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Ausgabe:

1958 Nr. 11

Spalte:

801-803

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Schelsky, Helmut

Titel/Untertitel:

Die skeptische Generation 1958

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 11

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Dinglingen handelt es sich nicht um ein „lutherisches", sondern
um ein „evangelisches" Waisenhaus (innerhalb der unierten ev.-
prot. Landeskirche). — S. 50: Läßt die jährliche Zunahme von Patienten
unabdingbar auf einen Vertrauensbeweis für die Tätigkeit
einer kirchlichen Einrichtung schließen? Spielen bei solchem Anwachsen
nicht oft andere unübersehbare Imponderabilien mit, die
an anderen Orten in solcher Situation anderen Einrichtungen zuteil
werden, da eine christliche caritative Einrichtung gerade fehlt?
— Bedauerlicherweise fehlen aufs Ganze gesehen am Schluß die
verschiedenartigen Register, die das Aufschlagen, Auffinden und
Vergleichen wesentlich erleichtern würden. Vielleicht dürfte dies
für eine 2. Auflage ins Auge gefaßt werden.

Wer auch immer auf dem Gebiet der sozial-caritativen Tätigkeit
forschen wird, darf wohl an dieser erstmalig quellenmäßig
zusammengefaßten, von katholischer Seite in vorbildlicher Weise
gelungenen Publikation kaum vorbeigehen. Darin dürfte der
Lohn, der Preis und die Bedeutung dieser mühevollen, aber ertragreichen
Arbeit liegen.

Karlsruhe Hermann Erbacher

S^helsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der
deutschen Jugend. 2. Aufl. Düsseldorf-Köln: Diederichs [1958]. 523 S.
8°. Lw. DM 26.—.

Das schnell bekannt gewordene Buch — es erlebte in weniger
als Jahresfrist die zweite Auflage — erfordert unsere Beachtung
. Weder die kirchliche Soziologie noch die theologische
Ethik, weder die Unterrichtslehre noch die Seelsorge sollten an
ihm vorbeigehen.

Es bietet eine Soziologie der westdeutschen Nachkriegsjugend
(Alter zwischen 14 und 25 Jahren) in der Zeit bis etwa
195 5, wobei die berufstätige Jugend in den Vordergrund der Betrachtung
tritt. Da die Jugend aus ihrer Zeitgeschichte mit den
sie tragenden Ideen, aus dem Leben in Familie, Schule, Betrieb,
Staat zu verstehen ist, werden wir in ein Gesamtverständnis der
westdeutschen Gegenwart eingeführt, in diesem Fall aus dem Blickfeld
des Soziologen heraus. Soziologische Betrachtung beschreibt,
analysiert, wertet das gesellschaftliche Leben, den Jugendlichen
also in seiner Rolle zwischen dem Sein als Kind und Erwachsener.
Störende Faktoren, die nach Sch. auszuschalten sind, sind die so-
2iale und pädagogische Ideologie der Vätergeneration, soweit
sie aus der Jugendbewegung kam, und gewisse aus jugendpsychologischen
Erkenntnissen abgeleitete Sozialtendenzen. Was den
ersteren Komplex betrifft, so wird die Suche und Forderung nach
einem abgegrenzten Jugendraum — „die eigenständige Jugendwelt
" — als einem gesellschaftlich vorindustriellen Leitbild zugehörig
nachgewiesen. Von frühen Gesellschaftsformen bis zu
den Ausläufern des Patriarchalismus trifft man auf eine vorhandene
eigenständige Jugendwelt, im Bauerntum wie im Handwerk
wie auf der Hochschule. Indem sich die Generation der Jugendbewegung
in einer sich stürmisch industrialisierenden Welt zu
dem älteren Ideal bekannte, orientierte sie sich an einer „überlebten
und in unserer Gegenwart nicht mehr wirksamen epochalen
Sozialverfassung". Dem kam die Jugendpsychologie mit
Einsichten in abgrenzbare Entwicklungsphasen zu Hilfe. Aufgrund
reichen Materials aus Aufsätzen, Fragebogen, Meinungserforschung
wird als Tatsache aufgewiesen, daß die heutige Jugend
ein bündisches Ideal abweist. Es zöge nur 1 —2% der westdeutschen
Jugend an, und sie seien in keiner Weise repräsentativ
. Soweit Jugendverbände noch geschätzt werden, handelt es
sich um solche, „die mit ihrem Wollen in die Erwachsenenwelt
hineinragen". Gewiß wirkt der Schock der politischen Jugendorganisation
aus der Naziära ein, erklärt aber nicht die schroffe
Absage. Sie erwächst mit Notwendigkeit aus der industriell-bürokratischen
Sozialverfassung der Gegenwart, die aus ihren Voraussetzungen
sich weithin eigengesetzlich entfaltet. In ihr hat
die Jugend — bisher - einen eigenen Sozialraum nicht zugewiesen
erhalten. Auf diese Lage ginge die heutige Jugend ein und
erhöbe das Erwachsenseinwollen zu ihrem Leitbild. Sie wolle ihre
Existenz im Daseinskampf sichern und ausbauen, die Berufstätigen
wie die Studenten. Die besten Kenner der früheren Lage
schüttelten ihr Haupt (Spranger u. a.), vorurteilslose Beurteilung
müsse jedoch anerkennen, daß der Weg ins Erwachsenendasein

sicher und erfolgreich gegangen würde. Zustimmend wird Theodor
Geiger zitiert: „Wir erziehen unsere Jugend zu einer falschen
gesellschaftlichen Attitüde: einer sentimentalen nämlich, anstatt
zu intellektueller Disziplin und Gefühlsaskese" (124). Der Hauptteil
des Buches — „die Jugend in ihrer Umwelt" — zeigt ein
imponierendes Bild von dem positiven Verhältnis der Jugend
zu Familie, Arbeit, Beruf. Mit am eindrucksvollsten dürfte der
Nachweis sein, daß die Jugend der Kriegskatastrophe die Familie
wieder entdeckt hat und sie umgekehrt beurteilt wie das Geschlecht
der Jugendbewegung.

Warum aber der Titel „Skeptische Generation"? Weil diese
Jugend der Politisierung und Idealisierung abgesagt hat! Politische
Glaubensbereitschaft und ideologische Aktivität seien „an
der Wurzel vernichtet" (85). Daraus sei — wir wiederholen es —
mitnichten Haltlosigkeit gefolgt, sondern Lebensmeisterung in
nüchternem, skeptischem Wirklichkeitssinn. Die Organisationsmüdigkeit
und -ablehnung entspringt der Ablehnung des politischen
und weltanschaulichen Engagements. Sch. übersieht nicht,
daß Skeptizismus und Realismus etwas Krampfhaftes an 6ich haben
können, fällt aber das Gesamturteil: „In der sich eingliedernden
Anpassung an die Strukturen der Modernität ist die Jugend
heute in vieler Hinsicht den Erwachsenen sogar überlegen
so daß man in ihrer höheren Anpassungsfähigkeit nicht mit Unrecht
die einzige und wichtigste sie von den Erwachsenen unterscheidende
Generationseigenschaft hat sehen wollen" (93).

Damit dürften die Grundlinien des Buches nachgezogen sein. Aus
den Einzelfragen mögen hier nur zwei herausgegriffen werden.

1. Oberschüler und Studenten. Sie empfänden ihre
Ausbildung bereits als eine Form der Berufstätigkeit, darum seien Schulbesuch
und Studium zweckbejaht und auf Lebensbewältigung ausgerich-
tet, — eine alte volkstümliche Anschauung, die in die Bildungsschichten
emporgestiegen ist. Darum auch der Drang nach Arbeit in den Ferien.
„Die .Konsumerfahrung' stellt den Schüler mit den bereits berufstätigen
Altersgenossen gleich und ist daher ein wichtiger Zugang zur Lebensrealität
. Auf der andern Seite aber handelt es sich zugleich um den
Versuch, jene Realität der Arbeitswelt frühzeitig in den Griff zu bekommen
, mit der die pädagogische Situation der Schule nicht konfrontiert
(305). Die „außerschulische Daseinbewältigung" gewönne ständig
an Umfang und Intensität, damit auch die Hinlenkung auf Interessengebiete
, die mit schulischen Interessen in Widerstreit geraten können
. „Welche Interessenbeziehung die bessere Grundlage für die Meisterung
des Lebens, audi des sozialen, für den Durchschnitt der Men-
sdien in der industriellen Welt ergibt, ist durdi Vorurteile der Erwachsenen
über den Wert ihrer eigenen Erziehung nicht ausgemacht" (310).
Aus der außerschulischen Daseinsbewältigung erkläre sich dann wieder,
daß die Lehrerautorität nicht mehr zum „lebensumfas6enden Alpdruck
des Schülers werden könne" (311). Auf den Hochschulen setze sich die
Entwicklung fort „in Richtung einer stärkeren Betonung des Ausbildungscharakters
". Die Examensreglementierung und Pfliditstoffbcwälti-
gung sei soweit vorangetrieben, „daß ein .freies' Studium nach Bildungsgesichtspunkten
nur von sehr wenigen überhaupt geleistet werden kann
und vielfach erhebliche Minderung der Prüfungs-Chancen mit sich
bringt" (314).

2. Jugend und Religion. „Die Versuche, durch Befragung
in tiefere Schichten des Verhältni sses der Jugendlichen zur Religion
und zur Kirche einzudringen, sind nur zu einem kleinen Teil gelungen
" (478). So sind die Ausführungen vorsichtig. Wohl sei der heutige
Jugendliche dem Religiösen sehr offen, allerdings ohne sich engagieren
zu lassen. Es zeige sich eine pragmatistischc Neigung, die in die
Nähe des Experimentes führe; ,was können wir davon brauchen?'. Daneben
spricht Sch. von einem „allgemeinen rezeptologischen Bedürfnis"
(482). Wir bemerken, daß Sch. selbst zum Experiment mit dem nüchternen
Christentum der Tat rät. Der Rez. möchte hier anmerken, daß
er in der angelsächsischen Konvertitenliteratur der letzten Jahrzehnte
die pragmatistisch-experimentelle Haltung zu Religion und Kirche als
Ausgangsbasis von Übertrittsneigungen in reichem Maße angetroffen hat.

Wir können uns keinen Le6er denken, der das anregende,
kenntnisreiche, mit Schwung geschriebene Werk ohne Bereicherung
aus der Hand legt. Es wird viel diskutiert werden. Die
„Generation der vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Männer
" (488) wird sich noch wandeln — wohin? Der Verf. dürfte
in einem seiner Schlußsätze recht urteilen. „Die .skeptische
Generation' ist nur die deutsche Ausgabe der Generation, die
überall die industrielle Gesellschaft konsolidiert" (493). Die
Konsolidierung geschieht in einer weithin konformen, aber noch
unabgeschlossenen Entwicklung. Wird es bei der Skepsis in der
Frage letzter Bindungen bleiben können, in der Frage nach Vater-