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Ausgabe:

1958 Nr. 12

Spalte:

863-865

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Marlet, Michael

Titel/Untertitel:

Grundlinien der kalvinistischen "Philosophie der Gesetzesidee" als christlicher Transzendentalphilosophie 1958

Rezensent:

Wiesner, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 12

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Nietzsche und Karl Marx. Hier wird, wie mich dünkt, überzeugend
nachgewiesen, daß die berühmte Formel, die Religion sei
Opium für das Volk, auf Heinrich Heine zurückgeht.

Wenn übrigens Nietzsche die nachträgliche Theologisierung
Jesu eine „Lüge" nennt, die Jünger wegen dieser Ilmdeutung
„unredliche Betrüger" schilt, den Apostel Paulus einen „verlogenen
Falschmünzer" nennt, so beweist er damit, daß es ihm in
ßeiner Leidenschaft an dem historischen Sinn fehlt, der solche
Umdeutungen zu begreifen vermag.

Das Pathos und das relative Recht der Christentumskritik
bei Nietzsche dürfte darin liegen, daß er ein gar zu verbürgerlichtes
, gar zu bequemes Christentum vorfand in der Kirche seiner
Tage. Er bewunderte an der Gestalt Jesu, daß hier Lehre und Leben
übereinstimmte, daß er lebte, was er lehrte. Und diese Übereinstimmung
vermißte er in dem landläufigen Christentum seiner
Tage; es empörte ihn, daß dieser schreiende Widerspruch überhaupt
nicht beachtet wurde. „Die Kirche des endenden 19. Jahrhunderts
, die die Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch, Kirche
Jesu Christi zu sein, und ihrer fragwürdigen Wirklichkeit übersah
, war ohne Zweifel an Nietzsche mit schuld. In einer Zeit, in
der in der Kirche der prophetische Geist der Selbstprüfung erlahmte
, mußte der Antichrist Nietzsche das Amt des Propheten
übernehmen." „Nietzsches positive Bedeutung für die Kirche und
gerade für das gegenwärtige Christentum liegt darin, daß er die
Kirche nachdrücklich auf diese Diskrepanz hingewiesen hat und
immer wieder hinweist und sie vor die Frage stellt, die die ewige
Frage der christlichen Buße ist: bist du so, wie du vor Gott sein
sollst und wie du zu sein beanspruchst?" (S. 175).

Benz läßt aber keinen Zweifel daran, daß Nietzsches eigene
Darstellung von dem Erlöser Jesus nicht positiv gemeint ist:
„Nietzsche hat mit seiner .Befreiung' der Gestalt Jesu vom Dogma
der Kirche nur die Absicht einer reineren Erfassung des Typus.
Der Typus selbst aber wird von ihm nicht positiv bewertet, sondern
als Gegentypus empfunden und abgelehnt. .. Gerade die
befreite Gestalt Jesu erscheint ihm als das Gegenbild des Übermenschen
im eigentlichen Sinne" (S. 173). Trotzdem urteilt Benz:
„Nietzsche hat die Kirche vor die Forderung einer neuen Verwirklichung
des Evangeliums gestellt. Er verlangt vom Christen
nicht die theoretische Aneignung einer Summe von historischen
Glaubenslehren und einer Gesinnung, deren Inhalt — am Maßstab
der historischen Kritik gemessen — ein Anachronismus ist,
sondern die Verwirklichung einer christlichen
Lebenshaitun g".

Hannover Hermann Schu s t er

Marl et, Michael Fr. J., Dr. S. J.: Grundlinien der kalvinistischen
„Philosophie der Gesetzesidee" als christlicher Transzendentalphilosophie
. München: Karl Zink 1954. VII, 136 S. gr. 8° = Münchener
theol. Studien 2, 8. DM 12.—.

Es ist schon ein Verdienst des katholischen Verf.s, daß er
durch seine Schrift die deutsche Wissenschaft mit einer beachtlichen
evangelisch-theologischen Richtung und ihrer Arbeit an
der Freien Amsterdamer Universität bekannt macht, von der
unsere Theologie bisher noch keine Kenntnis genommen hat, geschweige
denn, daß es schon zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung
gekommen wäre. Es geht hier um die von der „gereformeer-
den" Freikirche Hollands getragene, wesentlich von Abraham
Kuyper inaugurierte theologische Arbeit, die seit den dreißiger
Jahren unseres Jahrhunderts vor allem durch Dooyeweerd und
Vollenhoven zu bedeutenden Werken geführt hat. Wie die Freie
Amsterdamer Universität überhaupt sich die Aufgabe einer refor-
miert-christlichen Wissenschaft gestellt hat, so haben Dooyeweerd
und seine Freunde den Versuch einer „christlichen Philosophie"
unternommen, die sich bewußt in Gegensatz zur modernen „autonomen
" Immanenzphilosophie, ja auch zu jeder Theologie weiß,
die mit dieser eine Synthese eingeht. Diese „christliche" Philosophie
gründet sich auf die Wortoffenbarung in Christus, lehnt
jedes Sidi6tützen auf die ratio naturalis als selbstgenügsamen
archimedischen Punkt ab und will die Wiedergeburt des Denkens
aus der lebendigen Kraft des Wortes Gottes darstellen, wie es
vornehmlich durch Calvin herausgestellt ist. Sie setzt der „Logoshypostase
" der Immanenzphilosophie die christliche „Gesetzesidee
" entgegen und bezeichnet sich darum als „Philosophie der
Gesetze6idee". Das Gesetz Gottes setzt die Grenze zwischen dem
Schöpfer und dem Kosmos und ist der Ausdruck der unmittelbaren
Souveränität Gottes über alles Geschaffene sowie des
Königtums Christi. Es ist die Antwort auf die Frage der Philosophie
nach der „Sinnganzheit des Kosmos". Die „Philosophie der
Gesetzesidee" geht im Anschluß an den Anfang von Calvins In-
stitutio von der menschlichen Selbsterkenntnis in Wechselbeziehung
zur Gotteserkenntnis aus und findet die „apriorische Sinnstruktur
unseres Kosmos" in der Bezogenheit alles Geschaffenen
auf seinen Ursprung im Schöpfer, wie er dem individuellen zeitlichen
Selbst im Hören des Wortes Gottes sich erschließt. Die
kreatürliche Existenz des Menschen ist wiederum der Vollsinn
des zeitlichen Kosmos, konzentriert in seiner perspektivischen
Struktur als der Einheit des perspektivischen Sachverhalts der
empirischen Wirklichkeit und der Perspektive der göttlichen
Offenbarung (S. 40). Der thomistische Natur-Gnade-Dualismus
wird um dieser Einheit willen ebenso abgelehnt wie der lutherische
Dualismus von Gesetz und Evangelium und die damit verbundene
Zweireichelehre. Die im göttlichen Gesetz als souveränem
Schöpferwillen beschlossene Sinnganzheit des Kosmos differenziert
sich nach dieser calvinistischen Philosophie in eine
zusammenhängende Ordnung von Wirklichkeitsaspekten, die
ihre Sinnmodalitäten sind. Ihr entspricht auf der Subjektseite
die in Christus wiedergeborene „Wurzelgemeinschaft" der
Menschheit und das Herz des Menschen als religiöse Mitte, die
daran teil hat. So baut die „christliche Philosophie" von dem in
Christus offenbarten und erfüllten Gottesgesetz aus ein System
von Wirklichkeitsstrukturen auf, das sowohl der Zeitlichkeit
wie der Individualität menschlich-kreatürlicher Existenz gerecht
zu werden sucht.

Auf die sehr komprimierte Darstellung der Philosophie der
Gesetzesidee, deren Richtigkeit von Dooyeweerd selbst in seinem
Geleitwort zu dieser Schrift ausdrücklich anerkannt wird,
skizziert der Verf. ihre Abgrenzung gegen den Thomismus als
einer Synthesephilosophie mit dem antik-autonomen Weltverständnis
, das wiederum die theologischen Gehalte umformt.
Das entscheidende Anliegen des Verf.s ist aber der Nachweis,
daß diese Abgrenzung der „christlichen Philosophie" gegen das
thomistische System auf einem Mißverständnis beruht und daß
die Philosophie der Gesetzesidee mit der thomistisch-kirchlichen
Lehre im Grunde identisch ist. Um dies nachzuweisen, gibt er,
ausgehend von den lehramtlichen Entscheidungen seit dem
Vatikanum bis zur Encyklika Humani generis, eine Darstellung
der Deutung, die das thomistische System in der neuesten katholischen
Theologie bei de Lubac, Gilson, Blondel, Gabriel Marcel,
K. Rahner, Urs von Balthasar u. a. findet, in der einmal die gegenseitige
Bedingtheit von Offenbarungswort und natürlicher
Gotteserkenntnis wie überhaupt von Natur und Gnade vorausgesetzt
wird und die „philosophia in Ecclesia reeepta ac agnita"
als „erlöste", also auch als „christliche Philosophie" verstanden
ist, die nicht einfach in der Vergangenheit gegeben ist, sondern
eine an die christlich-philosophische Tradition anknüpfende
fortschreitende Denkbewegung darstellt, also dieselbe Intention
verfolgt, wie die calvinistische Philosophie der Gesetzesidee.
Aber auch inhaltlich sucht der Verf. die thomistische Philosophie
im Sinne der Philosophie der Gesetzesidee zu deuten, indem
er den für Thomas grundlegenden Substanzbegriff als Seinsstruktur
versteht, demgemäß das Einzelseiende in sich existieren soll
(115). Zugleich sucht er dem thomistischen System unter Berufung
auf die genannten katholischen Theologen eine „existen-
tialistische" Deutung zu geben. Die menschliche Existenz ist
„Antwortsein" auf das göttliche Wort. Allerdings sieht der Verf.
insofern einen wesentlichen Unterschied zwischen der hollän-
disch-calvinistischen Philosophie und der kirchlich-thomisti-
schen, als die letztere in der göttlichen Wortoffenbarung in
Christus „die Autonomie als Eigen-Mitwirksamkeit" mit der
Gnade begründet sieht, die vom Calvini6mus geleugnet wird.
Daß der Verf. in diesem Zusammenhang Calvin und den Calvinismus
mißversteht, sei nur am Rande vermerkt.

Das überraschende Ergebnis der Arbeit: die wesentliche
Übereinstimmung der calvinistisch-„christlichen" Philosophie
mit der thomistisch-katholischen, die auch Dooyeweerd in sei-