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Ausgabe:

1958 Nr. 10

Spalte:

675-677

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Kurze Erklärung des Römerbriefes 1958

Rezensent:

Michel, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 10

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rade für den Hebräerbrief von Bedeutung ist —, sei nur angemerkt
(vgl. E. Käsemann, Beiträge zur Ev. Theologie, Bd. 15/1952,
S. 139; bes. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, Göttingen
1956, S. 249 ff.).

Diese hier nur in Auswahl angedeuteten Veränderungen der
forschungsgeschichtlichen Situation lassen Käsemanns unveränderten
Neudruck seiner zwanzig Jahre alten Studie zunächst sehr
problematisch erscheinen. Käsemann führt über diesen Mißstand
im Vorwort zur 2. Auflage selbst Klage, rechtfertigt seinen
Schritt aber dann doch damit, daß er sagt, er fände in der gegenwärtigen
Diskussion sein Anliegen „nur oberflächlich berücksichtigt
"; er wolle aber nicht den Anschein erwecken, als habe er
es auch selber aufgegeben (S. 4).

Der Vorwurf mangelnder Berücksichtigung seines Anliegens
besteht sicher zu Recht. Man hat zwar allgemein zugegeben, daß
der religionsgeschichtliche Horizont, vor dem Hebr. zu 6ehen sei,
durch Käsemanns Untersuchung wesentlich erhellt worden ist.
Man hat auch — was das Detail angeht — diesen und jenen „gno-
6tischen Zug" akzeptiert. Aber man hat nicht die These als ganze
aufgegriffen und diskutiert, nämlich daß die Konzeption des
Gesamtthemas (wanderndes Gottesvolk) wie insbesondere die
Christologie des Hebräerbriefes nur auf einem von der Gnosis
vorbereiteten Boden möglich war (S. 110). Sowohl bei O.Michel
als auch bei C. Spicq, die die bedeutendsten Kommentare zu Hebr.
nach dem Kriege geschrieben haben, werden die gnostischen Probleme
nur mit großer Zurückhaltung angefaßt. Die Tendenz geht
allgemein dahin, mehr den dem Spätjudentum nahestehenden
Charakter des Briefes zu betonen (,,Wo Gnosis vorhanden ist,
stammt sie aus der Apokalyptik selbst". O. Michel, Der Brief
an die Hebräer, Göttingen 1949, S. 68; vgl. dazu E. Käsemann in
ThLZ 1950, Sp. 427—429). Noch schlimmer ist es in dem Kommentar
von J. Hering (L'epitre aux Hebreux, Neuchätel/Paris,
1954, CNT XII): hier fehlt die Auseinandersetzung mit-Käsemann
völlig! Nicht anders ist es — um nur noch ein Beispiel hinzuzufügen
— in dem Aufsatz von Olaf Moe: Der Gedanke des allgemeinen
Priestertums im Hebräerbrief, in: Theol. Zeitschr. 5,
1949, S. 161—169. Moe stützt seinen Beweisgang wesentlich auf
eine Untersuchung von telsiovv, tsieüoaig im Hebräerbrief,
ohne auch nur auf Käsemanns Interpretation dieser Begriffe hinzuweisen
!

Das alles läßt begreifen, daß Käsemann seine These noch
einmal zur Diskussion stellen wollte. Es ist zumindest insofern
nicht unzeitgemäß, als wir heute — nach den Qumrän-Funden —
weniger denn je hinter die Erkenntnis der religionsgeschichtlichen
Forschung zurückkönnen, daß es eine vorchristliche jüdische Gnosis
gab und daß Terminologie und Vorstellungswelt sowohl der
paulinischen Briefe als auch der spätkanonischen Schriften ohne
ihre Berücksichtigung gar nicht zu erklären sind. Diese Erkenntnis
schon vor zwanzig Jahren für die Auslegung des Hebräerbriefes
fruchtbar gemacht zu haben, ist das bleibende Verdienst
der Arbeit Käsemanns, die, wenn auch nicht als Beitrag zur gegenwärtigen
Lage, so aber doch als Hilfsmittel zur Arbeit an den
neuen Aufgaben unentbehrlich ist.

Oberhausen (Rhld.) Erich G r ä Ii e r

B a/r t h, Karl: Kurze Erklärung des Römerbrief es. München: Kaiser
Vl956. 226 S. 8°. Lw. DM 10.80.

Es ist erstaunlich, aber für die theologische Forschung keineswegs
" bedeutungslos, daß K. Barth dem größeren Römerbrief-
Kommentar der Jahre 1918 und 1921 (gewöhnlich liegt ein Neudruck
der 2. Auflage von 1922 vor) nunmehr einen „kleineren
und jüngeren Bruder" (d. h. eine knappe, neuere Auslegung) zur
Seite gestellt hat. Es handelt sich um das Manuskript einer im
Winter 1940—41 in Basel gehaltenen Volkshochschul-Vorlesung,
wie das Vorwort bekannt gibt, und um eine erneute Darstellung
des ganzen Gedankenganges in thetischen Grundzügen. Man mag
die „Kirchliche Dogmatik" oder neuere dogmatische Einzelstudien
zu Hilfe nehmen, um dem neuen Buche gerecht zu werden.
Dem Leser des älteren Römerbrief-Kommentars sind bestimmte
Sätze des neuen Vorwortes nicht unbekannt: „Am Römerbrief
lernt man eben nicht aus. In diesem Sinn wartet er noch immer
(wie ich es in der Vorrede von 1918 etwas hochgemut ausgedrückt
hatte) — bestimmt auch auf mich!" Die Ausschaltung der zeitgeschichtlichen
Ereignisse (1940—41 in Basel wie 193 3 in Bonn)
gibt die Möglichkeit, sich ausschließlich dem Text selbst zu
stellen („als wäre nichts geschehen").

Die neue Gliederung des Briefes macht ernst damit, daß es
im Römerbrief ausschließlich um das „Evangelium" geht, d. h.
um eine Zusammenfassung der christlichen Lehre vor allem im
Hinblick auf das Alte Testament (M. Luther). K. Barth bringt
gelegentlich eine kurze Einführung in die geschichtliche Situation,
in der unser Brief entstanden ist, läßt aber später in der Auslegung
eine Erklärung des Lobpreises Rom. 16, 25-27 fort, weil
es sich hier um einen Zusatz von fremder Hand handelt (S. 226).
Man erinnert sich daran, daß K. Barth sich in der 1. und 2. Auflage
des älteren Kommentars sehr kräftig mit dieser „Doxologie"
herumgeschlagen hat (S. 508 f.). Abgesehen von dieser Abwehr
des „Zusatzes von fremder Hand" spielen historische oder textkritische
Fragen jetzt kaum eine Rolle. Es geht ihm vielmehr um
die theologische und dogmatische Fixierung des Evangeliums als
des „allmächtigen Rettungswerkes Gottes" (S. 22—23). Wir haben
hier eine streng durchgeführte Wort-Gottes-Theologie vor
uns, die zwar immer wieder auf die Geschichte Bezug nimmt,
aber letztlich das Problem der Geschichte nicht wirklich verarbeitet
.

Man ist selbstverständlich immer wieder versucht, den großen
Römerbrief-Kommentar aufs Neue aufzuschlagen, wenn man
die kleinere Auslegung durcharbeiten will. Der Stil des älteren
Kommentars ist lebhafter, leidenschaftlicher und abwechslungsreicher
, seine Methodik dialektischer, negativer, abgegrenzter
gegenüber anderen Positionen. Der neue Kommentar spricht
thetischer, dogmatischer, ausgeglichener, ist auch in Sprache und
Ausdrudcsform gleichförmiger und ausgewogener. Berührungen in
sachlicher Beziehung sind immer wieder zu finden, aber auch
Zeichen selbständiger Weiterarbeit. Die Wendung: „aus Glauben
zum Glauben" in Rom. 1,17 wird auch jetzt als eine Art Wortspiel
erklärt, weil es sich im Griechischen {nianz) sowohl um die
Treue Gottes als auch um das Vertrauen des Menschen handelt.
Der Hinweis auf die Treue Gottes war schon dem alten Kommentar
eigentümlich, neu ist dagegen der Hinweis auf die griechische
Übersetzung des Habakukwortes: „Der Gerechte wird aus meiner
(= Gottes) Treue leben" und auf Jesus Christus, von dem
aus auch dies Habakukzitat zu verstehen ist (S. 25—26).

Die Antithese Gesetz und Evangelium ist deutlich spürbar.
Das Evangelium ist Gottes Verurteilung des Menschen (Rom. 1,18
—3, 20), offenbart also den Zorn Gottes in seiner umfassenden
Bedeutung für die Menschheit. K. Barth spricht sehr lebendig und
ganz unphilosophisch von der Realität dieses Feuers, dieses Zornes
Gottes (S. 29), und dies Festhalten am Zorn Gottes um des
Evangeliums selbst willen ist in beiden Kommentaren von entscheidender
Bedeutung. Rom. 1, 19—21 dürfen nicht als Fragment
eines unbekannten Verfassers angesehen werden, sondern müssen
von Paulus her, d.h. von der Offenbarung des Zornes Gottes
her verstanden werden. Objektiv gesprochen haben die Heiden
Gott immer erkennen können, war ja Gott als der Schöpfer der
eigentliche und wahre Gegenstand des Erkennens. Im Licht des
Evangeliums, also des Zornes Gottes, sind Heiden und Juden unentschuldbar
: sie fehlen gegen ihr eigenes und besseres Wissen
(S. 32). Gottes Rechtsentscheidung dient aber nicht der Vernichtung
, sondern der Errettung des Menschen. Nimmt der Mensch
Gottes gerechtes Urteil an, so darf er auch die göttliche Gerecht-
sprechung des Glaubenden empfangen (Rom. 3,21—4,25).

Während der ältere Kommentar in Rom. 9—11 das Gegenüber
von Gott und Kirche herausarbeitet, den unendlich qualitativen
Unterschied und das Jenseits über dem Diesseits hervorhebt
, ist jetzt in der neuen Auslegung Rom. 9, 1 — 11, 36 als
selbständiger Teil abgetrennt: Es geht wirklich um das Evangelium
unter den Juden. Dagegen beschreibt Rom. 12, 1 — 15, 13
als Anrede und Mahnung das Evangelium unter den Christen.
Daß die neue Gliederung der Botschaft des Römerbriefes mehr
gerecht wird als die ältere, die allzuschnell Israel, Kirche und die
Welt der Kirche miteinander verband (so ausdrücklich S. 318),
steht außer Frage. Man darf aber nicht verkennen, daß es dem
K. Barth von 1921 und 1922 trotz aller philosophischen Verklammerungen
letztlich ebenso um den „lebendigen Gott" ging