Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1958 Nr. 12

Spalte:

861-863

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Benz, Ernst

Titel/Untertitel:

Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche 1958

Rezensent:

Schuster, Hermann

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

861

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 12

862

es später formulierte: „Wir alle sind „Gott", leidender, sich
emporringender Gott, wir selbst, als Gottestrieb, kämpfen uns.
wo wir erwachen, dem Teufel ab, ihm, der wir auch sind, Gott -
nicht ein Schöpfer, Vater oder dergleichen, nein, Gott als das
ewige Ziel des Weltalls, der Natur, der Wirklichkeit" (353).
Deshalb sieht er in der Sache der Menschen zugleich Gottes Sache,
„also eine Sache von unergründlicher Tiefe" (358).

Obwohl er lediglich die standesamtliche Trauung erwogen
hatte, ließ er sich 1910 kirchlich trauen in seiner eigenen, sehr
bescheidenen Wohnung. Er bezeichnete sich als „nichtkirchlich
und nicht widerkirchlich", war aber bereit, in Erinnerung an die
erste Begegnung der einen Kirche von Bad Dreikirchen eine erneuerte
Kirchendecke und der anderen Kirche eine Glocke zu
stiften.

Seine Stellung zum Glauben ist die der christlich-pantheisti-
schen Mystik. Aber es ist bezeichnend, daß er kurz vor dem Tode
mit großer Ergriffenheit gerade von der völlig unmystischen
Heilsarmee spricht, auf Grund einer Veröffentlichung im Eugen
Diederichs Verlag. Deutschland hat kein Ziel mehr, aber die Geschichte
der Heilsarmee ist ein Ehrenkapitel des Menschen. „Hier
ist mehr als Deutschland und seine hinfälligen Idole. Hier ruht
man sich aus. Hier ist wieder Heimat." Wenn er nicht Steiner
gefunden hätte, dann wäre er dort bei den Soldaten Christi, „wo
es noch eine Ehre ist, Mensch zu sein" (492, 444).

Der von ihm 6elbst ausgesprochene Gedanke der Unabge-
schlossenheit menschlicher Entwicklung läßt ihn auch über seine
Zeit und über seine Grenzen hinaus uns nahe sein als ein redlich
Suchender im Reiche Gottes. Wie er einst als junger Mensch für
seine Zeitschrift das Wort von Oliver Cromwell gewählt hatte:
„Der kommt oft am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht"
(24, 24), so hat er es auch, 5 Jahre vor seinem Tode, als etwas
Herrliches empfunden, daß wir Menschen der Entwicklung sind.
„Nur nie an ein Definitivum glauben, immer sich bewußt halten:
Die Welt ist unsagbar tief, ihrer Möglichkeiten ist kein Maß. Und
darum: gehen, gehen, gehen, immer gehen. Es ist der Schritt,
möchte ich sagen, der erobert."

Eisenadi Heinz Eridb Eisenhuth

Dittmar, Heinrich: Gottfried Benn — Porträt seiner geistigen Gestalt
.

Kirche in der Zeit XIII, 1958 S. 50-52.

Dreß, Walter: Jochen Kleppers Tagebücher.

Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen
Landeskirchen 5, 1956 S. 371—375.

— Das Problem des Protestantismus — Zu Ina Seidels Büchern „Lennacker"
und „Das unverwesliche Erbe".

Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen
Landeskirchen 6, 1958 S. 427-432.

D u r f c e, Harold A.: Albert Camus and the Ethics of Rebellion.
The Journal of Religion XXXVIII, 1958 S. 29-45.

Gi es ecke, Hans: Stil und Geschichte in Thomas Manns Joseph-
Roman.

Die Zeichen der Zeit, 1958 S. 180—183.
Horkel, Wilhelm: Albrecht Goes und sein Werk.

Deutsches Pfarrerblatt 58, 1958 S. 121—125.
Thomas, Johann: Edzard Schaper, der Dichter des Herrenwortes Joh.

8, 32: „Die Wahrheit wird euch frei machen".

Trierer Theologische Zeitschrift 1957 S. 346—351.

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

B/nz, Ernst: Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und
/ der Kirche. Leiden: Brill 1956. V, 180 S. gr. 8° = Beihefte der Zeitschrift
für Religions- u. Geistesgeschichte Öl. Lw. hfl. 18—

Dieses wertvolle Buch ist der ThLZ leider erst verspätet
zugegangen. So erscheint diese Besprechung nicht so pünktlich,
wie der Rezensent gewünscht hätte.

Wir erfahren aus einer Fußnote am Schluß der Einleitung,
daß die vorliegende Abhandlung die Erweiterung und völlige
Neubearbeitung eines Aufsatzes ist, der in der Zeitschrift für
Kirchengeschichte 1937, S. 169 ff. erschienen ist. Ein Sonderdruck
dieser Abhandlung ist 193 8 erschienen und ist in der
ThLZ 1940, Nr. 7/8 von Odenwald außerordentlich lobend besprochen
worden. Die jetzt vorliegende Neubearbeitung bringt
eine neue Einleitung und wiederholt im ersten Teil, teilweise
neugeformt, die acht Kapitel der ersten Gestalt: Luthers Schuld;
Die Gestalt Jesu; Der Abfall der Kirche; Die Gründe des Abfalls
; Paulus, der Verfolger Gottes; Die Verfälschung des Evangeliums
zum Dysangelium; Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte
; Die „Befreiung" Jesu. Der zweite Hauptteil „Die Anreger
" bringt zwei wichtige neue Kapitel, nämlich das erste:
Nietzsche und Schopenhauer und das letzte: Nietzsche und Karl
Marx. Dazwischen sind die Themen dieselben geblieben: Nietzsche
und die römisch-katholische Kirchengeschichtsschreibung,
Nietzsche und Tolstoj, Nietzsche und Dostojew6kij, Nietzsche
und Bruno Bauer, Nietzsche und der deutsche Spiritualismus,
Nietzsche und Lagarde, Nietzsche und Overveck (dies Kapitel
gründlich umgearbeitet). Neu ist auch die Schlußbetrachtung,
in der Benz die Ergebnisse, die in den beiden Hauptteilen erarbeitet
waren, übersichtlich und einprägsam zusammenfaßt. Man
könnte dem Leser des Buches vielleicht empfehlen, er möge diese
Schlußbetrachtung zuerst lesen, damit er den richtigen Blickpunkt
gewinnt für das, was in den einzelnen Kapiteln ausgebreitet
wird.

In der Einleitung hören wir auf S. 2: „Es gehört zu
den auffälligsten Lücken der modernen Nietzsche-Forschung,
daß Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der
Kirche bisher nirgends eine kritische Darstellung und Untersuchung
erfahren haben. Die umfangreiche Literatur, die 6ich
mit dem Verhältnis Nietzsches zum Christentum beschäftigt,
beschränkt sich fast durchweg darauf, den antichristlichen Charakter
seiner Anschauungen zu beleuchten, die Verknüpfung
6einer antichristlichen, antikirchlichen Haltung mit seinen philosophischen
Grundprinzipien aufzudecken, nach den biographischen
Motiven seiner Feindschaft gegen das Christentum zu
forschen und die geheimen christlichen Wurzeln 6eines Anti-
christentums zu erweisen." Das war gewiß eine nützliche Arbeit;
aber das vorliegende Buch beweist, daß damit das rechte Verständnis
Nietzsches und die positive Auswertung seiner negativen
Ideen noch nicht gegeben war. Ich kann nun unmöglich den ganzen
Reichtum der Erkenntnisse vor den Lesern ausbreiten. Ich
muß mich auf einige Punkte beschränken, die mir besonders wesentlich
erscheinen.

Luthers „Schuld" besteht darin, daß er mit seiner religiösen
Inbrunst die im Sterben liegende Kirche zu neuem Leben erweckt
hat; damit hat er es verhindert, daß der fröhliche weltliche Geist
der Renaissance vollends und für immer den päpstlichen Thron
bestieg und die christliche Kirche ablöste.

Neben die Schuld Luthers tritt die Piatos! „Er bleibt das
größte Malheur Europas!" Für Nietzsche ist Plato das Haupt und
die hervorragendste Sinngebung der antiheidnischen Bewegung,
die aus der Antike selbst hervorgewachsen ist. Bei Plato sieht
Nietzsche bereits alle die lebensfeindlichen Elemente sich entfalten
, die schließlich im Christentum zum Ruin der antiken Kultur
und zur Vernichtung des eigentlichen Heidentums geführt haben.
Die Zerstörung des Heidentums war aber längst im Gange und
ist die eigentliche Voraussetzung der Wirksamkeit des Christentums
. Die Friedenslehre Jesu ist von dieser antiheidnischen Bewegung
gierig aufgesogen worden und hat den Auflösungsprozeß
des Heidentums sehr beschleunigt.

Die Gestalt Jesu sieht Nietzsche unter dem Blickpunkt des
Wortes „Nicht widerstehen dem Übel". Das ist auch der Gesichtspunkt
, unter dem er seinen Tod sieht. Diese Gestalt muß
„befreit" werden von allem, was an Dogma, an Priestertum, an
Hierarchie, kurz, an „Kirche" erinnert. Die christliche Kirche ist
der eine große Abfall, und dieser Abfall beginnt schon bei den
Jüngern, die Jesum nicht verstanden, sondern in ihr Milieu der
kleinen Leute heruntergezogen haben. Der große Verderber aber
ist Paulus. Indem Nietzsche den Abfall schon im Neuen Testament
beginnen läßt, unterscheidet er sich von Tolstois Abfallstheorie
. Seine Vorstellung von der Gestalt und dem Wollen Jesu
als Verneinung des Willens zum Leben, ist deutlich durch Schopenhauer
bestimmt; von ihm hat er gelernt, das Evangelium nach
der Lehre Buddhas umzudeuten.

Außerordentlich lehrreich ist auch das neue Kapitel über