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Ausgabe:

1958 Nr. 1

Spalte:

52

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Runes, Dagobert D.

Titel/Untertitel:

On the nature of man 1958

Rezensent:

Schrey, Heinz-Horst

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 1

52

ahd. Tatian) und in Wulfilas gotischer Bibel vorhanden ist. Die Brücke
zwischen ältestem und neuestem Deutsch bilden die BM, deren mit
sein gebildete Praesentia Passivi schon E. Brodführer (Unters, z. vor-
luther. Bibelübers., 1922, S. 114f.) aufgefallen sind, und Luther, bei
denen beiden sich die Frage durch die (auch für das Neuhochdeutsche
geltende) Vermischung von ist, war gefunden mit ist, war gefunden
worden — d. h. des sein-Praesens' bzw. -Praeteritums mit dem
werden-Perfectum bzw. -Plusquamperfectum — kompliziert. In T.s
Textbuch hat man nun alle notwendigen Glieder für die Beurteilung
dieser passivischen Gefüge bequem überschaubar nebeneinander — nur
Wulfila fehlt.

Machen wir die Probe an L 1, 1—20, so zeigt sich, daß das alte
Zustandspraesens bis ins 18. Jahrhundert durchsteht: L, 1,4 nsoi q>v
xaxr)ir{)r]g = Vulg.: de quibus eruditus es = Wulfila: bi fioei
galaisips is = Tat.: ton them thü gilerit bist «= BM: von den
du bist gelert = Evangelienbuch: von den du undirwlset bist
= Lu.: wilcher du vntenichtel bist = Zinzendorf: darinnen du
unterrichtet bist — erst Menge hat: in denen du unterwiesen
worden bist, was dem Urtext genauer entspricht, aber den bisherigen
deutschen Sinn „du bist ein Unterrichteter" verschiebt. Ähnlich L 1, 13
ötÖTi eiarjy.ovadr) »; derjok oov = Vulg.: quoniam exaudita est
deprecatio tua = Wulfila: dupe ei andhausida ist bida peina
= Tat.: uuanta gihbrit ist ttiin gibet = BM: wann dein gebet
das ist derhört = Evangelienbuch: wan din gebet ist irhört = Lu.
denn deyn gepet ist erhöret = Zinzendorf: denn dein gebet ist
ja erhöret gegen Menges denn dein Gebet hat Erhörung gefunden
(es ist also ein erhörtes!). Schließlich L 1, 19 xai &ntat&Xrjv
laXrjaai ngo; ai = Vulg. et missus sum loqui ad te = Wulfila:
jah insandips im rodjan du fius = Tat.: inti bim gisentit zi
thir = BM: vnd ich bin gesant zu dir zereden = Evangelienbuch:
und bin gesant zu redene zu dir = Lu.: vnnd bynn gesand mit
dyr zu reden, die alle etwas über das Sein des Engels aussagen
wollen, nämlich daß er ein Gesandter Gottes i s t. Diesmal ist schon
Zinzendorf abgewichen: und er hat mich abgeschickt mit dir zu
reden und hat den Akzent auf die Handlung Gottes gelegt, was Menge
wieder rückgängig gemacht hat: und bin abgesandt, um mit dir
zu reden, aber das Präfix ab- verrät, daß er auch ohne worden das
Perfectum des werden-Passivs meint.

Die Rechnung geht nicht immer und überall so glatt auf. L 2, 11
Sxi iteyjlr) v(mv ormsgov ocottfg = Vulg.: quia nafus est vobis
hodie Salvator = Wulfila: Paiei gabaurans ist izwis himma
daga nasjands = Tat.: bithiu uuanta giboran ist iu hiutu Helfant
= BM: wann heut ist vns geborn der behalter = Evangelienbuch
: Wan hüte ist uns geborn der heilant = Lu.: denn
euch ist heulte der heyiand geporn = Zinzendorf: Denn es ist
heute in der stadt David vor euch ein Heyland geboren =
Menge: Denn euch ist heute ein Retter geboren — ist wohl von
Anbeginn das Perfekt des werden-Passivs intendiert gewesen: „dei
Heiland ist heute geboren worden"! Das wäre als Unvollkommenheit
des Systems zu registrieren oder als Ausnahme zu erklären. Selbstverständlich
reicht das von T. vorgelegte Material nicht aus, die Frage
zu beantworten, aber es stellt sie wie viele andere und fördert ihre
Erkenntnis durch sprachgeschichtlichen Vergleich.

Der theologische Leser möge den allzu philologischen Exkurs
des Rezensenten mit Nachsicht aufnehmen. Er führt nur
scheinbar von seinem eigensten Anliegen ab. Auch der Dienst
am göttlichen Wort gedeiht nicht ohne die Liebe zu seinem
sprachlichen Vehikel und dessen zeitbedingten Wandlungen.
Denn jede Bibelübersetzung ist immer zugleich Interpretation
oder — theologischer ausgedrückt — Auslegung des göttlichen
Worts und somit Teilhabe an seiner irdischen Verleiblichung.
Durch Luthers es steht geschrieben für das griechische Perfectum
yeyQamat scheint uns das Wort der Schrift erst recht
unverrückbar zu werden. In verstärktem Maße gilt das, wo das
Zustandspraesens für den griechischen Aorist eintritt wie L 10, 20
Xaigexe de ort rä ovo/xaxa v/ueöv eyoäcpri iv roig ovQavoTg
= Lu.: frewet euch aber, das ewre namen ym hymel geschrieben
sind (= Wulfila: ip iaginod in pammei namna
izwara gamelida sind in himinam). Und wenn Luther Christus
sagen läßt L 10,22 Es ist myr alles vbirgeben von mey-
nem vatter (= Wulfila: all mis atgiban ist iram attin
meinamma), so klingt das wiederum um einige Grade gewisser
als das griechische nävra /xoi Ttagedödt] vnb zov jiaxQÖg /uov.

T.s Buch ist ein Geschenk für den Philologen und kann das,
glaube ich, auch für den Theologen werden, wenn er es recht
zu lesen versteht.

Halle/Saale Werner Sch röd e r

PHILOSOPHIE UND HELIGIONSPHILOSOPHIE

Run es, Dagobert D.: On the Nature of Man. An Essay in Primitive
Philosophy. New York: Philosophical Library [1956]. V, 105 S. 8°.
$ 3.-.

„Das Zögern ist der Anfang der Philosophie und Liebe ihr
Ziel" — so umschreibt Dagobert D. Runes den Spannungsbogen
seiner Aussage über den Menschen. Zu der von Runes geübten
„hesitance" gehört der Abbau der menschlichen Einbildung, sich
selbst als Krone der Schöpfung zu verstehen und die eigene
kleine Welt für die Welt schlechthin zu halten, das Finden des
rechten Maßes, der Bescheidenheit, aus der dann auch Freundlichkeit
, Vergebung, Liebe wachsen kann. Der Prozeß der Desillusio-
nierung führt Runes zu einer Polemik gegen den evolutionisti-
schen Optimismus, der schon dadurch widerlegt wird, weil selbst
im kultiviertesten Menschen der Neuzeit prähistorische Jäger-
und Kriegerinstinkte leben, die vom Standpunkt des Evolutionismus
eigentlich als Atavismen betrachtet werden müssen. Auch
die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft unterzieht Runes
einer desillusionierenden Kritik, da heute wie einst die Gesetze
Ketten der Diktatoren sind und die Menschen vor der Frage
stehen, ob sie den gewohnten Pfad der Unterwerfung unter die
totalitäre Ordnung weitergehen oder lieber den Weg der Freiheit
und Selbstbestimmung wählen wollen. Zu den heute noch
wirksamen Atavismen gehört auch die Vorstellung von Gott als
dem Feind, den der Mensch durch Opfer versöhnen muß. Hier
gerät Runes hart an die Grenze eines völligen Skeptizismus, der
allerdings durch das Bekenntnis zum ,,Adonai Echod", dem Einen
Gott, aufgefangen wird. Der Weg zu ihm geht nicht über Opfer,
sondern über die Liebe zum Menschen. In der Menschenliebe
sieht Runes nicht nur den Gipfel des Menschentums, sondern
auch die letzte Möglichkeit der Erkenntnis. Die Atmosphäre des
Buches ist die des liberalen Judentums mit der ihm eigenen Skepsis
, Brillanz der Analyse, aber auch der Indifferenz gegenüber
dem christlichen Glauben.

Berlin H.-H. Schrey

R ö s s I e r, Roman: Das Weltbild Nikolai Berdjajews. Existenz und
Objektivation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956. 179 S.
gr. 8° = Forschungen zur systematischen Theologie und Religionswissenschaft
, Bd. 2. Lw. DM 16.80.

Diese Forschungsarbeit, die als Bd. II der Reihe „Forschungen
zur Systematischen Theologie und Religionswissenschaft"
erscheint, stellt eine vortreffliche Leistung in der Systematisierung
der weitverzweigten Gedankenwelt Berdjajews dar.

Nikolai Berdjajew ist wohl einer der fruchtbarsten, vielseitigsten
und eigenwilligsten Denker unter den neuesten russischen
Philosophen, das zeigt schon rein äußerlich die große
Mannigfaltigkeit der von ihm aufgegriffenen und behandelten,
philosophischen, soziologischen, ethischen, religiösen, theologischen
Fragenkomplexe, Probleme, zu denen er in zahlreichen
Aufsätzen und Werken Stellung genommen hat. Man geht nicht
zu weit, wenn man ihn als einen Apostel der Freiheit der Persönlichkeit
bezeichnet. Er verteidigt die freie Persönlichkeit gegen:
alle Weltgegebenheiten sowohl der Natur als auch der Gesellschaft
, ja, gegen alle institutionellen Autoritäten, seien es staatliche
oder kirchliche. „Sich vor dem empirischen Faktum zu beugen
", sagt Berdjajew, — „das ist Idolatrie vor dem Altar der
Notwendigkeit und nicht Gottesdienst vor dem Altar der Freiheit
". In dieser Beziehung steht Berdjajew Alexander Herzen
und auch Belinskij sehr nahe, der sich zornerfüllt von Hegel abwandte
, weil Hegel den Menschen lediglich als Objekt des absoluten
Geistes bezeichnete, als Mittel also, um nur sich selbst
zu verwirklichen. Mit seinen Maximen und kühnen Formulierungen
, die Berdjajew im Namen der freien Persönlichkeit gegen
alle Weltgegebenheiten, Institutionen, Autoritäten und Dogmen'
schleuderte, hat er immer wieder Ärgernis sowohl bei den Marxisten
als auch Theologen und Hierarchen angerichtet und einen
lebhaften Meinungsstreit hervorgerufen.

Die Persönlichkeit darf keinem Sozialisierungs- und Kollek-
tivisierungsprozeß unterliegen, sie darf nie zum Objekt wer--