Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1958 Nr. 7

Spalte:

537-542

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Ernst

Titel/Untertitel:

Hermeneutik 1958

Rezensent:

Geyer, Hans-Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

537

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 7

538

Philosophie verdunkelt - Milchglas' (XII, 179 - Vgl. XI, 111)".
Hubbard S. 6). —

Hubbards Untersuchungen stützen sich hauptsächlich auf Randbemerkungen
Nietzsches, die sich auf dessen Exemplar von Emersons
.Versuche' befinden. Die6es Exemplar wurde H. von dem Emerson-
Forscher Eduard Baumgarten, der auch die Randkommentare Nietzsches
entziffert hat, zugänglich gemacht (p. V, vgl. S. 65 f.).

Was hat Nietzsche nun an Emerson zunächst so hellhörig
gemacht, und was ist ihm später Trost in der Vereinsamung geworden
? Vor allem wohl folgendes: der Gedankenkomplex „das
Individuum" (S. 67) und hierbei die Sehnsucht nach dem großen
(genialen) Menschen (S. 73), der sich in Selbstvertrauen seine
eigenen Gesetze gibt (S. 82). Ferner: der Gedanke, daß man nicht
auf Freunde und — überhaupt — die soziale Bestätigung angewiesen
sein darf (S. 113), ja: daß Größe nur in Einsamkeit
gedeihe (S. 117) und daß die schöpferische Einsamkeit in der
Natur erfahren werden kann.

„Die .Rückkehr zur Natur', von der Nietzsche in .Götzendämmerung
' spricht, verdankt er Emerson, nicht Rousseau, weil ,es eigentlich
nicht ein Zurückgehen, sondern ein Hinaufkommen ist' " (S. 122).

Nicht zuletzt ist auf den Komplex Fatum — Freiheit zu weisen
(von Nietzsche aktivistischer gewandt als von E.), vermutlich
der Ausgangspunkt von Nietzsches Beschäftigung mit E. in
seiner Schulzeit.

In den Grundlagen ihres Denkens sind sich E. und N. indes
denkbar fremd:

„,0, meine Brüder, es giebt einen Gott! Es giebt einen Geist im
Mittelpunkt der Natur und über unsern Willen, so daß keiner
von uns dem Universum Schaden zufügen kann
(Unterstreichung von Nietzsche, F.) ... Der ganze Lauf der Dinge geht
darauf hinaus, uns glauben zu lehren. Wir brauchen nur zu gehorchen.
Es giebt für Jeden eine Führung, und wenn wir in Demuth lauschen,
werden wir das rechte Wort vernehmen...' Nietzsche am Rande: ,ist
alles falsch' " (S.172 f.).

Das theologisch Wichtige an Hubbards Buch ist dies, daß
es wieder einmal in Erinnerung ruft: daß es viele Gedanken bei
Nietzsche gibt, die ein Christ genauso aussprechen könnte.
Einem tieferen Eindringen in das Problem: wie Nietzsches genuin
christlichen Motive aus ihrer Pervertierung herausgeschält werden
könnten (um sie nicht als solche in Mißkredit geraten zu
lassen), wäre Hubbards Buch eine unentbehrliche Hilfe.

Berlin Hans-Georg Fritzsche

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Fuchs, Ernst, Prof. D.: Hermeneutik. Bad Cannstatt: Müllerschön
[1954]. V,271 S. 8°. Lw. DM 15.-.

L

Die „Hermeneutik" (= H.) ist eine Stellungnahme zum
Problem der Aufklärung, wie sich Wahrheit und Geschichte
reimen, und in der Folge der paradoxe Vers ihrer ursprünglichen,
d. h. dem Subjekt-Objektschema vorausliegend gedachten Sel-
bigkeit. Die vorgelegte Lösung ist die genaue Umkehrung der
Hegeischen: Wahrheit und Geschichte vertragen sich nicht erst
als endlich endgültiges Resultat im Begriff, sondern 6chon als
endich gegenwärtiger Ursprung im Selbstverständnis. So antwortet
sie auf die abgewandelte Kant-Frage, „wie Theologie
als Wissenschaft möglich ist" (S. 96), indem sie die transzendentale
Fragestellung auf die Theologie münzt, welche „die Predigt
als Mitteilung von Offenbarung voraussetzt" und demgemäß
„nach der Möglichkeit solcher Mitteilung als einer Tat des Menschen
fragt" (S. 99). Indem die H. denselben Grund für die
„systematische Frage nach der Mitteilbarkeit der Offenbarung"
und für die „historische Frage nach der ersten Mitteilung von
Offenbarung" (S. 100) ermittelt, liefert sie getreu der Hegeischen
Einsicht vom Grund als „Einheit der Identität und des Unterschiedes
" die einheitliche Antwort der geschichtlichen Sprache.
Der Unterschied zu Hegel liegt in der schlechten Erfahrung mit
dem Historismus, über die man noch einmal moralisch geworden
ist; an die Stelle des spekulativen Denkens ist die existentielle
Entscheidung getreten. Dazu korrespondiert die Substitution

einer maßgeblichen Wirklichkeit als hermeneutischen Prinzips
durch eine Existenzmöglichkeit: den „sittlichen Ernst des Auslegers
" (S. 147 u. ö.), seine mögliche Moralität. Er muß um sich
selber besorgt sein können. Was bei La Rochefoucauld noch
Gegenstand genau beobachtender Kritik, bei Nietzsche bereits
das Sein der Wirklichkeit im Ganzen war, ist auch in der Theologie
angekommen: als Methode zu purer Form („Frage nach
uns selbst") und ewiger Möglichkeit (des „sittlichen Ernstes")
neutralisiert, ohne daß der Bannkreis derselben Selbstbezüglich-
keit gebrochen wäre. So wiederholt sich rächend der fundamen-
talontologische Zirkel Heideggers; wo die Exegese beginnt,
endet die Predigt: bei der moralischen Person mit der Maxime,
sittlich zu bleiben, indem sie sittlich wird und umgekehrt. Die
blanke Umkehrung der hegelschen Antwort zum Aufklärungsproblem
von Wahrheit und Geschichte entpuppt sich im Unterschied
zu ihr als Rückfall in die Moralität der primär an sich
interessierten Existenz; die Aufklärung ist nicht überwunden,
sie geht weiter — aber weiter unter.

II.

Zur indirekten Positionsangabe in diametralem Gegensatz
steht der fundamentale theologische Anspruch der H., v/elche
nach Maßgabe des NT selbst Aufgabe und Begriff der Theologie
qua Lehre zu bestimmen unternimmt als „die existentiale Interpretation
des Glaubens aus dem Umgang mit der Zeit selbst",
sofern ihre „Lehraufgabe . .. dem Selbstverständnis des Glaubens
(gilt)" (S. 270). Mit den Begriffen des „Umgangs mit der Zeit"
und des „Selbstverständnisses" sind die Brennpunkte der Bedeutungsellipse
der H. genannt. Durch die Einbeziehung der grundlegenden
und umfassenden Dimension der Sprache 6ucht sie dem
Begriff des „Selbstverständnisses" die letzten solipsistischen
Schatten zu nehmen, welche die Kategorie der Entscheidung wirft,
solange die automatischen Implikationen der Entscheidung nicht
aufgehellt sind. Und „wie es scheint, hat Bultmann diese Struktur
der Entscheidung (wozu bekenne ich mich ,von selbst'?) verfrüht
in die theologische Applikation eingebracht. So wird bei
ihm nicht immer deutlich, was eigentlich in der Entscheidung
strukturell mitentschieden wird" (S. 66). Kommt dem Menschen,
der „sprachlich zwischen Ruf und Antwort (existiert)" (S. 133),
sein Wesen mit der Sprache allein und allererst zu, so ist „die
Grundfunktion des Selbstverständnisses, daß es selbst an der
Sprache mitwirkt, indem es das überlieferte Einverständnis sprachlich
mitverwaltet" (S. 136), d.h. mitverantwortlich ist für und
mitentscheidet über die im sprachlichen Einverständnis zustande
kommende Wahrheit, um die es in der Sprache und darum stets
auch dem Menschen geht. Als Fracht und Medium der Geschichte
ist die Sprache zugleich selbstverständlich und wesentlich; aus
selbstverständlicher Überlieferung wird sie wesentlich mit der
Fraglichkeit der Tradition. Mit der schwindenden Selbstverständlichkeit
wird die Welt zweideutig und das fehlende Selbstverständnis
in der Not offenbar. „Diese Lage kann der Einzelne
nicht allein meistern, weil er ja auf Sprache, d.h. auf Einverständnis
mit Andern, d. h. auf Andere angewiesen ist und bleibt. Was
in dieser Situation als Selbstverständnis herauskommen wird,
hängt deshalb nie vom Einzelnen allein ab" (S. 137). Liegt aber
des Menschen Wesen in der Sprache, so steht er selbst, sein wahres
Sein als Möglichkeit, auf dem Spiel. Im Selbstverständnis
handelt es sich deshalb um Antwort als Entscheidung meiner
Selbst zur Wahrheit; ihr Ort ist die Geschichte. Sie „und nur sie
will zu der wesentlichen Sprache zurückrufen, in der ein Selbstverständnis
begründet möglich wird" (S. 138), und über die uns
das NT unterrichtet. „Denn in (der) Geschichte Jesu Christi geht
es um die Geschichte der Sprache Jesu Christi, um jene neue
Sprache, die uns Sünder in Wahrheit zu einigen vermag." Das
bedeutet im Zusammenhang mit dem entschränkten, die Sprache
als Ganze betreffenden Selbstverständnis dessen exklusive Zuordnung
zum Glauben. „Von einem Selbstverständnis des Sünders
kann man eigentlich nicht reden. Der Sünder versteht sich
gerade nicht. Deshalb hält Gott den Sünder .unter' dem Gesetz.
Ein Selbstverständnis empfängt nach dem Unterricht des NT
eigentlich erst der Glaube. Er weiß um den .Geist' Bescheid, denn
er weiß um diejenige Sprache Bescheid, die in Wahrheit einigt"
(S. 139), um die Sprache Jesu Christi.