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Ausgabe:

1958 Nr. 8

Spalte:

569-576

Autor/Hrsg.:

Onasch, Konrad

Titel/Untertitel:

Dostojevskij und kein Ende? 1958

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 8

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benden Gesichtspunkte, dann ist Diems Buch eine Anleitung, die
zur Verkündigung hilft. Der Prediger als Exeget und Systematiker
braucht für seine Predigt in der Tat eine Anleitung, um die
böse Kluft zu überbrücken.

Im übrigen glauben wir, daß die damit angedeutete Wissenschaftslehre
durchaus einen theologischen Sinn hat. Muß man
sich, wenn man so negativ von der bösen Kluft zwischen Exegese
und Dogmatik spricht, nicht klarmachen, daß nicht die Theologie
als Wissenschaft, wohl aber die Verkündigung die Verheißung
der kontingenten Selbsterechließung Gottes hat28? Weder Exegese
noch Dogmatik können, unbeschadet ihrer Funktionen als
kritische Prüfung der Verkündigung der Kirche, dem Prediger die
eigene Verantwortung des Schriftverständnisses abnehmen. Der
Theologie gilt der kritische Vorbehalt, daß ihr Werk fehlendes
sündiges Menschenwerk ist. Das gilt nicht in gleicher Weise von
der Verkündigung. Luther glaubt sogar, daß man bei der Verkündigung
nicht um Sündenvergebung zu bitten hat — im Blick
auf ihre Verheißung29.

Unter dieser Voraussetzung könnte der böse Riß zwischen
Dogmatik und Exegese ein Zeichen sein — freilich ein vieldeutiges
und nur im Glauben eindeutiges Zeichen für den Tatbestand,
daß Gottes Wahrheit sein kontigentes Tun und ein Akt freien
Erwählens ist, während die theologische Wissenschaft nur eine
exegetisch und systematisch begründete Wahrheit auf methodisch

*8) Über den Unterschied von Lehre und Verkündigung vgl. W.
Matthias, Die Kategorienlehre K. Barths, Diss. Mainz 1956.
n) W. A. 51, 516, 15.

verschiedenen Wegen vorlegen kann30. Systematik und Exegese
sind gebunden an die Strenge ihrer Methode, Gottes Wort und
Wahrheit ist kontingent und geschieht sola fide. Darf es, muß es
also nicht bei jener Kluft bleiben?

Nicht das ist gemeint, daß die Verkündigung ihrerseits
eine Methode handhaben könnte, um zu einer Synthese zu kommen
, die oberhalb von Systematik und Exegese liegt, wohl aber,
daß 6ie und nur sie die Verheißung hat, daß in ihrem Vollzug
und also kraft göttlichen Erwählens sich die Einheit ereignet,
die in der Vorläufigkeit menschlich methodischer Schriftauslegung
nicht erreicht werden kann.

Damit fällt die Aufgabe dieser beiden Wissenschaften nicht
dahin. Wohl aber tritt neben beide eine theologische Predigtlehre
, die, beide voraussetzend, nun methodisch noch einen
dritten Weg zu gehen gedenkt, der dem zu erwartenden Wunder
der Einheit des Gotteswortes nun auch methodisch zu entsprechen
versucht. Die Notwendigkeit dieses methodischen Hin
und Her liegt eben darin, daß Gott immer der Kommende ist,
daß wir aber die Verheißung haben, daß er wirklich kommt.

Haben wir also die Einheit der Schrift, die Abgeschlossenheit
des Kanons, das Christuszeugnis des Alten Testamentes
wissenschaftsmethodisch oder haben wir sie im Glauben an die
der Verkündigung gegebenen Verheißung? Die Beantwortung
dieser Frage entscheidet, ob Diems Buch eine Dogmatik zwischen
Historismus und Existentialismus begründen kann oder eine Verkündigungslehre
zwischen Exegese und Dogmatik ist.

M) Faktisch ist die Exegese — gerade auch die historisch-kritische —
Lehrerin der Dogmatik gewesen. Was uns fragwürdig erscheint, ist der
Versuch, diesen Austausch methodisch zu sichern.

Dostojevskij und kein Ende?

Von Konrad O n a s c h, Halle/Saale

Die deutsche Dostojevskij-Deutung steht seit ihrem Beginn
weithin unter einem ungünstigen, wenn nicht sogar unter einem
verhängnisvollen Vorzeichen. Sie hat sich des weltanschaulichen,
theologischen und philosophischen Gehaltes der Werke des russischen
Dichters bemächtigt, ehe die literaturkritische und literaturhistorische
Forschung gültige und — soweit dieses überhaupt möglich
ist — sichere Grundlagen geschaffen hatte. Selbstverständlich
hat die weltanschauliche (um diesen Sammelbegriff auch für philosophisch
und theologisch zu gebrauchen) Deutung ihr eigenes
Recht neben der Arbeit der Literaturforscher. Sie darf ein dichterisches
Werk als abgeschlossenes Ganzes betrachten, eben als
eine Schöpfung, wobei sie nicht unbedingt verpflichtet ist, deren
genetische Probleme zu beachten. Es ist aber sehr die Frage, ob
diese Methode auch bei einem so vielschichtigen und mehrdimensionalen
Werk, wie es das von Dostojevskij nun einmal ist, die
richtige und angebrachte sein kann. Im Anschluß an eine Arbeit
des sovjetischen Forschers B a c h t i n über Dostojevskij hat man
von der „Vielstimmigkeit" (mnogogolosnost') des Dichters gesprochen1
. Es sind nicht nur christliche Stimmen, die sich in seinem
Werke Ausdruck verschaffen, sondern auch achristliche. Es
ist nicht nur die Stimme des Urchristentums, die uns manchmal
aus den Worten seiner dichterischen Personen entgegenschallt,
sondern auch die der reaktionär-konservativen Religions- und
Kulturpolitik eines Pobjedonoszev. Wir vernehmen nicht nur den
Chor russisch-orthodoxer Gläubigkeit in seinen Dichtungen, sondern
auch — wie wir noch sehen werden — mindestens ebenso stark
die Problematik des liberalen Protestantismus im 19. Jahrhundert
. Die soziale Stimme wird oft überdeckt durch den nebulosen
Mystizismus der späten konservativen Slavophilen. Gerade aber
diese „Vielstimmigkeit" in Dostojevskijs Werken macht es einer
weltanschaulichen Deutung derselben zur Pflicht, ihre Inhalte
weniger pragmatisch und weniger allgemein zu formulieren, als
es gewöhnlich üblich ist. Weil sich die Aussagen des Dichters
ständig auf mehreren Ebenen bewegen und nicht nur auf einer,
ist eine ebenso ständige Rücksichtnahme auf diese eine methodische
Notwendigkeit.

')A. V. Lunacarskij:0 „mnogogololosnosti" Dostojevskogo
(— Über die „Vielstimmigkeit" D.s), in: F. M. Dostojevskij v russkoj

Leider ist die weite deutsche Öffentlichkeit, abgesehen von
den Slavisten und Literaturforschern innerhalb der Slavistik, kaum
mit den Ergebnissen der russischen und sovjetischen2 Dostojevs-
kij-Forschung bekannt geworden. Der von A. S. D o 1 i n i n herausgegebene
Sammelband: „Dostojevskij. Stat'i i materialy". L,
Petrograd 1922, IL, Leningrad 1925 (= D. Aufsätze u. Materialien
) enthält eine Reihe wichtiger Beiträge sowohl zur weltanschaulichen
Frage wie zu speziellen literaturhistorischen Einzelheiten
. Gerade die letzteren sind von besonderem Wert, da sie
uns zahlreiches biographisches Material liefern und die engen
Zusammenhänge zwischen dem Schaffen Dostojevskijs und seiner
westlichen Lektüre aufzeigen. Für die Entscheidung, wann bestimmte
Ideen bei Dostojevskij und in welchem näheren Zusammenhange
auftreten, ist die Chronologie von großer Wichtigkeit.
Das gilt auch für die weltanschauliche Deutung. Für diese Arbeit
gibt Leonid Grossman: Zizn' i Trudy F. M. Dostojevskogo.
Biografija v datach i dokumentach. Moskva-Leningrad 1935 (=
Leben und Werke F. M. D.s. Eine Biographie in Daten und Dokumenten
) ein überaus wertvolles Instrument. Einschließlich der
Ahnen des Dichters werden hier von der Geburt Dostojewskijs
am 30. Oktober 1821 (a. St.) bis zu seinem Tode am 28. Januar
1881 (a. St.) zu jedem Tage, oft auch unter Angabe der Stunde,
die wichtigsten Ereignisse aus dem persönlichen Leben und aus
dem Schaffensprozeß notiert. Verweise auf die entsprechende
Spezialliteratur ermöglichen es dem Leser, selbständig weiterzuarbeiten
. Zahlreiche Einzeluntersuchungen über Dostojevskij sind
jetzt in der neuen sovjetischen Gesamtausgabe seiner Werke in
den Anhängen der Einzelbände mitverarbeitet worden3 So befin-

kritike. Sbornik statej. Moskva 1956 (= F. M. D. in der russischen Kritik
. Ges. Aufsätze).

2) Ich unterscheide, wie in der sovjetischen wisscnsdiaftl. Literatur
zwischen russisch, d. h. der vorrevolutionären, und sovjetisch, d. h. der
nachrevolutionären Epoche. Dabei wird unter „russisch" oft auch einfach
„russischsprachig" verstanden, s.a. Buchtitel in Anm. 1.

3) F. M. Dostojevskij. Sobranie Socinenij, Moskva 1956 ff. Es
sind bis jetzt 8 Bände erschienen. Band 8 enthält den „Podrostok"
(lüngling). Die beiden letzten Bände werden in Kürze erscheinen. Die
Gesamtredaktion haben L. P. G r o s s m a n, A. S. D o 1 i n i n, V. V.
Jermilov, V. Ja. K i r p o t i n, V. S. Necajeva und B. S.