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Ausgabe:

1958 Nr. 11

Spalte:

803-807

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ratschow, Carl Heinz

Titel/Untertitel:

Der angefochtene Glaube 1958

Rezensent:

Lohff, Wenzel

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 11

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land, Menschenrechten, humanistischen Idealen, Gott? Sind
Grundlagen für gesundes Hineinwachsen der Jugend in Lebensformen
gelegt, die auf „neue Geborgenheit" (Bollnow) zielen?
Das bleiben selbstverständlich offene Fragen. Und weiter: gibt
nicht die Diskrepanz zwischen dem Vorhandensein einer psychologisch
festgestellten eigengesetzlichen jugendlichen Entwicklungsphase
und dem Verschwinden der eigenständigen sozialen
Jugendwelt zu schweren Besorgnissen der Zukunft Anlaß?
Wird die seelische Phasenentwicklung unter dem Überdruck der
gesellschaftlichen Struktur des technischen Zeitalters sich ändern
? Es gäbe Analogien. Während man noch bis vor kurzem
an eine wesentliche Gleichheit der menschlichen Persönlichkeit
und ihrer Entwicklungsgesetze zu allen Zeiten und an allen Orten
glaubte, ist heute z. B. die Annahme, daß die sog. zweite
Trotzphase allgemein menschlich sei, durch Studien auf Samoa
widerlegt. Die Beziehungen zwischen Entwicklungspsychologie
und Soziologie sind offenbar erst sehr ungenügend erforscht.
Schelskys Buch ruft Fragen wach, die weiterwirken, womit dem
Verf. der schönste Dank für sein förderliches Werk abgestattet
sein dürfte.

Rostock Gottfried Holtz

, SYSTEMATIK

R it si.h o w, Carl Heinz: Der angefochtene Glaube. Anfangs- und
Grundprobleme der Dogmatik. Gütersloh: Bertelsmann [1957]. 328 S.
' gr. 8°. Lw. DM 28.—.

Seit einiger Zeit wendet sich das Interesse der systematischen
Theologie in stärkerem Maße den Grundlegungsfragen der Dogmatik
zu. Hier wird nun eine umfassende Darlegung dieses Problemkreises
vorgelegt, welche den Ertrag jener Bemühungen aus
eigenem Ansatz zusammenfaßt. Die Behandlung der „Anfangsund
Grundprobleme" ist nach dem Verf. nicht mit den Prolego-
mena der Dogmatik identisch, welche ein Stück der Dogmatik
selbst darstellen (9), vielmehr geht es um einen Bereich, der den
Prolegomena noch vorausliegt, nämlich: „den gesamten Problembereich
, der zum Anfangen der Dogmatik führt und als solcher
die Dogmatik bedingt" (9). Dogmatik erscheint hier also als ein
umgrenzbarer Bereich von Aussagen, dem für den Glauben ursprünglichere
Wirklichkeitsbereiche vorausliegen, deren Erörterung
nicht zur Dogmatik gehört.

Gleichwohl geht es um theologische Arbeit im strengen
Sinne. Dogmatik entspringt dem „Glauben", der Glaube aber
nimmt seinen Ausgang bei Jesus als dem „Anfänger" alles Glaubens
, daher hat auch die Erörterung der Anfangsprobleme bei
Jesus ihren Ausgang zu nehmen. „Jesus Christus ist offenbar auch
heute in actu Begründer und Anfänger de6 Glaubens" (10), lautet
die These, welche den Problembereich der Untersuchung bezeichnet
. Dabei stehen zwischen Jesus und dem gegenwärtigen
Glauben Vermittlungen, über die hinweg es keine Unmittelbarkeit
des Glaubens zu seinem Grunde gibt (19). Verf. nimmt hier
vier „Faktoren" wahr, in deren Dasein und Wirken der Problemhorizont
der Dogmatik entsteht. Ihre Erörterung vollzieht sich
in einer doppelten Abgrenzung gegenüber den theologischen Ansätzen
, in denen nach Meinung des Verf.s das Gewicht dieser
Vermittlungen nicht genügend berücksichtigt wird. Sie richtet 6ich
einmal gegen eine Kerygmatheologie, welche anstelle der leibhaften
Person Jesu Christi das Daß der Verkündigung von ihm
setzt (28) und damit die Konkretheit und „Ständigkeit" (20u.ö.)
des Gegenübers verliert, auf das der Glaube bezogen ist. Sie richtet
sich auf der anderen Seite gegen eine „christologische" Begründung
der Dogmatik, welche Lehre auf Lehre (statt auf das
Ereignis) gründet (94) und damit ebenfalls in anderer Weise die
Wirklichkeit des leibhaft geschichtlichen Daseins Jesu Christi wie
des Glaubens überfliegt. In beiden Fällen entsteht eine falsche
Unmittelbarkeit, welche vergißt, daß das Verhältnis des Glaubens
zu 6einem Gegenstande an weltliche, historische Bedingungen
gebunden ist und durch sie „angefochten" wird. Wo diese Bedingtheit
übersehen wird, entsteht für die Theologie die Gefahr
eines „spiritualisierenden Alles-Wissens von Gott und des Menschen
Natur", in welchem die Theologie „es nur noch mit sich
selbst zu tun" hat (314). Demgegenüber dringt Verf. auf eine

nüchterne und klare Erfassung der den Glauben bedingenden und
zugleich „anfechtenden" Wirklichkeiten.

Die Erfassung des ersten, den Glauben bedingenden Faktors
„Jesus von Nazareth, Gottes Anwesenheit in leibhafter Gestalt"
(25—102) führt deshalb auf einen umfassenden Geschichtsbegriff,
der audi die horizontale Erstreckung und die konkrete Leibhaftigkeit
der Geschichte enthält. Denn Jesus in der „leibhaften Bezüglichkeit
" seiner Worte und Taten „ereignet" das Heilsgeschehen
(26). Im Gegensatz zur Kerygmatheologie betont Verf.
die Bedeutung des über die Verkündigung hinausgehenden leibhaften
Wirkens Jesu, vor allem bei der Einsetzung des Abendmahls
(„Jünger Jesu ist man wohl nur in der Teilhabe an der verborgenen
Gottes-Tatsächlichkeit dieses Mahles") (66), und gibt
damit dem Verständnis der Inkarnation eine bestimmte Zuspitzung
. Was heute weithin als „historische" und „geschichtliche"
Frage nach Jesus unterschieden wird, fällt für diese Sicht ineins,
und mit dieser Einheit gewinnt der Glaube (dessen Entscheidungscharakter
betont wird) Erkenntnisfunktion: er ermöglicht den
Rückschluß auf Jesu Selbstbewußtsein (26), er ist wirksam in der
Ausgestaltung der Botschaft des Heilsereignisses (32). Der umfassende
Geschichtsbegriff zeigt sich besonders deutlich bei der
Würdigung des AT (67—90). Das AT hat nicht nur vergewissernde
(hermeneutische) Bedeutung für das Heilsgeschehen, sondern
die Geschichte des Alten Bundes in ihrer raumzeitlichen
Konkretheit hat „kausative, axiomatische Bedeutung für Jesus,
gehört also konstitutiv zu diesem Geschehen selbst" (70).

Die Heilsgeschichte wird so überschauend verstanden als ein
Beieinander von Aktualität und „Ständigkeit". Sie besteht in der
Aktualität je einmaliger Ereignisse, sofern sie in Gottes immer
neuen Ruf und Forderung gründet: „Das Ereignis des Gottes
Israels durch oder als Jesus von Nazareth ist nicht eines, sondern
grundsätzlich ein Pluraletantum" (92). Und sie hat zugleich
„Ständigkeit am soma Jesu, an der leibhaften Bezüglichkeit dieses
Mannes", welche vor dem Glauben und für ihn ihr Dasein
hat (93). Die Auferweckung Jesu als das exemplarische Geschehen
dieses Beieinanders gewinnt damit für die Erfassung des ersten
Faktors besondere Bedeutung (101).

Nachdem die Forderung nach einem einheitlichen Geschichtsbegriff
in der Auseiandersetzung mit Bultmann, dessen „Dualismus" die theo-
logisdie Diskussion hier bis heute in Atem hält, wiederholt erhoben
wurde, ist es das Verdienst des Verf.s, dieses außerordentlich schwierige
Problem in tiefgreifender Besinnung angegriffen zu haben. Sehr wertvoll
ist es dabei, daß dem Leser die Auseinandersetzung mit der einschlägigen
Literatur in einem breiten Anmerkung6apparat zugänglich gemacht
wird. Es bleibt freilich die Frage, ob die Rückgewinnung der theologischen
Relevanz der historischen Tatsächlichkeit wirklich so gleichsam „phänomenologisch
" durch Besinnung auf die „Faktoren", die zum gegenwärtigen
Glauben führen, erfolgen kann. Gerade im Interesse an der echten
Tatsächlichkeit der Historie wird man die Profanhi6toriker fragen
müssen, ob sie die Leibhaftigkeit des Auferstandenen in Raum und Zeit
so ohne weiteres mit dem Problem der historischen Tatsächlichkeit zusammenschauen
können. Wenn das nicht der Fall ist, wenn umgekehrt
die Auferstehung exemplarische Bedeutung für die Leiblichkeit des
Glaubensgegenstandes besitzt (so 101), könnte vielleicht deutlicher
betont werden, daß es hier in allem nicht um neutrale Strukturanalysen
der Vorgegebenheiten des Glaubens und der Dogmatik geht, sondern
bereits um Aussagen der fides dogmatica selbst, um ein Auslegungs-
gefüge, das seinen Ursprung in dem Gegenüber von Kerygma und
Glaubensbekenntnis hat, das gegenüber der Historie in ihrer anfechtenden
Tatsächlichkeit also jedenfalls sui generis ist. Der Gedankengang
würde damit vielleicht näher an die Kerygmatheologie heranrücken
, als es aus der Kritik an derselben zunächst den Anschein hat,
und eher eine bedeutsame Modifikation als eine grundsätzliche Bestreitung
derselben darstellen.

Die Absicht, Geschichte in ihrer horizontalen Erstreckung
als Geschichtsraum theologisch zur Geltung zu bringen, wird
deutlich auch in der Beschreibung des zweiten Faktors: „Der Heilige
Geist Gottes Anwesenheit von Jesus her" (103—163). Nach
einer umfassenden exegetischen Besinnung über das Verständnis
des Hl. Geistes im NT wird gegenüber jedem Versuch, durch eine
spiritualisierende hermeneutische Methodik die Gleichzeitigkeit
mit Jesus herzustellen, das Walten des Hl. Geistes beschrieben
als die in der Verkündigung geschehende Selbstvergegenwärti-
gung Gottes im Leibe Jesu Christi (141). Das Wirken des Hl.
Geistes stellt sich für den Christen dar als ein „spezifisch zeit-