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Ausgabe:

1958 Nr. 12

Spalte:

867-870

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lohse, Bernhard

Titel/Untertitel:

Ratio und fides 1958

Rezensent:

Löfgren, David

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867

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 12

868

Beispiele bietet. Am deutlichsten wird der heidnische Wahn am
Schicksal des David Jores : Als die Basler Behörde zwei Jahre
nach seinem Tode erfährt, daß dieser vermeintlich brave Bürger
in Wirklichkeit zu den niederländischen Taufgesinnten gehörte,
läßt sie seinen Leichnam ausgraben und vor den Toren der Stadt
verbrennen (wie es einst mit Wiclif geschah).

Schade, daß für die beiden letzten Kapitel: Stimmen aus
der römisch-katholischen und aus der morgenländisch-orthodoxen
Kirche nur noch ein geringer Raum übrigbleibt. Man hätte aus
der römischen Kirche gern auch Stimmen über die innere Erneuerung
dieser Kirche gehört, z. B. durch Borromeo. Das Selbstbewußtsein
der orthodoxen Kirche auf russischem Boden kommt
prächtig zum Ausdruck in einem Briefe des Mönches Philo-
t h e o s : „Denn wisse, Christliebender und Gottliebender, daß
alle christlichen Kaisertümer zu Ende gekommen und in das einzige
Kaisertum unseres Herrschers eingegangen sind, gemäß den
prophetischen Büchern! Das ist das russische Kaisertum. Denn
zwei Rom sind gefallen; aber das dritte steht, und ein viertes
wird es nicht geben." Der Herausgeber sagt dazu in einer Fußnote
, Philotheos habe wohl mit einer Weltaera gerechnet, nach
der für Moskau ein tausendjähriges Reich vorgesehen war, und
danach käme das Weltende: also ein russisches Millenium am
Ende der Tage.

Wir danken dem grundgelehrten Verfasser für diese neue
reiche Gabe. Wir haben noch besonders zu danken für die Mühe
und Sorgfalt, mit der er alle Bibelstellen, auch solche, auf die
nur eben angespielt wird, nachgesehen und verzeichnet hat. Das
konnte nur der leisten, der eine ungewöhnliche Bibelkenntnis
besitzt.

Hannover Hermann Schuster

Lohse, Bernhard: Ratio und Fides. Eine Untersuchung über die ratio
in der Theologie Luthers. Göttingen: VanJenhoeck & Ruprecht 195S.
141 S. gr. 8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
Bd. 8. DM 13.50.

In seiner Hamburger Habilitationsschrift (1957) liefert B.
Lohse einen gewichtigen Beitrag für das Verständnis von Luthers
Auffassung des menschlichen Erkenntnisvermögens. Auf bloß
141 Seiten steht mehr als gewöhnlich in modernen Lutherbüchern.
Stilistisch konzentriert und streng an das Thema gebunden zerfällt
die Abhandlung in zwei Teile, zunächst „Luthers Auffassung
von der ratio in ihrem Werden" und dann „Luthers Auffassung
von der ratio in systematischem Zusammenhang". Dieses methodische
Verfahren macht zwar gewisse Wiederholungen unvermeidbar
, erweist sich aber im ganzen als sehr fruchtbar. Man erhält
nicht nur ein Bild von der Entwicklung des jungen Luther, ausgehend
von den scholastischen Lehrautoritäten, es wird ebenso
der organische Zusammenhang im Denken des jungen und des
alten Luther vor Augen geführt wie auch die Funktion der ratio
in Luthers Gesamtanschauung.

Verf. stellt zunächst fest, daß Luther scheinbar sich widersprechende
Aussagen über das menschliche Erkenntnisvermögen
macht. Einerseits ist die ratio total blind, anderseits ist sie Gottes
größtes Geschenk. Die frühere Lutherforschung hat diesen Gegensatz
darauf zurückführen wollen, daß Luther einen Unterschied
machte zwischen dem ganz durch die fides bestimmten Gottesverhältnis
des Menschen und seinem durch die ratio bestimmten
Weltverhältnis. Dagegen zeigt Verf. in (freilich sehr kritischem)
Anschluß an K. Stürmers „Gottesgerechtigkeit und Gottesweisheit
bei Martin Luther" (Theol. Diss. Heidelberg 1939), daß die ratio
nicht allein in Luthers Anthropologie, sondern auch in seiner
Soteriologie eine entscheidende Rolle spielt.

In den frühen Randbemerkungen zu Augustin und Petrus
Lombardus kommt Luther zu neuen Fragestellungen hinsichtlich
der im übrigen noch occamistisch verstandenen ratio. Der eigentliche
Neuansatz findet sich dann in der 1. Psalmenvorlesung
(1513—1515). Hier greift Luther die scholastische Lehre von der
Syntheresis auf, einem dem Menschen einwohnenden vom Fall
unberührten Substanzteil, der bei Luther nicht nur Vernunft, sondern
auch Willen berührt. Luther ist kritischer als die Scholastik:
Der Mensch hat zwar von Natur ein Streben nach dem Wahren
und Guten, aber er kann dieses nicht selbst verwirklichen
, da er in allem nur sich selbst sucht. Das bedeutet in bezug
auf die ratio — entsprechend bei der voluntas —, daß der Mensch
durch seine Vernunft Gott in der Schöpfung zu erkennen strebt,
während Gott in der Christusoffenbarung erkannt werden will
(S. 33). Gott als das höchste Gut und die höchste Wahrheit ist
dem Menschen nicht zugänglich, es sei denn, seine ratio — wieder
in Parallele zur voluntas — würde vom Hl. Geist belehrt oder
erleuchtet.

Lohse macht die interessante Beobachtung, daß diese Auf fassung
von der ratio (als an sich „blind" gegenüber der Offenbarungswahrheit
) in unmittelbarem Zusammenhang mit dem
neuen Verständnis der Justitia Dei als Gottes Tat steht. Dies bekräftigt
dann Vogelsangs Meinung, das neue Verständnis der Justitia
Dei werde von den Scholien zum Psalm 70 an erkennbar.
In der 1. Psalmenvorlesung ist eine „Akzentverlagerung" (nach
Jetter) unübersehbar! (S. 3 5, Anm. 2) Damit hat sich Lohse in
dieser Frage auf die Seite der überwiegenden Majorität der modernen
Lutherforscher gestellt1.

Das neue Verständnis der Justitia Dei betrifft also auch die
ratio, aber die Konsequenzen daraus zieht Luther nicht auf einmal
, sie zeigen sich erst nach und nach. Ein erster Schritt ist die
Gleichsetzung aller menschlichen Weisheit mit Torheit vor Gott
(S. 37). Die ratio tritt jetzt als Feind der fides auf und muß „getötet
" werden, damit die fides leben kann (S. 40). Aber im Glauben
— hier noch: unter der Voraussetzung der humilitas — bekommt
der Mensch auch eine neue Vernunft, die nicht mehr vom
Eigenwillen bestimmt ist, sondern — erleuchtet vom Hl. Geist —
neue Aufgaben erhält und Gottes Offenbarung voll erkennt
(S. 43).

In den Vorlesungen über den Römerbrief, Galaterbrief (I)
und Hebräerbrief (1515—1518) kommt die endgültige Ausformung
von Luthers Verständnis der ratio klar und immer mehr
vertieft zum Ausdruck (S. 43 ff.). Die von Gott gegebene natürliche
Gotteserkenntnis der Heiden ist kein Erlösungsweg, sie
macht nur „unentschuldbar" (S. 45). Auch durch das im Geist des
Menschen eingepflanzte natürliche Gesetz und durch diesem entsprechende
sittliche Handlungen kommt die ratio nicht weiter.
Denn die neuen anthropologischen Kategorien „Fleisch-Geist",
die auf diesem vertieften Verständnis der Sünde (= Macht) beruhen
und jetzt immer mehr hervortreten, verweisen die ratio
wie den natürlichen Willen klar auf die Seite des „Fleisches", das
erst „getötet" werden muß, damit der neue Mensch qua fides
Gott den Schöpfer erkennen und qua ratio illuminata ihm frei
dienen kann (S. 47 und 51 f.).

In der Römerbriefvorlesung ist es interessant zu beobachten
, wie konsequent Luther die eigene Gerechtigkeit und die
eigene Weisheit als Feinde Gottes gleichsetzt. Allein die fides
vermag Gottes Gerechtigkeit und Weisheit zu empfangen (S. 48
—51). Anstelle des in der Psalmenvorlesung gebrauchten Wortes
„intelligere" wird nun das Wort „audire" zum Schlüsselwort,
und die „humilitas" (= wissen, daß man vor Gott nichts weiß)
wird nun nicht mehr als eine Qualität beim Menschen gedacht,
sondern als ein Werk Gottes durch den Glauben (S. 50). Dieses
Verständnis der Tatio hat Luther nach Lohse sein ganzes Leben
hindurch beibehalten. Was später hinzukommt, berührt nur Einzelheiten
und verändert die Grundauffassung nicht.

Im systematischen Teil der Arbeit wird nun dieser ratio-Be-
griff Luthers im einzelnen entwickelt, hauptsächlich im Anschluß
an Schriften nach 1520. Da es zu weit führen würde, all die wertvollen
Gesichtspunkte darin darzulegen, mögen einige Hauptgedanken
genügen. Positive Aussagen über die ratio stehen
reben negativen: Die Vernuftbegabtheit gehört zur Eigenart des
Menschen als solchem, er weiß, daß Gott ist, daß er Himmel
und Erde geschaffen hat (S. 59), er kennt Gottes Gebot (S. 60).
Aber, daß Gott ein Helfer in der Not ist, weiß der Mensch nicht
(S. 61), und je mehr er sich auf seine eigene Weisheit verläßt.

*) Jüngst ist E. Bizer (Fides ex auditu, 19 58) zum genau entgegengesetzten
Resultat gekommen: erst nach dem Ablaßstreit, also um 1519,
breche bei Luther die neue Sicht der Justitia Dei durdi, im Zusammenhang
mit einem neuen Verständnis des verkündigten Wortes als der
Austeilung der Sündenvergebung.