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Ausgabe:

1958 Nr. 7

Spalte:

514-517

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hirsch, Emanuel

Titel/Untertitel:

Geschichte der neuern evangelischen Theologie 1958

Rezensent:

Kupisch, Karl

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 7

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Nürnberger Abschied zu Martini einen neuen Reichstag nach
Nürnberg ausgeschrieben; zugleich hatte er nicht nur die meisten
regierenden Fürsten der Christenheit, sondern auch eine Reihe
von Städten und Universitäten zu dessen Beschickung aufgefordert
bzw. um ihre Zustimmung zur Einberufung des in Aussicht
genommenen Konzils gebeten (Nr. 60—66). Wenn die zahlreichen
Antwortschreiben, die daraufhin bei ihm einliefen (Nr. 67
—87), sich hierzu auch fast durchweg ablehnend oder doch ausweichend
äußerten, 60 änderte das doch nichts daran, daß die
Person des Königs und sein Hof immer mehr in den Mittelpunkt
der diplomatischen Verhandlungen rückten. Das gilt insbesondere
für die kirchenpolitischen Fragen, und mit vollem Recht hat
Kaemmerer als die eigentlich treibende Kraft dieser Entwicklung
den neuen Sekretär Enea Silvio vermutet. Insofern kommt der
Tatsache, daß Friedrich III., durch die Auseinandersetzung mit
seinem Bruder Albrecht sowie die Verhandlungen mit Böhmen,
Ungarn und über die Abwendung der drohenden Türkengefahr
in seinen Erblanden festgehalten, an dem Nürnberger Martinitag
nicht teilnehmen konnte, und dieser infolgedessen trotz seiner
langen Dauer (November 1443 bis Januar 1444) zu kläglicher
Bedeutungslosigkeit herabsank (Nr. 8 8—110), ein tiefer geschichtlicher
Sinn zu: Ohne den König war der in sich selbst uneinige
und jeder politischen Initiative bare Reichstag nicht mehr aktionsfähig
.

Man wird jedoch noch einen Schritt weiter gehen dürfen:
Die ganze Neutralitätspolitik, an der das Reich und sein Oberhaupt
im Gegensatz zu fast allen außerdeutschen Ländern unbeirrt
festhielten, war überhaupt nicht mehr zeitgemäß und
realisierbar, so wenig wie die sie tragende Konzilsidee. Das Reich,
dieses merkwürdige, völlig in den Formen des mittelalterlichen,
geistlich-weltlichen Universalstaats erstarrte Gebilde, konnte
allerdings kaum aus eigener Kraft aus diesem kirchenpolitischen
Dilemma herausfinden, geschweige denn gleich den andern europäischen
Nationen zum Bewußtsein seiner Eigenart gelangen;
das hat, wie Ranke und, auf ihm fußend, Joachimsen meisterhaft
gezeigt haben, erst die Reformation vermocht. Aber auch von
einer so schwerfälligen und überbedächtigen, außerdem zutiefst
in den traditionellen Gedankengängen des theokratischen Kaisertums
verwurzelten Natur wie Friedrich III. durfte man füglich
keinen befreienden Entschluß oder gar entsprechende Taten
erwarten. Als er sich schließlich unter dem Einfluß des Italieners
Enea Silvio trotz allem dazu durchrang, konnte diese Lösung lediglich
für seine österreichischen Erblande Geltung erlangen; auf
das Reich als solches war sie nicht übertragbar und darum verhängnisvoll
.

Das alles wird bereits auf dem Nürnberger Reichstag vom
1. August bis 11. Oktober 1444 (Nr. 111-149 und 163-239)
deutlich; er sollte zugleich für volle 27 Jahre der letzte sein, den
der langlebige Habsburger persönlich abhielt. Der von Kaemmerer
mit Recht hervorgehobenen „Dürftigkeit des überlieferten
Stoffes", die in ihrer Art auch „ein Stimmungsbild von diesem
Tage" vermittelt, entspricht das jammervolle Schauspiel, das die
kirchenpolitischen Verhandlungen1 bieten. Wiederum fand man
keinen andern Ausweg, als durch neue Gesandtschaften an Papst
und Konzil wegen ihrer Zustimmung zu dem alten Konzilsplan
heranzutreten. Es mutet beinahe wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte
an, daß ausgerechnet dieser Verlegenheitsbeschluß dem
ebenso ehrgeizigen wie gewandten Enea Silvio den Weg zur römischen
Kurie und letztlich zur Tiara bahnte sowie andererseits
Friedrich III. den Abschluß des Wiener Konkordats und die Kaiserkrönung
durch den von ihm anerkannten Papst ermöglichte.
Man darf daher dem noch ausstehenden Teilband Kaemmerers
und dem anschließenden, von Heinz Quirin bearbeiteten 18. Band
der Deutschen Rcichstagsakten, die diese Entwicklung im einzelnen
aufzeigen werden, mit besonderem Interesse entgegensehen.

Über die Anlage des hier besprochenen Bandes und die Auswahl
des Stoffes kann man gelegentlich verschiedener Meinung
sein; das gilt zumal hinsichtlich der Stücke, die in vollem Wort-

') Und keinesfalls nur diese! Es ist höchst bezeichnend, daß die
Nrr. 240—289, die vor allem die Bekämpfung der Eidgenossen und der
Armagnakcn zum Gegenstand haben, „Verhandlungen außerhalb des
RT." gewidmet sind.

laut zum Abdruck gelangten, und fast noch mehr derjenigen, die
gar nicht aufgenommen oder in die jeweiligen Einleitungen und
Anmerkungen verwiesen wurden, wie z. B. der Piccolomini-
Briefwechsel (vgl. dazu S. 7, Anm. 4!). Man wird solche Erörterungen
jedoch zweckmäßigerweise zurückstellen, bis der ganze
Band im Druck vorliegt. Wie dem auch sei: Das alles kann und
soll keinesfalls den aufrichtigen Dank schmälern, den die deutsche
Wissenschaft Kaemmerer für seine in jeder Beziehung außerordentliche
Leistung schuldet.

. München Ernst Bock

H i Ac h, Emanuel: Geschichte der neueren evangelischen Theologie

im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen
Denft^ns. 1—V. Gütersloh: Bertelsmann 11949—1954]. gr. 8°. Bd. 1:
XIV, 411 S. Lw. DM 20.-; Bd. II: VIII, 456 S. Lw. DM 23.50;
Bd. III: VIII, 397 S. Lw. DM 29.-; Bd. IV: VIII, 612 S. Lw. DM
44.-; Bd. V: VII, 664 S. Lw. DM 44.-.

Man beendet die Lektüre dieses monumentalen, in seiner
Konzeption wie Darstellungsweise einzigartigen Werkes nur mit
größter Achtung vor der Leistung und einem Gefühl tiefer Dankbarkeit
. Hier ist noch einmal Geschichtsschreibung im großen
Stil gelungen, und mehr als einmal hat der Rez. während des
Lesens daran denken müssen, wie fern doch die Zeit ist, als der
historische Sinn noch eine aktive Kraft der geistigen Diskussion
und des allgemeinen Bildungsstrebens war. Bei Hirsch merkt
man auf jeder Seite diese Hingabe an den Geist der Geschichte.
Unter den ihm thematisch verwandten Büchern von H. E. Weber
und K. Barth nimmt sein Werk einen eigenen Platz ein, indem
es eine universale Geistesbewegung in ihrer Wirkung auf den
deutschen Protestantismus von 1648 bis 1870 nachzeichnet.

Der ungeheure Stoff ist in den 5 Bänden auf 10 Bücher mit
insgesamt 5 5 Kapiteln verteilt.

Das 1. Buch setzt ein mit dem veränderten Selbstverständnis des
modernen Staates unter dem Einfluß des erneuerten Naturrechts und den
daraus sich ergebenden Rückwirkungen auf die Kirche; im 2. Buch
kommt der Wandel des philosophischen Weltbildes, namentlich durch
die neue Astronomie und Physik hervorgerufen, zur Darstellung; das
epochale Gegenüber von natürlicher Religion und christlicher Offenbarung
im westeuropäischen Denken zeichnet das 3. Buch, während das

4. Buch die entsprechenden Umformungen und Auswirkungen im deutschen
Denken, im Frührationalismus und im Pietismus, bringt; das

5. und 6. Buch nimmt wieder den Faden der westeuropäischen Entwicklung
, vor und während der französischen Revolution, auf; das 7. Budi
schildert die deutsche diristliche Aufklärung im Zeitalter Semlers und
Lessings, eine Entwicklung, die dann in dem schöpferischen Durchbruch
in der deutschen Klassik und im Idealismus mit den Auswirkungen auf
Religion und Christentum zu einem Höhepunkt geführt hat (S.Buch);
das 9. Buch gibt ein Bild der spätidealistischen und romantischen Zeit,
mit der Heraufkunft des Neupietismus und der verschiedenen vermittelnden
Richtungen der Theologie; im abschließenden 10. Buch wird,
nach einem etwas isoliert stehenden Sonderkapitel über Kierkegaard,
die Ausbildung der historisch-kritischen Theologie, aber auch die Krisis
der christlichen Humanitätsidee in Realismus und Pessimismus dargestellt
. Es sind nun nicht mehr ragende Gestalten des spekulativen Denkens
zu nennen, sondern die Dichter — Keller, Raabe, Hebbel — werden
Sprecher eines neuen Zeitgefühls. Dem Schlußband ist ein ausführ
liches Gesamtregister beigegeben. Nicht ganz leuchtete mir die Anfügung
eines Verzeichnisses der im Text verstreut vorkommenden Bibelstellen
ein.

Unmöglich kann im Rahmen einer begrenzten Rezension
auf das einzelne eingegangen werden. Durchweg ist anzuerkennen
die Meisterschaft, mit der Hirsch nicht nur die einzelnen
Geistesbewegungen zum Leuchten bringt, sondern wie es ihm
auch gelingt, das geistige Profil der einzelnen führenden Denker
mit außergewöhnlicher Sachkenntnis und hervorragendem Spürsinn
für das Wesentliche zu umreißen. Die intime Nähe zum jeweiligen
Sachbereich verliert auch dadurch nicht an Aussagekraft
und wissenschaftlicher Stringenz, daß nun auch kräftig
Akzente gesetzt werden, man spürt, bei welchen Persönlichkeiten
das Herz des Verfassers rascher schlägt. Anderseits wird er aber
auch Männern gerecht, die ihm offenbar weniger liegen, ich denke
etwa an das von Hengstenberg treffend entworfene Bild. In
Einzelheiten sehe ich manches anders, ohne hierüber doch in
eine ausführliche Erörterung eintreten zu können. Nur gleichsam
im Vorbeigehen sei einiges erwähnt. Mir scheint die so gut
wie ganz übergangene Einwirkung katholischen Denkens auf die