleiches kann man von Lückerts Buch nicht sagen. Wohl weiß er,
„daß Bedürfnis und Wert letztlich auf eine übergreifende Ordnung
des Seins bezogen sind" (435). Aber — ihn interessiert diese
übergreifende Ordnung des Seins nicht, sondern das dem Erlebnis
offene Leben des von den Bedürfnissen bestimmten Menschen
. Der Blick ruht allein auf dem erlebnismäßig Zugänglichen,
nicht der Ontologie menschlichen Seins in übergreifender Ordnung
und Wertung. Manche Äußerungen im Buch deuten darauf
hin, daß der Verf. die Gefahr seiner Einseitigkeit wohl sieht
und ihr entgehen will. Bewältigt aber ist nach unserm Urteil das
Problem nicht. Wer die Psychologie bei ihrer Rückkehr zur Philosophie
begleitet hat, vermißt bei L. die Frage nach dem metaphysischen
Sinn der Bedürftigkeit und einer Antwort auf das
Konfliktproblem von daher. So kann die Frage nach einer Logotherapie
nicht aufkommen, und man versteht den Satz des Vorwortes
, „daß die Arbeiten Sigmund Freuds für alles Folgende
grundständig sind" (7).

2. Die zweite Frage gelte der Behandlung, welche in weiten
Ausführungen das Problem der Wertung erfährt. Die Arbeit an
der Gewissensfrage endete in dem Aufweis, daß einerseits die
Gewissensaussagen unsicher sind, daß aber im Einzelfall das Gewissen
erlebnismäßig als kategorische und abolute Autorität fungiert
. Das gebietet, nach einem Wertmaßstab letzter Instanz zu
suchen; man sieht ohne weiteres ein, daß eine wirksame Konfliktenlehre
seiner bedarf. In den Darlegungen S. 407 ff. fehlt es
an treffenden Ansätzen zur Bewältigung des Problems nicht, zur
Klärung aber ist nicht durchgestoßen. Dem Wahren, Guten und
Schönen wird der unbedingte Wertcharakter zugesprochen (43 3).
R. Ottos Analyse des Heiligen wird genau am entscheidenden
Punkt zitiert: daß das Heilige ein Unableitbares ist, und daß
es zu seinem Offenbarwerden der innerseelischen Bedingungen
bedarf, die aber nie Ursachen und Elemente sein können. L. wird
also der letztinstanzlichen Werte ansichtig. Gehandelt aber wird
von ihm entsprechend seinem Grundeinsatz nur vom Erlebnischarakter
der Werte in ihrer Übereinstimmung mit den Bedürfnissen
. Die religiöse Bindung erfährt hierbei nur eine sehr kurze,
wenn auch warmherzige Erwähnung, ohne daß Folgerungen sich
anschlössen. Hier vor allem liegt die Grenze, vor die im Buch
sich der christliche Seelsorger geführt sieht.

Ein Schüler Freuds, mag er den philosophischen Wandlungen
der Zeit noch so aufgeschlossen folgen, wird gewiß nicht bei
letztinstanzlichen Werten enden können. Aber daß L. durch sie
beunruhigt ist und mit ihnen diskutiert, ehrt ihn. Die Einheit zu
sehen blieb ihm versagt.

Es sei noch angemerkt, daß die Beichte eines Bauern aus
Dostojewskis „Büßer" von 1873 (137) kaum ein damals geschehenes
Ereignis wiedergeben kann. Es handelt sich um eine über
ganz Europa verbreitete Sage. Eine deutsche Fassung findet man
in Friedrich Ranke, Die deutschen Volkssagen, 19242, S. 45.

Rostock Gottfried Holtz

Popitz, Friedrich: Die Symbolik des menschlichen Leibes. Grundzüge
einer ärztlichen Anthropologie. Stuttgart: Hippokratcs Verlag [1956].
192 S. gr. 8°. Lw. DM 18.50.

Das Buch enthält zwei Abhandlungen des 1949 verstorbenen
Arzte6. Ihr Thema ist das für die Medizin so grundsätzlich bedeutsame
Problem von Natur und Geist, von „exakter Wissenschaft
" und anthropologischer Deutung. Ganz unverkennbar
kommt hier aus konkretem ärztlichen Handeln die Erfahrung, daß
das Schema rein naturwissenschaftlicher Kausalität schlechthin
unzureichend bleibt, um den Bereich menschlichen Schicksals zu
erfassen, den wir als Krankheit bezeichnen (18 ff.). Freilich geht
es P. nicht um eine Diskriminierung der naturwissenschaftlichen
Medizin. Ihre Bedeutung bleibt unbestritten. Aber gerade dem
praktischen Arzt zeigen 6ich überall ihre Grenzen.

Ein bemerkenswertes Beispiel dafür findet sich schon in der
ersten Abhandlung „Krankheit als Schicksal." Die Interpretation
einer Scharlach-Erkrankung bei einem Kinde macht deutlich, in
welchem Maße ein 60 alltägliches Krankheitsgeschehen zur Ver-