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Ausgabe:

1958 Nr. 10

Spalte:

707-709

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Die mündliche Überlieferung 1958

Rezensent:

Skydsgaard, Kristen Ejner

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707

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 10

708

vB»-cht, H., Fries, H., u. R. ]. Geiselmann: Die mündliche
XÜberlieferung. Beiträge zum Begriff der Tradition, hrsg. v. Michael
Schmaus. München: Hueber 1957. VII, 209 S. 8°. Lw. DM 12.80.

Der Begriff der dogmatischen Tradition „gehört zu den am
meisten umstrittenen theologischen Problemen", stellt Professor
Schmaus in seinem Vorwort fest. Um „klärend und vertiefend"
auf „die im Fluß befindliche Diskussion" einzuwirken, sind diese
drei Vorträge entstanden und müssen als solche mit Anerkennung
und Dankbarkeit entgegengenommen werden. Die Verfasser
wissen, daß das letzte Wort in dieser Frage noch nicht gesagt
worden ist, daß eingehendere systematische Untersuchungen noch
ausstehen, daß noch manche Formulierungen unklar sind und daß
viele Schwierigkeiten vielleicht noch gar nicht gesehen sind. Das
hindert nicht, daß diese Vorträge einen anregenden und sehr
interessanten Beitrag zum Problem geben.

Die Abhandlungen greifen das Problem von drei sehr verschiedenen
Aspekten an, kommen aber doch zuletzt zu einer
gemeinsamen Auffassung der Tradition als etwas Organischem
und Dynamisch-Lebendigem, worin der Begriff der vom Heiligen
Geiste geleiteten Entwicklung eine wenn auch noch nicht geklärte
, so doch notwendige und entscheidende Rolle spielt. Es ist
wohl kaum zu viel gesagt, daß dieser Begriff der „lebendigen
Tradition" einen sensus communis der katholischen Theologie
darstellt, mit dem der evangelische Theologe heute sich eindringlich
beschäftigen muß. Eine Menge von anderen theologischen Begriffen
muß von da aus in einem neuen Lichte gesehen werden.

Badit geht in seiner Abhandlung: „Tradition und Lehramt
in der Diskussion um das Assumpta-Dogma" von der protestantischen
Kritik aus (v. Loewenich, Cullmann und Ebeling). Nach
einem recht summarischen, aber präzisen und loyalen Referat
versucht nun Bacht auf diese Kritik einzugehen, indem er zugibt,
daß viele Theologumena, um von den protestantischen Theologen
in ihrer Tiefe und Notwendigkeit recht verstanden werden zu
können, neu geklärt werden müssen, ja, er spricht von „neuen
Lösungsversuchen" und greift, um das zu zeigen, drei Themen
heraus: die Frage der Offenbarung, der Abgeschlossenheit der
Offenbarung und der Dogmenentwicklung. Es ist auffallend, wie
diese Neubesinnung über den Offenbarungsbegriff mit evangelischer
Theologie übereinstimmt — bis in die sprachliche Formulierung
hinein. Es wird vor einem abstrakten, intellektualistischen
Offenbarungsbegriff ernstlich gewarnt zugunsten einer lebendigen,
historischen Tat- und Wort-Offenbarung. Es scheinen in der Tat
neue Lösungsversuche zu sein, die sicher nicht von evangelischer
Theologie ganz unbeeinflußt sind. Der entscheidende Unterschied
kommt erst in der Behandlung des dritten Punktes zum Vorschein,
in der Frage der Dogmenentwicklung. Hier wäre es wünschenswert
gewesen, daß Bacht sich klarer und nicht so unproblematisch
ausgedrückt hätte. Es fragt sich, ob diese Darstellung, die die
katholische Position den evangelischen Theologen zugänglicher
machen sollte, nicht doch mehr Fragen aufwirft als Antworten
gibt. Denn was bedeutet in letztem Sinne Dogmenentwicklung?
Eine Frage hätte hier kritisch und tiefgehend und mit einer gewissen
verstehenden Rücksichtnahme auf die protestantische Kritik
behandelt werden müssen, nämlich die so häufig gebrauchte
Distinktion zwischen der objektiv abgeschlossenen Offenbarung
als Depositum Fidei und dem Modus der Aneigung, dem subjektiven
, stets wachsenden Glaubensbewußtsein der Kirche und dem
damit zusammenhängenden Begriff des vorwärtstreibenden „sensus
christianus fidelium". Sonst wird diese Distinktion leicht einer
unklaren und das wahre Problem verschleiernden Zweideutigkeit
anheimfallen. Bacht gibt in seinem sehr instruktiven Aufsatz
wohl die Prämissen zum Gespräch, das Gespräch selbst fällt aus,
weil die katholische Position — auch in dieser Neubesinnung —
zu „thetisch" hervortritt.

Das Problem der Entwicklung wird noch klarer im Artikel
von H. Fries, der ein schönes und überzeugendes Bild vom theologischen
Entwicklungsgang Newmans gibt. Der Eindruck von
der Größe, Originalität und von dem ganz entscheidenden Einfluß
Newmans auf die heutige katholische Theologie wird bestätigt
. Zugleich wird es ganz klar, wo das Gespräch einsetzen
mi ß. Wenn Newman sagt, daß die Tradition „als authentische,
geruine, legitime und notwendige Entwicklung der Offenbarung
selbst" (S. 101) anzusehen ist und weiter unter Entwicklung „den

Prozeß der Entfaltung und Ordnung der Aspekte einer Idee",
die „Durchführung einer Idee bis in ihre letzten Folgen" versteht,
dann muß die Frage gestellt werden, wo hier prinzipiell
die Grenze zwischen einem merkwürdigerweise von der Romantik
oder von einer quasi-hegelschen Geschichtsphilosophie beeinflußten
Entwicklungsbegriff und dieser Anschauung der Tradition
verläuft, die ja nicht etwa am Rande der heutigen katholischen
Theologie, sondern mehr und mehr in deren Mitte steht.

Das Problem ist wichtig, weil es in allen Kirchen gestellt
ist, ganz besonders in den von der Reformation ausgegangenen
Kirchen. Auch hier muß mit einer Geschichte, mit einer Überlieferung
und mit einem Wirken des Heiligen Geistes in der Geschichte
gerechnet werden. Darum gehen diese Fragen auch die
evangelische Theologie an, darum wird sie durch die katholische
Theologie aufgefordert, Stellung zu nehmen. Was bedeuten hier
Geschichte, Überlieferung und „Entwicklung"? Sie sieht in den
neuen Lösungsversuchen der katholischen Theologie sehr schwere
Probleme auftauchen, die bis jetzt nur spärlich behandelt worden
sind, die aber einen fruchtbaren, wenn auch harten Boden eines
strengen theologischen Gespräches zwischen den Konfessionen
ausmachen, eines Gespräches, das auch für die katholische Theologie
nicht überflüssig sein kann.

Bei Geiselmann's Artikel kommen wir zu demselben Ergebnis
. Sein Thema ist die tridentinische Auffassung des Verhältnisses
von Schrift und Tradition und ein ideengeschichtlicher Abriß
dieses Problemes für die nachfolgenden Jahrhunderte.

An Hand der Quellen zeigt Geiselmann, daß das „et" in
Denzinger 783: „in libris et sine scripto traditionibus" nicht
als ein „partim-partim" verstanden werden darf, so wie es in
der nachtridentinischen Theologie bei Canisius und bei Bellarmin
der Fall gewesen ist. Dieses „et" bedeutet nicht eine Dog-
matisierung der Insuffizienz der Schrift, ja, besagt überhaupt
nichts über das Verhältnis von Schrift und Tradition, sondern
zeigt nur an, daß es zwei Offenbarungsquellen gibt, ohne die
Relation zwischen ihnen näher zu bestimmen.

Geiselmann will nun zweierlei zeigen: einmal, daß dieses
historische Mißverständnis der nachtridentinischen Theologie
, zum anderen, daß das seiner Meinung nach theologische
Mißverständnis eines „partim-partim" im Laufe der Jahrhunderte
überwunden worden sind. Zwei Dinge, die nicht identisch
sind, sind hier zusammengewoben. Durch „die Synthese von
klassizistischem Bewahren und dem romantisch freischaffenden
Genie" durch Baader, durch „die Synthese von Klassizismus
und den romantischen Prinzipien des organischen Lebens und der
Gemeinschaft" durch Johann Adam Möhler und zuletzt durch
Joh. Ev. Kuhn ist dieses Mißverständnis völlig überwunden.

Sind wir auch hier nicht zuletzt auf die Auffassung der „lebendigen
Tradition" zurückgekommen? Ist nun in der Möhler-
Kuhnschen Auffassung die von Geiselmann persönlich abgelehnte
Theorie der Insuffizienz der Schrift wirklich aufgehoben? Sind wir
hier praktisch über das „partim-partim" hinaus, eine Auffassung
, die ja übrigens auf dem Tridentinerkonzil eine sehr kurze
Tradition hatte und entschieden gegen die große Tradition des
Mittelalters war. (Vgl. zu dieser Frage P. de Vooght, Les sources
de la doctrine chretienne d'apres les theologiens du XIVe siecle
et du debut du XVe, Paris 1954).

Was besagt der Satz von Kuhn: „Die heilige Schrift enthält
das Evangelium in relativer (von mir gesperrt) Vollständigkeit
?" Sind wir hier nicht wieder bei der schon genannten
Distinktion zwischen der mit Christus und seinen Aposteln abgeschlossenen
, historischen Offenbarung in Wort und Tat und
der subjektiven stets wachsenden Aneignung in dem Glaubensbewußtsein
der Kirche gelandet? Hier muß — es sei nochmals gesagt
— eine gründliche Klärung einsetzen, unbedingt notwendig
für beide Seiten.

Den Artikel von Geiselmann liest man mit großem Interesse
, zeigt er doch, wie die beiden anderen, wo die Frage brennend
wird. Die evangelische Theologie wird nicht nur die Schwierigkeiten
in der katholischen Position aufzeigen und sie zur Klarheit
und Revision auffordern. Sie ist auch durch diese neuen
Lösungsversuche aufgefordert, selbst die Frage der Tradition und
die damit zusammenhängenden Fragen ernst zu nehmen. Es geht