Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1958 Nr. 1

Spalte:

56-58

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Theologische Fragen und Antworten 1958

Rezensent:

Kreck, Walter

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

55

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 1

56

nen, eine Masse von Anekdoten und ein lächerliches Häufchen
Zitate, wird vermutlich seine Gründe haben. Die Rücksichtslosigkeit
ihres Denkens, das den traditionsbewußten Bürger mit Absicht
provozierte, wahrscheinlich auch arge stilistische Schwächen
haben ihre Werke zu einem frühzeitigen Untergang verurteilt
; ihre philosophische Haltung hat freilich noch Jahrhunderte
hindurch weiter gewirkt.

Mit ihren Büchern haben sich neben Piaton über den Hellenismus
hinweg nur zwei recht bescheidene Figuren behauptet,
zwei Literaten, an denen die Antike nur dies nachzurühmen fand,
daß sie von einwandfreier Moralität und liebenswürdige Schriftsteller
seien: Aischines und Xenophon. Eigene philosophische
Gedanken hat, wie die Antike mit Recht konstatierte, keiner
von beiden besessen. Aber sie lasen sich gut, erheblich leichter
als Piaton. Gegen Ende des Altertums ist auch Aischines auf
der Strecke geblieben. Doch Xenophon rettete sich, und zwar, wie
man sagen darf, durch eine Verkettung glücklicher Umstände.
Sie begann damit, daß Zenon, der Gründer der Stoa, Xenophons
Sokratika aufgriff, allem Anscheine nach zunächst einfach, um
sie gegen Piatons Sokratesbild auszuspielen. Sie endete damit,
daß Xenophon zu einem Lieblingsautor der gebildeten Römer
6eit der Scipionenzeit wurde. Er empfahl sich durch seine geistige
Simplizität, seine unbeirrbare Tugendhaftigkeit und dadurch, daß
auch in seinen Sokratika oft die Haltung des Offiziers durchschlägt
, der vor allem an der Kunst der Menschenführung interessiert
ist. Was wir etwa an Resten der Schriften des alten Cato
besitzen, zeigt zuweilen eine erstaunliche Nähe zu Xenophon.

Und so lesen wir ihn noch heute, was eigentlich keineswegs
selbstverständlich ist. Denn sein Stil ist nicht besonders gut
(daß er sich einige Regeln des „höheren Stils" angeeignet hat,
hat ihm nicht viel geholfen), die Kohärenz der einzelnen Kapitel
oft mehr als fragwürdig und der geistige Abstand zwischen einem
beliebigen Buch der Memorabilien und — beispielsweise — Piatons
Gorgias ein ungeheurer. Allerdings ist der Gerechtigkeit
halber sofort beizufügen, daß die Sokratika Xenophons am wenigsten
geglücktes Werk sind. Ein Blick auf die Anabasis oder
die Kyrupädie zeigt, daß er ein prächtiger und kluger Erzähler
sein konnte, wenn ihm der Stoff lag. Da muß also sorgfältig
nuanciert werden, mag auch manchen Modernen, die das nachdenkende
Lesen verlernt haben, ein derartiges „Zensuren austeilen
" bei einem „Klassiker" als ein Greuel vorkommen.

Außerdem ist noch etwas zu sagen. Xenophons Memorabilia
enthalten zuweilen erstaunlich wichtige Gedanken, bloß in einer
sonderbar verdünnten, kraftlosen, verbrauchten Gestalt. Es ist,
wie wenn das, was er sagt, schon durch mehrere Hände gegangen
wäre. Man glaubt zuweilen, hinter der Gewöhnlichkeit der träge
dahinfließenden Sätze Gedanken von altertümlicher Strenge zu
ahnen, Gedanken, die älter wirken als die Logoi Piatons. Hier
steckt die geschichtliche Bedeutung der Sokratik Xenophons. Als
Xenophon schrieb, waren viele Dialoge Piatons schon erschienen.
Aber was Xenophon in Erinnerung zu rufen suchte, war die Welt
der ältesten Sokratik, älter als Piatons Ladies und Charmides.
Eine Kleinigkeit persönlicher Reminiszenzen kam ihm zu Hilfe,
vor allem aber die Schriften der ältesten Sokratesschüler (An-
tisthenes, Aischines, vielleicht noch andere), von denen er manches
gekannt haben wird. Auf diese älteste Sokratik hatte ja bald
nach 3 86 v. Chr. der Literat Polykrates durch seine geschickt angelegte
und erfolgreiche Anklageschrift aufmerksam gemacht.
Hier hakte Xenophon ein, wenn auch zwanzig Jahre später.

Allein das ist hier nicht weiter auszuführen. Das Gesagte
soll nur begründen, wie wichtig uns Xenophon als „archimedischer
Punkt" jenseits des Corpus Platonicum zu sein scheint
und wie sehr wir darum eine Übersetzung wie die vorliegende
begrüßen. Denn es lohnt sich, Xenophon zu lesen, und zwar nicht
nur für den Philologen, sondern auch für den Philosophen und
Theologen (es genüge, auf die beiden Kapitel I, 4 und IV, 3 der
Mem. hinzuweisen, die durch Vermittlung der Stoa einen außerordentlichen
Einfluß auf die theologia naturalis des Abendlandes
ausgeübt haben). Nur muß man ihn sehr genau lesen. Dem tieferen
Verständnis Xenophons hat nichts so sehr geschadet wie
das flüchtige, halb gelangweilte, halb gerührte Lesen, zu dem
man durch Xenophons Stil immer wieder verführt wird.

Man darf hoffen, daß auch die vorliegende Übersetzung zum genaueren
Lesen anregen wird. Sie liest sich recht flüssig, und nur gelegentlich
hat man den Eindruck, daß ihr eine letzte Überprüfung gefehlt
haben könnte. Um gerade die den Theologen interessierenden
Kapitel herauszugreifen: in I, 4, 2 wird man bedauern, daß rjxovoa
untergegangen ist; I, 4, 4 ist von Xenophon schlecht formuliert, aber
der Gegensatz von eidcoXa und (<T>a kann schwerlich so aufgefaßt werden
, wie es der Übersetzer tut (vgl. meinen Kommentar zu Mem. I
Basel 1953, S. 125 ff.). Auch würde ich ungern otov e'vexa mit „Existenzberechtigung
" übersetzen, wie ich mich auch scheuen würde, in
I, 4, 17 für xr/v ev ito navxi cpgovrfoir den durch die Philosophie des
Idealismus vorbelasteten Begriff des „Weltgeistes" einzuführen. Desgleichen
möchte ich so spezifisch christliche Begriffe wie „begnaden"'
(I, 4, 13) und „Gnade des Himmels" (IV, 3, 16) bei einem Xenophon
lieber aus dem Spiele lassen. Ich glaube auch nicht recht, daß Xenophon,
der ein handfester Realist war, bei nävxwvxmyaya#ö>v (IV, 3,12) an
„alle hohen Werte" gedacht hat; er hat die Güter gemeint, die man zur
Führung eines erfreulichen und erfolgreichen Lebens braucht. Endlich
würde man wohl auch IV, 3, 13 etwas anders fassen, abgesehen davon,
daß da ein recht merkwürdiges Satzglied in der Übersetzung verloren
gegangen ist. Ein guter Gedanke war es, den Mem. eine Übersetzung
der Xenophonvita des Diog. Laert. voranzustellen. Da zeigt sich am
besten, was die Antike von Xenophon gewußt und wie sie ihn eingeschätzt
hat. Dagegen wird man lebhaft bedauern, daß mit erläuternden
Anmerkungen derart gespart wurde. Sie beschränken sich fast ganz
auf die Erläuterung einiger Realien. Mehr als einmal wünschte man an
ihrer Stelle (zumal in einem philosophischen Studientext) einen knappen
Hinweis auf gedankliche Parallelen bei Piaton und Aristoteles oder
auf die Nachwirkungen in der Stoa. Einige Fehler seien rasch korrigiert:
S. 7, Anm. 2 sollte es statt „Demen" vielmehr „Phylen" heißen, und
der Verweis der nächsten Anm. auf S. 59, Anm. 1 ist wohl auch nur
ein Versehen. Die in der Xenophonvita genannte Schrift eines Aristippos
trägt zwar den Namen des alten Kyrenaikers, stammt aber nach Wila-
mowitzens überzeugender Darlegung (Antigonos v. Karystos, Berlin
1881, S. 47 ff.) aus dem 3. Jhdt. v.Chr. In S. 25, Anm. 1 wäre ein
knapper Hinweis auf das Bild des Kritias in Piatons Charmides nicht
uninteressant gewesen, und schließlich ist in S. 115, Anm. 2 für den
alten Erechtheus eine Sage beansprucht, die dem relativ spät erfundenen
Eridithonios angehört.

Vielleicht können diese Desiderata in einer zweiten Auflage
berücksichtigt werden. Solche Übersetzungen sind ja doch
immer willkommen, und daß sich die Wissenschaft von verschiedenen
Seiten her mit Xenophon beschäftige, ist äußerst wünschbar
. Denn je näher man ihm tritt, desto mehr zeigt sich, daß er
bedeutend schwieriger zu begreifen ist als man zuerst meinte.

Bern OlofGigon

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Barth, Karl: Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge
, 3. Band. Zollikon-Zürich: Evang. Verlag 1957. 317 S. 8°.
Lw. DM 21.60.

Diesen dritten Aufsatzband Karl Barths — Martin Niemöller
gewidmet — ausführlich zu besprechen, das hieße, zwei Jahrzehnte
des theologischen Weges Barths, wie er sich in diesen
Veröffentlichungen aus den Jahren 1923 bis 1942 widerspiegelt,
nachzuzeichnen. Daß dies hier nicht möglich ist, bedarf keiner
Begründung. Aber auch eine nur grobe Inhaltsübersicht über
diese (bereits anderweitig erschienenen) Vorträge würde zu weit
führen. (In der Mehrzahl handelt es sich um Aufsätze, die in
„Zwischen den Zeiten" oder „Theol. Existenz heute" erschienen
sind.) Wollte man den Inhalt des Bandes mit 3 Stichworten umschreiben
, so könnte man den Titel der 3 in Paris gehaltenen
Vorträge „Offenbarung, Kirche, Theologie" wählen. Denn das
Verständnis der Offenbarung und damit zusammenhängend der
Aufgabe der Theologie steht schon im Mittelpunkt des Briefwechsels
mit Harnack (1923), darum geht es in den Dortmunder
Vorträgen über „Schicksal und Idee der Theologie" (1929), dem'
Kopenhagener Vortrag über „Das erste Gebot als theologisches
Axiom" (1933) und dem Baseler akademischen Vortrag über die
„Grundformen des theologischen Denkens" (1936), während
6ich die meisten während des Kirchenkampfes gehaltenen Vorträge
den Problemen der Gemeinde und Kirche direkt zuwenden
(wie: „Der Christ als Zeuge", „Der Dienst am Wort Gottes",
„Die Kirche und die Kirchen", „Die theol. Voraussetzungen