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Ausgabe:

1958 Nr. 12

Spalte:

850-851

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Goeters, J. F. Gerhard

Titel/Untertitel:

Ludwig Hätzer 1958

Rezensent:

Fuchs, Wilhelm

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849

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 12

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KIRCHENGESCHICHTE: REFORMATIONSZEIT

S t*« g e, Carl: Die Anfänge der Theologie Luthers. Berlin: Töpel-
mann 19 57. 61 S. gr. 8° = Studien der Luther-Akademie, hrsg. v.
' Carl Stange, N. F. H. 5. DM 6.80.

In dieser Rudolf Herrmann, Berlin, zum 70. Geburtstag gewidmeten
Schrift werden die Anfänge der Theologie Luthers an
Hand seiner ersten Psalmenvorlesung (1513—1516) untersucht
und durch zahlreiche Beispiele erläutert. St. wendet sich in seiner
Problemstellung gegen die zuerst von H. Boehmer („Luthers erste
Vorlesung", 1924) aufgestellte und seitdem zu einem Axiom der
protestantischen Theologie gewordenen Behauptung, Luthers reformatorische
Erkenntnis von Römer 1, 17 habe bereits bei der
ersten Psalmenvorlesung vorgelegen. Die Annahme einer Verwechselung
der beiden Psalmenvorlesungen in Luthers Vorrede
zum 1. Band der lateinischen Gesamtausgabe seiner Schriften von
1545 hält St. gerade auf Grund dieser Vorrede für absurd. Erst
1515/16 durch die Lektüre der paulinischen Briefe und 1519 durch
die Leipziger Disputation ist Luther das Verständnis von
Rom. 1, 17 aufgegangen. Auch gegen die ebenfalls verbreitete
Ansicht wendet sich der Verf., Luther habe in demselben Vorwort
den Durchbruch seiner neuen Glaubenserkenntnis gemeint,
wenn er sich wie neugeboren und ins Paradies versetzt fühle nach
Deutlichwerdung der Römer-Stelle. Entgegen der Boehmerschen
Auffassung ist Rom. 1,17 nicht durch Luther in der ersten Psalmenvorlesung
entdeckt worden, wie besonders die Auslegung von
Psalm 8 3, 11 zeigt. In diesem Zusammenhang stellt sich St. die
Aufgabe, „an dem Entwicklungsgange der Theologie Luthers
nachzuweisen, daß in der Tat seine Neugestaltung der Theologie
in der mittelalterlichen Frömmigkeit ihre Wurzel hat und ihre
Legitimation findet" (S. 16). In der Durchführung dieser Aufgabe
weist St. deshalb die Methoden und Arten der Allegorie in
der Schriftauslegung von Luthers erster Psalmenvorlesung nach.
Die Abhängigkeit im Schriftverständnis von Augustin und zum
Teil noch bedeutungsvoller von Bernhard v. Clairvaux, durch den
Luther zum „betenden Schrifttheologen" (S. 20) geworden ist,
wird aufgezeigt. Die allegorische Schriftauslegung der mittelalterlichen
Hermeneutik unter Ausschaltung der Dogmatik hat Luther
in seiner 1. Psalmenvorlesung zu keiner echten Auslegung kommen
lassen. Luther trägt in die Psalmen die vulgären Gedanken
des Mönchtums und der scholastischen Dogmatik hinein. So wird
die alt- und neutestamentliche Heilsgeschichte zum Rätsel und
die Bedeutung der Person Christi problematisch. Auch einen
starken neuplatonischen Einfluß weist St. in der ersten Psalmenvorlesung
nach. Wenn auch hier die mittelalterliche Frömmigkeit
den Zusammenhang mit dem Evangelium nicht verloren hat, so
ist doch andererseits die Folge dieser Verkoppelung, daß Motive
des christlichen Glaubens vielfach durch solche der rationalen
Metaphysik verdrängt werden. Dies macht St. im Hinblick auf
die erste Psalmenvorlesung nach drei Seiten hin deutlich: 1. an
den Aussagen Luthers über die Person Christi, 2. an seinem
Glaubensbegriff und 3. an seiner Lehre vom Heil. Abschließend
kommt St. zu der Feststellung, daß von einem Durchbruch der
reformatorischen Theologie in der ersten Psalmenvorlesung Luthers
keine Rede sein kann: Reine Scholastik ohne besonderen
Wert, groteske Allegorie und monotone Gedanken (S. 61) bietet
diese Vorlesung. Ganz in den Bahnen mittelalterlicher Scholastik,
bewegt sie sich aber ebenso in den Bahnen der mittelalterlichen
Frömmigkeit, soweit diese unter dem Einfluß des Evangeliums
steht (S. 15). Lediglich in der Kritik der Aristotelischen Ethik
und in der starken Betonung der biblischen Begriffe ,caro' und
.spiritus' kündigt sich die weitere Entwicklung Luthers an.

In seiner Schrift greift St. hier in leicht lesbarer und faßlicher
Form ein Problem auf, dem man seit Boehmer vielleicht
nicht die notwendige Aufmerksamkeit gezollt hat. Hier liegt
zweifellos das Verdienst der Schrift, die durch zahlreiche Beispiele
einige Merkmale der frühen Theologie Luthers, jedoch nur an
Hand seiner Psalmenvorlesung zeigt. Abschließend sei noch bemerkt
, daß es freilich fraglich erscheint, ob man dem 1545 geschriebenen
Vorwort die Beweiskraft zuschreiben kann, wie es
St. als Basis seiner These tut.

Berlin H.-U. Delius

Goeters, Gerhard J. F.: Ludwig Hätzer (ca. 1500—1529). Spiritualist
und Antitrinitarier. Eine Randfigur der frühen Täuferbewegung.
Gütersloh: Bertelsmann 1957. 162 S. gr. 8° = Quellen u. Forschungen
zur Reformationsgeschichte Bd. XXV. Kart. DM 12.60.

Ludwig Hätzer gehört zu den wenigen Gestalten der frühen Täuferbewegung
, die literarisch hervorgetreten sind. Um 1500 in Bischofszell
im Thurgau geboren, studierte er in Basel, ohne akademische Grade
zu erwerben, und wurde nach der Priesterweihe Helfer (Kaplan) in
Wädenswil am Zürichsee. In den Zürcher Auseinandersetzungen um die
Durchführung der Reformation stand H. auf Zwingiis Seite sowohl mit
seiner ersten literarischen Arbeit, einer bilderstürmerischen Schrift, wie
mit seinem Protokoll über die zweite Zürcher Disputation mit Grebel
und seinen Freunden (Okt. 1523). Da statt der eigentlichen reformatorischen
Erkenntnisse in erster Linie die Schriftautorität im Vordergrund
von H.'s theoretischem Interesse stand, kam er spätestens seit
1524 in Verbindung mit der radikalen Gruppe in Zürich, die entgegen
den Zwinglischen Bemühungen um ein reformiertes Staatskirchentum die
Aufrichtung einer besonderen Kirche wünschte. H.'s Übersetzung der
Bugenhagenschen Auslegung der kleinen Paulusbriefe (1524) enthält in
einer Bemerkung das erste literarische Zeugnis dafür, daß den Zürcher
Radikalen die kirchliche Praxis der Säuglingstaufe zweifelhaft geworden
war, ohne daß er selbst den Schritt zur Wiedertaufe vollzogen hätte.
Auch seine Wirksamkeit in Augsburg zeigt, daß er dort das Haupt der
aus sozial Unzufriedenen bestehenden, von den lutherischen Predigern
sich abwendenden und ihnen opponierenden Konventikelkirche war, die
zwar der späteren Täufergemeinde den Boden bereitete, aber keine Erörterungen
über die Taufe durchführte. Ständig auf der Suche nach Aufgaben
, die ihren Mann ernährten, kam H. zu Oekolampad nach Basel,
der ihn in sein Haus aufnahm und in mancherlei Missionen auch bei
Zwingli verwendete, mit dessen Haltung gegenüber den Zürcher Täufern
er sich ganz identifizierte, ohne damit charakter- und treulos an seinen
früheren Freunden zu handeln. H. übersetzte die Abendmahlsschriften
des Basler Theologen, um auch den einfachen Mann an der gelehrten
Diskussion teilnehmen zu lassen und damit für die eigene Sache zu gewinnen
. H. lehnte die Realpräsenz, das Fundament der Messe, als durch
das Zeugnis der hl. Schrift geboten ab, ohne zwischen Katholiken und
Lutheranern einen prinzipiellen Unterschied zu machen. Dabei machten
sich bereits die später sich steigende Verachtung jeglicher Gelehrsamkeit
und in der Lehre vom Wort Gottes spiritualistische Züge bemerkbar
, die den anfänglichen primitiven Biblizismus umwandelten. Wegen
einer sittlichen Verfehlung mußte H. Basel verlassen, wandte sich
nach Straßburg, wo er anfänglich, obwohl als Täufer verdächtigt, in
Capitos Haus aufgenommen wurde, gewann aber über seine Jesajaüber-
setzung Verbindung zu Hans Denck. Mit ihm zusammen gab er 1527
die „Wormser Propheten" heraus, die zum ersten Mal dem hebräischen
Text folgten, in der Hauptsache als H.s Werk angesehen werden müssen
und für Luther wie für die Zürcher Reformatoren Anlaß wurden, das
Buch der Täufer durch eine eigene Arbeit zu ersetzen. In Worms versuchte
H. vergeblich, der von Denck vertretenen spiritualistischen Richtung
des Täufertums Boden zu gewinnen. Seitdem führte er ein unstetes
Wanderleben. Er stand in enger persönlicher Fühlung mit den Häuptern
des süddeutschen Täufertums, besonders mit Denck und Hut, führte
auch in Regensburg 1527 selbst einige Taufen durch, bekundete aber
wohl selbst nie seinen feierlichen Beitritt zum Täufertum. Mit allen
herrschenden Kirchentypen zerfallen, glich er sich dem spiritualistisdien
Flügel an, ist aber entgegen der verbreiteten Auffassung kein Täufer
im eigentlichen Sinne, sondern höchstens eine Randfigur der frühen
Täuferbewegung. Es scheint, als habe er, durch die schweren Verfolgungen
entmutigt, in seinen letzten Jahren aller aktiven Wirksamkeit
entsagt und die Verborgenheit und Ruhe gesucht. Seine Übersetzung
des Buches Baruch ist aus dem Bemühen entstanden, nach den Propheten
auch die Apokryphen als zum Kanon gehörig dem gemeinen Mann zugänglich
zu machen. Seine Vorrede und seine Ausgabe der „Theologia
Deutsch" (1528) zeigt den Freund und Schüler Dencks als extremen
Spiritualisten, dem nicht Schrift oder Predigt, sondern der Geist, das
innere Wort, zur Quelle des Glaubens wird und die Schrift erschließt.
Damit hat sich sein anfänglicher massiver Biblizismus ins Gegenteil verkehrt
. Die schweren Verfolgungen der Täufer haben auch bei ihm
eschatologisch-apokalyptische Gedanken aufleben lassen. Die der „Theologia
" angehängten „Hauptreden" werden Denck zugeschrieben. Die Berührung
mit der Mystik scheint in den letzten Schriften H.s, die aber
nicht erhalten sind, nach. dem Zeugnis von Zeitgenossen, namentlich
Sebastian Franks, seiner Eigenart entsprechend, seine Vorbilder polemisch
zu übersteigern, in der Christologie und Trinitätslehre Ansätze zu
einer eigenen Theologie entwickelt zu haben. Danach wäre er unter die
ersten Antitrinitarier der Reformationszeit im deutschen Sprachgebiet
zu rechnen. Indessen kommt man da über Vermutungen nicht hinaus, da
er 1529 in Konstanz hingerichtet wurde nach einem Prozeß, der formal
6einen unerlaubten Beziehungen zu Anna Regel, der Frau seines reichen
Augsburger Gönners Georg Regel, galt, in Wirklichkeit aber das Täufertum
in den süddeutschen Städten treffen sollte.