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Ausgabe:

1958

Spalte:

60-62

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lackmann, Max

Titel/Untertitel:

Ein Hilferuf aus der Kirche für die Kirche 1958

Rezensent:

Mumm, Reinhard

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Theologisdie Literaturzeitung 1958 Nr. 1

CO

dem Leser unwillkürlich die Frage auftaucht, wie der Gott des
Rechts und der Gerechtigkeit der offiziellen Kirchenlehre sich zu
diesem Gott verhält — eine Frage, auf die der Verfasser leider
nicht eingeht.

Dieselbe umsichtig kritische Haltung findet sich auch dort,
wo der Verfasser auf „Probleme der Christologie von heute"
(I, S. 169 ff.) eingeht. Auch hier will er sich nicht bei der lehramtlichen
exakten Fsrmulierung des Themas „wahrer Gott und
wahrer Mensch" in Christus beruhigen. Auch die chalkedonische
Formel sei nur eine Formel, die als Ende und als Anfang zu betrachten
ist und eine Fülle von Aporien enthält, die auf „das
Geheimnis" Jesus nur hindeuten. Der Rückgang auf die Bibeltheologie
zeigt, „daß das christologische Dogma der Kirche gar
nicht den Anspruch erhebt, die adäquate Kondensierung der biblischen
Lehre zu sein . . ." (I, 174). Aber wo beeinflußt die
Bibeltheologie von heute den Aufbau und Inhalt der traditionellen
Christologie? Wo bleibt heute „die tätige Kraft und heilige
Unruhe", die von einer Bibeltheologie für die christologischen
Fragen ausgehen könnten? Es bleibe zu fragen, „ob nicht zur ursprünglichen
Aussage der Wirklichkeit Christi auch andere Kategorien
verwendet werden könnten als die der klassischen
Christologie" (I, 187), ob nicht die alte Logos-Spekulation neu
durchdacht und von der Bibeltheologie entschlackt werden muß.
Auch die scholastische Christologie müsse auf ihr biblisches Fundament
neu untersucht werden. Eine ontische Christologie
schließt eine existentielle nicht aus. Auch wenn man der neuen
evangelischen Christologie vorhalten muß, daß sie das Geheimnis
Christi „auf das Niveau unseres eigenen religiösen Erlebnisses
" herabdrücke, so sei das noch kein Beweis, daß Versuche
dieser Art apriori falsch und unmöglich seien (I, 192 f.). Die
Aporetik der chalkedonensischen Formel und der heutigen Christologie
drängt dahin, „so etwas wie eine transzendentale Deduktion
einer Christusgläubigkeit zu versuchen" (206), eine
theologische Phänomenologie des religiösen Verhaltens zu Christus
, und die dogmatische Christologie mit der allgemeinen Religionsgeschichte
zu konfrontieren. Ebenso seien die abstrakten
Formeln der durchschnittlichen Soteriologie aufzufüllen durch
eine Darstellung der inneren Struktur des Erlösungsvorganges,
die eine christozentrische Theologie der Geschichte gleichzeitig
erforderlich mache. Die kritische Haltung zur Tradition führt
den Verfasser zu der Einsicht, daß es allein mit der Objektivität
der reinen Christuslehre nicht getan ist, daß die notwendige
subjektive Begegnung mit dem Christus der Bibel zu Problemen
führt, die von der offiziellen Schultheologie bisher nicht berücksichtigt
wurden.

Die kritische Haltung des Verfassers wird auch in
dem Grundanliegen der Anthropologie durchgehalten. Gewiß
wird das Gefüge der binaren antiken Anthropologie von ihm
nicht angetastet. „Es ist nämlich beim Menschen zu unterscheiden
. . . zwischen dem Menschen als intelligibler Person und
dem Menschen als ,Natur' " (II, 86). Und man könnte der Meinung
sein, daß von hier aus eine einfache Entscheidung getroffen
werde über das Verhältnis von Gnade und Sünde, wie es innerhalb
der katholischen Dogmatik heute vielfach angetroffen wird.
Aber wieder gräbt der Verfasser hier tiefer und versucht in immer
neuen Anläufen das Wesen von Natur, Gnade und Sünde
zu erfassen und die Schwierigkeiten der Erfassung aufzuzeigen.
Er kennzeichnet zutreffend die Schwierigkeit der katholischen Situation
besonders in Bezug auf die Sünde: einerseits darf der
große Ernst der Sünde „mit der ganzen erschütternden Wucht,
wie eine solche bei Paulus, Augustinus und Luther sich bezeugt"
(I, 378), nicht geschmälert werden, andererseits darf durch die
Sünde die in der offiziellen Kirchenlehre vertretene Freiheit des
Menschen nicht aufgehoben werden. Mit allem Ernst stellt der
Verfasser sich die Frage, ob seine Analyse der Konkupiszenz
diese Ursünde nicht verharmlost habe, und verbindet damit die
Frage: „Ist das Verständnis der Reformation oder eines Pascals
in jeder Hinsicht falsch, wenn sie meinten, daß der von seinen
Begierden getriebene Mensch so nicht aus der Hand seines Schöpfers
hervorgegangen sein könne?" (I, 407). Und seine Antwort
auf diese Frage endet mit einem Resultat, das der lutherischen
Lehre sehr nahe kommt.

Einen erstaunlichen Höhepunkt aber gewinnt die erörterte

kritische Haltung bei der Bestimmung des Wesens der Kirche. Es
geht dem Verfasser zunächst um das Thema Freiheit in der Kirche
, jenes Thema, das Luther, wie mit Recht gesagt wird, „zu
einem reformatorischen Kampfruf gegen die römische Kirche"
gemacht hat (II, 95 ff.). Gewiß: Kirche ist „die Fortsetzung des
Sakramentes, das Christus ist" (102). Aber damit ist ihr Wesen
nicht erschöpft. „Da die Kirche aber immer auch eine Kirche aus
sündigen Menschen ist, auch in den Trägern ihrer Autorität,
kann sie in ihren einzelnen Handlungen auch gegen ihre eigenen
Prinzipien verstoßen und die Freiheit des Einzelnen nach außen
und innen verletzen" (II, 106). Man beachte: sündig, „auch in
den Trägern ihrer Autorität"! Bedeutet das die Aufhebung der
Unfehlbarkeit auch ihrer ersten Autorität oder die Aufhebung
der absoluten Lehrautorität bzw. des absoluten Rechts? Bahnt
sich hier so etwas an wie die lutherische Spannung von unsichtbarer
und sichtbarer Kirche? Die Beantwortung dieser Fragen
scheinen in eine positive Richtung zu weisen, wenn es weiterhin
heißt, daß alle sittlichen Entscheidungen des Christen einer Dimension
des Konkreten und Individuellen angehören, „die in
sich unmittelbar von der Autorität der Kirche gar nicht verwaltet
werden kann", daß die Kirche und das Christliche nicht adäquat
zusammenfallen (II, 112). Erfreulich auch der Aufruf des Verfassers
an seine Kirche, bei ihren eigenen Gliedern die Vermassung
zu bekämpfen, „die Unselbständigkeit, die Flucht vor persönlicher
Verantwortung, das Abwarten kirchlicher Weisungen
von oben", die Meinung, daß alles darum schon sittlich einwandfrei
sei, weil es nicht von einem kirchlichen Verdikt getroffen
werde (113). Dazu nehme man die Bescheidung in dem Urteil
, daß auch die strengste Betonung der Heilsnotwendigkeit der
wahren Kirche keine Anmaßung eines Urteils über den guten
Glauben und die Gnade der getrennten Christen bedeuten dürfe
(II. 75).

Alles in allem: in den Untersuchungen des Verfassers gewinnt
nun auch im katholischen Bereich eine neue theologische
Haltung Ausdruck: die wahre Unruhe zum Wesentlichen, die sich
nicht bei fertigen, abgeschlossenen Resultaten beruhigt, sondern
sich auswirkt in einem immer neuen Anbohren dessen, was gefragt
ist, in einem Sich-offenhalten für neu auftauchende Probleme
und Aporien, getragen von der Gewißheit, daß das Letzte im
Raum der Theologie unsagbar bleibt, eine Haltung, die eine zukunftsträchtige
Brücke schlagen kann zwischen den Konfessionen
. Auf jeden Fall wird auch der protestantische Leser das Ringen
des Verfassers um neue Lösungen der großen dogmatischen
Probleme mit weiter Zustimmung und innerer Bereicherung bei
sich aufnehmen.

Kiel Werner Schultz

Lackmann, Max: Ein Hilferuf aus der Kirche für die Kirche.

Stuttgart: Schwabenverlag [1955]. 139 S. 8° = Peter und Paul-
Bücherei. DM 3.—.

Der Verf., durch frühere Veröffentlichungen (z. B. „Vom
Geheimnis der Schöpfung" 1952) und seine Mitarbeit an den
Tagungen und Aufrufen der „Sammlung" bekannt geworden,
ist ev.-luth. Pfarrer in Soest. Mit der vorliegenden Schrift legt
er allen Brüdern „im Amt der Leitung und des Hirtendienstes
der Kirche und Gemeinden Augsburgischer Confession" 10 Thesen
vor mit der Bitte, „zu prüfen, anzunehmen, zu verbessern
oder zu verwerfen" (S. 21). Diese Thesen und die nachstehenden
Darlegungen zu der Frage „Wie verstehen wir die Menschwerdung
Gottes" enthalten eine Würdigung und zugleich radikale
Kritik der Grundpositionen der Reformation mit dem Ziel,
damit der Einheit der ,una sancta catholica et apostolica eccle-
sia' zu dienen.

Lackmanns Thesen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen
übrig. Sie wenden sich gegen die Formel ,solus Christus'
für eine positive Aufnahme der Aussagen des NTs von den
.synergoi tou theou' (vgl. 1. Kor. 3, 9 und Kol. 4, 11), gegen die
,sola scriptura' für die Zuordnung besonders der altkirchlichen
Tradition zur Schrift, gegen die Isolierung der Predigt für die
zentrale Stellung des Herrenmahles im Gottesdienst und „seinen
Gehalt als Opfer des himmlischen Hohenpriesters und seines
priesterlichen Volkes" (S. 23), entsprechend auch für das prie-