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Ausgabe:

1958 Nr. 11

Spalte:

755-760

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Scholem, Gershom

Titel/Untertitel:

Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen 1958

Rezensent:

Rosenkranz, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 11

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bruchs der Gottesherrschaft, daß die Person Jesu in den wunderbaren
Ereignissen im Mittelpunkt steht, die nicht in der
Öffentlichkeit geschehen, das kann der Verf. natürlich von seinem
Ansatz her nicht sehen. „Die richtige Vernunft" „beweist" ja
„die Grundlagen des Glaubens" (37); da bleibt kein Raum für
das Ärgernis, das die Frommen nach den Evangelien an Jesu
Wundern nehmen. Das alles kann freilich auch nur sichtbar werden
, wenn man nicht nur mit der sekundären Literatur arbeitet,
sondern aus den Quellen wirklich „exegetisch und religionswissenschaftlich
" (3) „die Zeugen" vernimmt (37).

Halle a/S. Gerhard Delling

ALTES TESTAMENT

S coolem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen.

^Frankfurt/M.: Metzner [1957]. XVI, 490 S. 8°. Lw. DM 29.—.

' Wir hatten bisher in Deutschland nur spärlich Gelegenheit,
uns über jüdische Mystik als Ganzes zu unterrichten. G. van der
Leeuw räumt in seiner „Phänomenologie der Religion" der Mystik
zwar den Platz ein, der ihr gebührt, und belegt ihre Varianten
durch zahlreiche Beispiele aus dem Buddhismus, Christentum
und Islam, erwähnt aber die jüdische Mystik nicht. Was sich an
Einzeluntersuchungen vorfindet, ist vielfach schwer erreichbar
und auf wenige Forscher beschränkt, unter denen Gershom
Scholem einen hervorragenden Platz einnimmt. Das vielbeachtete
und umfangreiche Schrifttum Martin Bubers zum Chassidismus
beschäftigt sich mit der letzten, heute noch lebendigen Epoche
der jüdischen Mystik, dem Chassidismus in Polen, einer „Gefühlswelt
", die — wie Scholem schreibt — „Geister, die um eine
geistige Erneuerung des Judentums bemüht waren, mit großer
Kraft anzog" (S. 357).

Es ist darum zu verstehen, daß Scholems Buch „Major Trends
in Jewish Mysticism", 1941 in Amerika erschienen, im englischen
Sprachbereich und auch in Frankreich stärkste Beachtung gefunden
hat und daß immer wieder der Wunsch laut geworden ist,
es möge eine deutsche Ausgabe des Buches erscheinen. Der
„Abgrund zwischen dem jüdischen und deutschen Volk in den
Jahren der Katastrophe und Vernichtung" war die Ursache, daß
sich die Erfüllung des Wunsches verzögerte (S. VIII). Daß sie jetzt
möglich wurde, ist nicht zuletzt den Verlegern in Zürich und
Frankfurt zu danken. „Für die Herstellung dieser Ausgabe konnten
", so teilt Scholem mit, „umfangreiche deutsche Entwürfe, die
dem englischen Text zum Teil zugrunde lagen, benutzt werden.
Jedoch ist der Text nach der dritten englischen Auflage (Schocken
Books, New York 1954) berichtigt worden. An mehreren Stellen
habe ich auch weitere Veränderungen vorgenommen sowie einiges
anders formuliert" (S. VII).

Das Buch enthält in neun Kapiteln neun Vorlesungen, deren
Inhalt in jahrelanger Forschungsarbeit erarbeitet wurde. Scholem
hat in ihnen „mehr Gewicht auf Analyse und Interpretation des
mystischen Denkens selber als auf die historischen Verbindungen
zwischen den verschiedenen Systemen" gelegt (S. X f.). Die Gefahr
einer Aneinanderreihung in sich geschlossener Teilstücke ist
dadurch wenigstens gemindert, daß Scholem die verschiedenen
Komplexe durch Vergleiche miteinander verknüpft hat. Bei einem
Verfasser, der so viele Einzeluntersuchungen zum Thema geleistet
hat wie Scholem — die Bibliographie bezeugt das eindrucksvoll —,
der überdies immer wieder genötigt ist, abweichende Meinungen
gegenüber Thesen und Hypothesen anderer Forscher zu begründen
, ist es zu verstehen, daß seine Darstellung bei dem an Spezial-
forschungen nicht 60 sehr interessierten Leser den Eindruck erweckt
, er verliere sich in Einzelheiten. Scholem weiß das und
billigt selbst „Lesern, die nur geringes Interesse für Probleme
der literarischen und historischen Kritik haben", zu, daß „sie
nicht viel versäumen, wenn sie das fünfte Kapitel", in dem er
sich mit dem Sohar und seinem Verfasser beschäftigt, „überspringen
, so wichtig mir selber auch die Ergebnisse dieser Analyse
erscheinen" (S. XI). 87 Seiten Anmerkungen und bibliographische
Hinweise zu den einzelnen Kapiteln ergänzen, ein detaillierter
Index erleichtert die Lektüre des Buches.

Scholem stellt im 1. Kapitel „allgemeine Wesenszüge
der jüdischen Mystik" fest. Er geht

davon aus, daß es „eine bestimmte fundamentale Erfahrung des
eigenen Selbst, das in einen unmittelbaren Kontakt mit Gott oder
der metaphysischen Realität tritt, ist, die die Haltung des Mystikers
bestimmt" (S. 5). Daß diese Erfahrung keineswegs immer
als unio mystica zu beschreiben ist, beweist u. a. gerade die
älteste jüdische Mystik, die Scholem im 2. Kapitel behandelt. Auch
darauf weist er mit Recht hin, daß es eine Mystik an sich oder
für sich, etwa im Sinne einer die historischen Religionen aufhebenden
Universalreligion, mit der heute nicht wenige liebäugeln,
nicht gibt, sondern daß jede Mystik ihr Gepräge von der Religion
empfängt, in der sie existiert. Die jüdische Mystik ist also durch
die dem Judentum eigenen religiösen Werte bestimmt, d. h. durch
die „Fragen der Einheit Gottes und des Sinns seiner in der Tora,
dem heiligen Gesetz, niedergelegten Offenbarung" (S. 11). Beide
werden mystisch interpretiert, wobei die Tora nicht nur als „das
historische Gesetz von Gottes Volk, obwohl sie das a u c h ist",
gesehen wird, sondern vielmehr als „das kosmische Gesetz aller
Welten, das der göttlichen Weisheit entsprang" (S. 15). Dabei
wird sich die jüdische Mystik der Unzulänglichkeit bewußt, Un-
aussagbares auszusagen, obwohl sie darin schwelgt, es doch zu
tun. Diese Erfahrung teilt sie mit aller Mystik; unterschieden
aber ist sie von ihr dadurch, daß sie kaum und dann fast immer
nur unveröffentlichte handschriftliche Selbstdarstellungen von
Mystikern aufweist. Das gibt ihr den Charakter des Unpersönlichen
, der aber im Bereich der Erfahrung durchaus individuelle
Erlebnisse zuläßt. Darüber hinaus ist sie so reich an verschiedenen
Schulen, daß sich die Frage stellt, was ihnen gemeinsam ist. Ein
erstes Gemeinsames kommt in der Bezeichnung der jüdischen
Mystik als Kabbala zum Ausdruck. „Kabbala bedeutet wörtlich:
Tradition. Es ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Paradoxie
im religiösen Bewußtsein der Mystiker, daß hier also gerade diejenige
Lehre, die den unmittelbaren persönlichen Kontakt mit
Gott zum Gegenstande hat, also ein scheinbar ganz persönliches
und intimes Wissen, eben gerade als überliefertes Wissen verstanden
wird" (S. 22). Ekstatische Schau und Bindung an die
Überlieferung, die bis zur Uroffenbarung Gottes an Adam zurückreicht
, fallen zusammen. Ein zweites Merkmal der Kabbala findet
Scholem, indem er jüdische Mystik und jüdische Philosophie miteinander
vergleicht. Beide haben, in ihren Anfängen mannigfach
aufeinander bezogen, dem alten Judentum neues Leben gegeben;
aber während „der Philosoph sein eigentlichstes Leben er6t da
fand, wo er die Wirklichkeit des Judentums, die ja ganz konkret
ist, in Allgemeines auflösen konnte" (S. 28), bedient sich der
Kabbaiist nicht, wie jener, der Allegorie, in der „der Gegenstand,
auf den sie angewandt wird, sein ihm eigenes Sein zugunsten
eines anderen, dem er als Vehikel dient, verliert" (S. 29), sondern
des Symbols, das „etwas sichtbar werden läßt, was jenseits
aller Bedeutung steht" (S. 30). Das bedeutet, daß durch die jüdische
Mystik in der jüdischen Religion, die ihrem Wesen nach
mythosfeindlich ist, das mythische Denken Eingang gefunden hat.
Damit ist es ihr im Gegensatz zu den Philosophen gelungen,
„eine Verbindung von gewissen elementaren Impulsen des Volksglaubens
herzustellen" (S. 38). So sehr Scholem hervorhebt, wie
sie dadurch auf Grundfragen menschlicher Existenz eine Antwort
zu geben vermochte, die die Philosophie schuldig blieb, verkennt
er doch auch die Gefahr nicht, die ihr hier drohte: „Die Philosophie
ist in Gefahr geraten, den lebendigen Gott zu verlieren,
und die Mystik, die ausging, ihn zu bewahren, die den Weg des
Juden zur religiösen Erfahrung mit neuem Glanz umkleiden
wollte, hat auf ihrem Weg den Mythos wieder angetroffen und
drohte in seinem Labyrinth sich zu verlieren" (S. 40). Kennzeichnend
für die Kabbala ist weiterhin ihre Stellung zur Halacha,
Agada und Liturgie. Die Kabbalisten „betrachten die Übungen
der Gebote als geheime Mysterienhandlung" (S. 32), vermögen
„die Agada lebendig fortzuentwickeln und umzuwandeln, sei es
auch aus mystischem Geiste heraus" (S. 33), und erschließen sich
„in den Worten de6 Gebets, ganz wie in den alten Agadoth . . .
die geheimen Welten" und „den Weg zu den Urgründen alles
Seins" (S. 37). Ein letztes, sehr bedeutsames Merkmal der Kabbala
ist, daß sie „sowohl im Historischen wie im Metaphysischen
von Männern für Männer gemacht ist" (S. 40). Es gibt keine jüdischen
Mystikerinnen. „Die Kabbala hat auch diesen Verzicht
auf das Weibliche teuer bezahlt, der vielleicht mit einer beson-