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Ausgabe:

1958 Nr. 12

Spalte:

870-871

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lais, Hermann

Titel/Untertitel:

Probleme einer zeitgemässen Apologetik 1958

Rezensent:

Schweitzer, Carl Gunther

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 12

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desto weiter entfernt er sich von Gott (S. 62). Diese Ambivalenz
der ratio erklärt sich aus folgendem.

In ,,De votis monasticis" (1521) äußert sich Luther prinzipiell
über die Gotteserkenntnis der Vernunft. Die einzige wirkliche
Gotteserkenntnis des Menschen ist die „negative": er weiß
nicht, was Gott ist, nur was er nicht ist (S. 60). Ebenso
weiß er nicht, was gut ist, wohl aber, was nicht gut ist;
so ist z. B. Unglaube, Mord und Ungehorsam etwas, was der
natürliche Mensch auch als böse verwirft.

Hinter diesem Gedankengang liegt Luthers Überzeugung,
daß das, was evident der Vernunft widerspricht, auch Gott
widerspricht (S. 66). Luthers Wirklichkeitsauffassung zerfällt
dann nicht in zwei Teile, eine Welt des Glaubens und eine des
Wissens. Verf. behandelt dieses Problem nicht in seiner ganzen
Erstreckung, deutet aber die Richtung an, in der es gelöst werden
kann2.

Es gibt also nach Luther keine ungebrochene Kontinuität
zwischen dem alten und dem neuen Menschen. Einerseits muß
die ratio zunichte gemacht, „getötet" werden, andererseits wird
sie „erleuchtet", womit offenbar doch eine Kontinuität in der
Vernunfttätigkeit vorausgesetzt wird (S. 91). Das ist kein Widerspruch
, sagt Lohse. Es liegt Luther daran, daß der Glaube nicht
ohne Relation zu den natürlichen Kräften des empirischen Menschen
ist. Die Erlösung geschieht nicht am Menschen vorbei,
sondern betrifft ihn ganz, auch seine natürlichen Vernunftkräfte
. Aber diese Verwandlung geschieht nicht auf einmal. Die
Spannung zwischen altem und neuem Menschen bleibt bestehen,
60 daß die Vernunft einerseits Feind des Glaubens bleibt
(S. 95 ff.) und andererseits in den Umgestaltungsprozeß einbegriffen
wird, der in der Vollendung, dem lumen gloriae, endet
(S. 98 ff.). Das Fortschreiten in der Heiligung heißt also nicht,
daß die ratio nach und nach vertilgt wird, sondern, daß der „Ich-
willc" der ratio immer mehr getötet wird, so daß der Mensch
seine Blindheit einsieht und von der wahren Weisheit, die
von Gottes Wort ausgeht, erleuchtet wird, d. h. die ratio
erhält eine dienende Funktion auch beim neuen Menschen.
So denkt Luther an diese von Gott erleuchtete, im Christusgehor-
sam vom Ichwillen zu „echter Natürlichkeit" befreite ratio, wenn
er z. B. in seinen Angriffen gegen das Mönchswesen oder in seiner
berühmten Antwort in Worms sich auch auf das gesunde Vernunfturteil
beruft. Was dieser Vernunft widerspricht, ist auch
gegen Gottes Wort (S. 113 ff.).

Man könnte noch ein paar andere Gesichtspunkte hinzufügen
, die in Lohses Ausführungen nicht ganz zu ihrem Recht kommen
. Das für den neuen Menschen Bezeichnende ist ja, daß er sich
nicht als von Gott gelöst betrachtet, sondern dankbar und demütig
alles von Gott als 6einem Schöpfer und Lebensspender entgegennimmt
; die ratio kann dann nicht als eine Kraft betrachtet
werden, über die der Mensch disponiert, sondern die Gott ständig
neu allen Menschen gibt und wofür er geehrt werden will. In
„De servo arbitrio" faßt Luther die selbstherrliche ratio mit der
voluntas im Begriff „liberum arbitrium" zusammen. Eine Philosophie
, die nicht mit Gott als heute wirksamem Schöpfer rechnet,
hält den Menschen für autonom im Gebrauch von Willen und
Vernunft. Wegen dieser Tendenz verwirft Luther die „Philosophie
", nicht weil sie an sich sündig wäre. — Die „erleuchtete"
oder „gesunde" ratio muß in Zusammenhang mit der Wiederherstellung
der Schöpfung gedacht werden. Diese Wiederherstellung
geschieht überall, wo Gott als der Schöpfer wirksam ist, und die
gesunde ratio kann dann nicht „verwirklicht" werden, indem mau
sie mit der ratio des „christlichen" Menschen identifiziert.

Daß Luther nicht antiintellektualistisch denkt, liegt also auf
der Hand: die ratio ist, trotz ihrer „Verfinsterung" und Unfähigkeit
zu erlösender Erkenntnis, Gottes Gabe beim alten wie beim
neuen Menschen, die recht gebraucht im Einklang mit Gottes
Weisheit steht. Ja, in gewisser Hinsicht ist die ratio notwendig
für die Erlösung: Luther hört nie auf zu betonen, daß die ratio

s) Lohse stützt sich u. a. auf die Untersuchung des Lunder Dozenten
B. Hägglund „Theologie und Philosophie bei Luther und in der
occami6tischen Tradition. Luthers Stellung zur Theorie von der doppelten
Wahrheit" (Lunds Universitets Areskrift. N. F. Avd. 1. Bd. 51. Nr. 4,
Lund 1955).

das ist, was den Menschen vom Tier unterscheidet, die rein äußere
Voraussetzung dafür, daß Gott zu ihm sprechen und er Gott gehorchen
und dienen kann. Es ist auch nach Luther kein Zweifel,
daß Christus selbst an die Vernunft des Menschen appellieren
kann, z.B. Luk. 11, 17. Ist die Vernunft Gottes Gabe und nicht
autonome Seelenkraft, so besteht eigentlich kein Gegensatz zwischen
Vernunft und Offenbarung.

Diesem Gegensatz entspricht der zwischen Gesetz und Evangelium
. Einerseits tritt die Vernunft (wie das Gesetz) als Feind
Gottes auf, andererseits steht sie (wie das Gesetz) in Gottes
Dienst. Die ratio wird ebensowenig vertilgt wie die guten Werke,
die das Gesetz befiehlt, weil sie zum Menschen als imago Dei
gehört und die Neu6chöpfung diese imago wiederherstellt.
Die ratio wird „getötet" (ebenso wie das Gesetz), d. h. um neu
aufzuerstehen zu einem Leben in Gehorsam gegenüber Gottes
Stimme. Gott, sein erlösendes Handeln in der ganzen Schöpfung,
seine Güte und Weisheit, sind das Subjekt, nicht Weisheit und
Handeln des Menschen.

Auf den letzten 14 Seiten wird die Funktion der ratio in der
Welt behandelt, und dabei werden viele wichtige und für die
Ethik interessante Beobachtungen mitgeteilt. Sowohl die Theologen
, die fÜT eine rein „natürliche" Ethik, als auch die, die für
eine rein „christliche" Ethik sich auf Luther stützen wollen'1, sollten
diese Seiten in Lohses Abhandlung gründlich studieren.

Es ist nicht so, daß bloß der Christ mit seiner im Glauben
erleuchteten Vernunft Gottes Befehl, über die übrige Schöpfung
zu „regieren", recht erfüllen kann. Auch nach dem Sündenfall
kann der Mensch kraft seiner Vernunft das natürliche Gesetz anwenden
, zwischen recht und unrecht untersdieiden. Aber ist das
Regieren von Gott befohlen, so steht es nicht, wie viele Lutherforscher
meinen, außerhalb des Gottesverhältnisses. Dem Menschen
droht nämlich auch dort ständig die Möglichkeit der Versuchung
und des Mißbrauchs. Trieb, Anmaßung und Dünkel können
ihn versklaven, er kann die Grenzen des Rechts wegen seiner
Unkenntnis alles Rechtes überschreiten. Doch der stärkste Mißbrauch
der ratio äußert sich darin, daß sie überall, wo sie nicht im
Gehorsam des Glaubens steht, sich falsche Ziele setzt und somit
nicht mehr das Geschaffene braucht, sondern es anbetet. Der
Glaube behält darum gegenüber der ratio eine kritische Funktion.
Er entkleidet sie auch im weltlichen Handeln ihrer Selbsthcrrlich-
keit und richtet ihre Tätigkeit weg vom Suchen des eigenen
Wohls hin auf Gott und den Nächsten. Das meint nicht, der
Christ würde im Gegensatz zum Nichtchristen von einem sechsten
Sinn geleitet. Die Liebe der Christen und die Einsicht der reinen
Vernunft liegen auf derselben Ebene: „Äußerlich gesehen sind es
dieselben Werke, die der Christ wie der Nichtchrist tut. Und doch
geschehen sie bei dem Christen aus einem neuen Geist heraus,
weil er selbst ein neuer Mensch ist" (S. 133).

Daß Lohse an dem rein anthropologischen Gesichtspunkt
orientiert ist, verrät sich somit in einer gewissen Betonung der
„christlichen" ratio. Im ganzen gesehen ist das Buch aber — mit
den oben genannten Einschränkungen — die beste Untersuchung
über die ratio bei Luther, die wir zur Zeit haben.

Lud David Löfgren

*) Zum Problem des Verhältnisses zwischen Theologie und Philosophie
in Geschichte und Gegenwart bietet der Lunder Dozent G. Hiller-
dal eine neue Untersuchung (Teologisk och filosofisk etik. Brytningar
och synteser i etikens historia frän antiken tili nutiden, Lund 195 8).

Lais, Hermann: Probleme einer zeitgemäßen Apologetik. Wien: Seelsorger
-Verlag—Herder [1956]. 231 S. 8°. Lw. DM 10.80.

Für den katholischen Leser stellt das Buch eine für
die Gegenwart recht brauchbare moderne Apologetik dar.

Der Verfasser gibt zunächst, was in beiden Kirchen nötig zu
sein scheint, eine Apologie der Apologetik, die er von der
„glaubenbegründenden Fundamentaltheologie" abgrenzt, indem
er sie deren „glaubenverteidigende Funktion" nennt. Nach dem
katholischen Schema umfaßt die Apologetik 1) einen allgemeinreligiösen
Teil (Prä-Apologetik)! 2) einen allgemein-christlichen
Teil; 3) einen spezifisch katholischen, der sich mit ekklesiolo-
gischen Fragen beschäftigt. Warum naturphilosophische Probleme