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Ausgabe:

1958 Nr. 7

Spalte:

534-536

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gilson, Etienne

Titel/Untertitel:

Die Geschichte der christlichen Philosophie 1958

Rezensent:

Pannenberg, Wolfhart

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 7

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Motiv für das Kernland ostdiristlicher Kunst gesichert. Daß R., der
Par. gr. 74 sonst öfter zitiert, diese Miniatur übersehen hat, führt ihn
dann auch zu dem Fehlschluß, die Marterwerkzeuge im Weltgerichtsbilde
seien eine abendländische Zutat (S. 739: Geißelsäule, Dornenkrone,
Kreuz, Nägel und Lanze); sie sind — außer der Geißelsäule — bereits
auf der Miniatur des Par. gr. 74 da, sind also byzantinischer Herkunft!
Hier wird also das Bild geradezu falsch, nicht mehr nur unvollständig.

Bedauerlich ist es auch, daß unter den Themes complementaires
bei der Behandlung von Ecclesia und Synagoge ihr Auftreten in den
karolingischen Kreuzigungsdarstellungen unerwähnt bleibt. Diese beiden
Personifikationen aber auf die ecclesia ex circumcisione und die e
gentibus — wie z. B. in S. Sabina in Rom, 5. Jhdt., im Mosaik erhalten —
zurückführen zu wollen, beweist völliges Unverständnis dieser frühchristlichen
Darstellung gegenüber, die die beiden Zweige meint, aus
denen die eine Kirche wurde. Zur Synagoge in der späteren Plastik ist
auch nicht erwähnt, daß sie nicht selten auf dem Rücken Kröten u. ä.
trägt, also doch wohl keine „figure pleine de noblesse" ist (S. 746).
In der Liste der Weltgerichtsdarstellungen, die diesen letzten Teil abschließt
, fehlen z. B. die irischen Hochkreuze ebenso wie die Fresken
von Münster-Mustair und selbstverständlich Par. gr. 74.

Wir wollen es bei diesen Beispielen lassen — obwohl die
Liste des Ungenauen, Fehlenden, Mißverständlichen noch sehr
weit fortgesetzt werden könnte! Wie im 1. Halbband sind auch
hier mehrere Szenen ohne jedes Belegbeispiel geblieben, sind die
frühchristlichen, byzantinischen und russischen, die spanischen
und deutschen, die englischen und böhmischen Beispiele völlig
ungenügend berücksichtigt, fehlen wichtige Literaturangaben,
sind Szenen falsch gedeutet usw. usw. Man könnte in dieser Hinsicht
noch Seiten füllen. Einige besonders ins Gewicht fallende
Dinge seien doch noch kurz erwähnt:

Zur Verkündigung fehlt (S. 174), daß sie oft an der königlichen
Tür der ostkirdilichen Ikonostas dargestellt ist, daß Maria im Osten
in der Verkündigung sehr oft steht (S. 179). Falsch ist, daß in Daphni,
Kiew, Palermo, Monreale die Verkündigung am Brunnen dargestellt
sei (S. 178 f.). S. 231 wird die Anbetung durch die Hirten als Erfindung
des späten Mittelalters bezeichnet, obwohl sie im 6. Jhdt. im
Elfenbein und auf den Monzeser Ampullen bereits belegt ist. S. 370
wird der Codex Egberti in Trier als byzantinisch firmiert! S. 3 58 werden
die Fragmente dreier Frauen in der Kapelle von Dura-Europos als
die klugen Jungfrauen, S. 543 dagegen als die drei Marien am Grabe
Christi gedeutet; eins kann ja schließlich nur stimmen! Interessant wäre
es zu wissen, wo denn eigentlich in der altchristlichen Kunst die
Harpyen als Sinnbilde des Todes vorkommen (S. 642). Falsch ist es
auch, wenn S. 5 53 Eva in der Höllenfahrt als postbyzantische Erfindung
bezeichnet wird, denn sie ist in mittelbyzantinischer Zeit bereits
da. Aber lassen wir es endgültig genug sein!

Diese Auswahl zeigt wohl zur Genüge, daß die hier gebotene
Darstellung der Ikonographie des Neuen Testamentes nicht
ausreicht. Das kann dem Verf. aber wohl kaum zum alleinigen
Vorwurf gemacht werden. Er hat zweifellos sein Bestes gegeben.
Woran liegt es, daß das nun doch so wenig befriedigen kann? Mir
scheint, es fehlen allzu viele Vorarbeiten, die ein solches Werk
erst wirklich gelingen lassen würden, Vorarbeiten, die ein Einzelner
nicht leisten kann. Wenn eine handbuchartige Gesamtdarstellung
der christlichen Ikonographie überhaupt erstrebenswert
erscheint — und sie ist wohl doch eine nicht zu umgehende
Notwendigkeit, wenn die kunstgeschichtliche Forschung sich nicht
wieder ganz vom Inhalt der Kunstwerke der reinen Form zuwenden
soll —, dann bedarf es zu deren Erarbeitung genauester Monographien
, einmal zur Ikonographie einzelner Länder und
Kunstbereiche, und zum anderen auch über die Entwicklung zumindest
der Hauptthemen. Die erste Gattung der Spezialarbeiten
existiert überhaupt noch nicht, nicht einmal in Gestalt umfassender
Bestandsaufnahmen. Es gibt z. B. sowenig eine Ikonographie
der spanischen oder der englischen Kunst wie eine solche der
russischen oder der böhmischen Kunst. Wesentlich besser sieht
es — was auch R.s keinesfalls immer vollständigen Verzeichnisse
der Spezialliteratur zeigt - hinsichtlich der Untersuchungen zu
den einzelnen Themen aus, wenn auch da noch viel zu tun bleibt.
Schwerer noch wiegt das Fehlen einer Ikonographie der altchristlichen
Kunst und einer Darstellung der gesamten byzantinischen
Ikonographie. Ein überaus weites Feld liegt also vor der ikono-
graphischen Forschung, das erst noch beackert werden muß, ehe
wir die Ernte der erforderlichen Vorarbeiten für eine Gesamtdarstellung
der christlichen Ikonographie einbringen können. Alle
diese Vorarbeiten überschreiten aber wohl schon jede für sich die

Möglichkeiten eines einzelnen Forschers. Es wird für jede von
ihnen der Arbeitsgemeinschaft mehrerer Fachleute bedürfen. Die
Ergebnisse dieser Vorarbeiten dann aber zu einer Gesamtschau
der christlichen Ikonographie mit all ihren unendlich vielfältigen
Möglichkeiten zusammenzuarbeiten, kann nur wiederum einer
Gruppe von Fachmännern der verschiedenen Spezialgebiete gelingen
. Es wäre dies eine lohnende und sehr notwendige Aufgabe
internationaler Zusammenarbeit! Freilich wird man angesichts
des unvorstellbar reichen Materiales, das bis heute noch
nicht publiziert ist — ich denke dabei nur an die Miniaturen des
Mittelalters! — mit Recht bezweifeln müssen, ob in absehbarer
Zeit auch nur die Vorarbeiten abgeschlossen werden können.
Aber nichtsdestotrotz muß die Forderung - gerade wegen des
klaren Beweises, den R.s so überaus fleißiges Werk dafür geliefert
hat, daß der alte Weg de6 Alleinganges nicht mehr zum
Ziele führt — gestellt und immer aufs Neue wiederholt werden.
Vielleicht wird sie dann doch irgendwann einmal verwirklicht
werden.

Greifswald-Berlin Klaus Wessel

PHILOSOPHIE UND BEL1GIONSPHILOSOPHIE

1 s o n, Etienne, und Philotheus Böhner: Die Geschichte der
christlichen Philosophie von ihren Anfängen bis Nikolaus von Cues.
2., neubearb. Aufl. Paterborn: Schöningh 1952/54. VIII, 656 S. gr. 8°.

Das vorliegende Werk nahm schon mit seiner ersten Auflage
einen besonderen Platz unter den Philosophiegeschichten
ein. Es will mit den umfassenden philosophiegeschichtlichen
Nachschlagewerken (besonders mit der Geschichte der patristi-
schen und scholastischen Philosophie von Überweg-Geyer) nicht
konkurrieren, sondern der Einführung, vor allem für Studierende
, dienen. Die profunde Sachkenntnis, die in der Darbietung
des Stoffes zum Ausdruck kommt, verleiht dem Buch jedoch
eine über den rein didaktischen Wert einer Einführung weit hinausgehende
Bedeutung. Die Darstellung stützt sich in den meisten
Teilen auf das Vorlesungsmaterial des um die Erschließung
der Geschichte christlichen, insbesondere mittelalterlichen
Denkens so einzigartig verdienten E. Gilson. Der eigentliche
Verfasser, dessen Eigenständigkeit in der zweiten Auflage verstärkt
zur Geltung kommt, ist ein Schüler Gilsons, der als
Kenner der Spätscholastik und besonders als Ockhamforscher
bekannte Franziskaner Ph. Böhner (St. Bonaventura Institut,
New York).

B. will nicht in erster Linie Ideenentwicklungen, sondern
charakteristische Züge der geistigen Welt einzelner Denker vor
Augen führen. Die Beschränkung auf eine Reihe besonders hervorragender
Gestalten kommt der Übersichtlichkeit zugute, ermöglicht
aber auch (zusammen mit dem Verzicht auf vollständige
Beschreibung der ganzen Systeme) gelegentlich ein stärkeres
Eingehen auf Einzelheiten, als es der nach Vollständigkeit
strebenden Darstellungsweise philosophiegeschichtlicher Nachschlagewerke
, die i. E. oft zu knappsten Andeutungen gezwungen
sind, möglich ist. Die Einzeldarstellung wird jeweils durch
einen lebendig gehaltenen biographischen Abriß und durch eine
kurze Einführung in Lebenswerk und vorhandene Textausgaben
eingeleitet. Darauf folgt eine übersichtlich gegliederte, durchweg
aus den Quellen geschöpfte und auf sie verweisende Darstellung
wichtiger Züge der philosophischen Gedankenwelt des
betreffenden Autors. Den einzelnen Unterabschnitten dieser
Darlegungen sind zusammenfassende Thesen vorangestellt, so
daß ein Maximum an Klarheit und Übersichtlichkeit erreicht
wird. Die Ausführungen über jeden Denker schließen mit einer
Würdigung seiner geistigen Leistung und Bedeutung. Als Anhang
wird immer eine Textprobe im Original und in Übersetzung
beigefügt, die die Darstellung ergänzen und an die
Quellen heranführen soll. Dem ganzen Werk geht als Einleitung
eine Abhandlung über den Begriff der christlichen Philosophie
und über ihr Verhältnis zu biblischen Gehalten voraus. Dem
entspricht ein Schlußteil, der gewisse Verzeichnungen des Wesens
der christlichen Philosophie zurückweist; sie stellt weder
eine unfruchtbare Wiederholung der antiken Philosophie dar.