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1958 Nr. 6

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 6

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Das Ganze ist eine höchst geistvolle Essaysammlung, geschrieben
von medizinisch interessierten Laien, die den Sinn für
die psychosomatische Einheit des Menschen nicht verloren haben
und eine sachliche Kritik an der Hypertrophie des medizinischen
„Funktionarismus" üben. Insonderheit wird die moderne Sozialmedizin
mit ihrer Überbewertung der Laboratoriumsanalysen
und der damit verbundenen inhumanen Behandlungsweise der
Kranken durchleuchtet, letztlich aber nur deswegen, damit die
Medizin um des Patienten willen wahre Medizin und der Arzt
um des innersten Wesens des Heilaktes willen wahre Persönlichkeit
bleibe.

Die Sammlung selbst zerfällt in drei Teile: Einmal in
einen überwiegend philosophischen, soziologischen und sozialethischen
Teil, der u. a. mit Gabriel Marcel zur Frage der Entpersönlichung
der Medizin und mit Marcel de Corte zur Frage der Diagnose
einer rein sozialisierten Medizin Stellung nimmt. Herbe
Wahrheiten stehen hierbei dicht neben letzten Erkenntnissen,
wenn in gleichem Zuge von den echten Beziehungen zwischen
Arzt und Krankem und von dem seelischen Beistand des Arztes
— gleichsam als Hausarzt — gesprochen wird, der zwar eine profane
Wissenschaft vertritt, die aber ungeachtet ihrer Profanität
um der Liebe willen „an das Heilige rührt". S o d a n n in einen
mehr konkreten Teil, der in Form von „Zeugnissen" die mannigfaltigen
Patientenerfahrungen mit ärztlichen Kräften und sonstigen
Heilinstituten wiedergibt. Besonders hervorzuheben ist hier
die Abhandlung von Germaine Brünier, die die höchst erregende
Umfrage einer Kranken unter Leidensgenossen wiedergibt, und
der Aufsatz von V. H. Debidour über die Reflexionen eines Laien
über die heutige Medizin, der auch dem christlichen Arzt und
seinen Anliegen gerecht wird. Und endlich in einen dritten Teil:
„Es gibt nur eine Medizin", der aus einem einzigen „Kleinen",
aber sehr umfangreichen „Traktat über die ärztlichen Freiheiten"
von Jean Rolin besteht und u. a. vom ärztlichen Geheimnis, von
der freien Verordnung und von der freien Arztwahl spricht. Die
Titelfrage: „Was erwarten wir vom Arzt?" wird in der Weise
beantwortet, daß der Patient, ohne daß das im einzelnen gesagt
wird, sich einen Arzt wünscht, der im Geiste des hippokratischen
Eides seine Arbeit tut und dabei — eine zeitbedingte Forderung —
„sich seine geistige Freiheit bewahrt".

Einer Bucherscheinung wie dieser kann man nicht in einer
kurzen Anzeige gerecht werden; eine einigermaßen ausreichende
Besprechung dürfte einen umfangreichen Aufsatz erfordern. So sei
hier nur allen Krankenseelsorgern und pastoralmedizinisch interessierten
kirchlichen Mitarbeitern der dringende Hinweis zu
einem sorgfältigen Studium dieses glänzend geschriebenen und
jedenfalls immer anregenden Buches gegeben. Mutatis mutandis
werden sie viel Gewinn für die eigene seelsorgerliche Arbeit am
Kranken haben neben dem unübersehbaren Anstoß, die Lehre von
der theologischen Berufsauffassung nach der sozialethischen Seite
erneut zu durchdenken.

Berlin Horst Fich tner

B a r t n i n g, G.: Meditation in Religion und Psychotherapie.
Wege zum Menschen 10, 1958 S. 22—24.

G o d i n, A.: Pastorale et psychologie.
Nouvelle Revue Theologique 90, 1958 S. 159-170.

Groeger, Guido: Anthropologische Aspekte der Jugend- und Eheberatung
.

Wege zum Menschen 10, 1958 S. 7—15.
Hey er, G. R.: Umschlag der Wissenschaft.

Wege zum Menschen 10, 19 58 S. 15—17.
K ö b e r 1 e, A.: Leitbilder der Seele als Hilfe und Gefahr.

Wege zum Menschen 10, 1958 S. 1—7.
P e r e g o, Angelo: The psychological unity of Christ.

Theology Digest VI, 1958 S. 58—62.

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Sc hl et«, Eckart: Der profane Weltchrist. Neubau der Lebensform
für den Industriemenschen. München: Kaiser 19 57. 169 S. gr. 8°.
Kart. DM 9.—.

Dem Buch, das für ein hochaktuelles Thema eine theologische
Ausrichtung erstrebt, kommt unsere Sympathie auch wegen
der Person des Verfassers entgegen. Er ist ein junger Volkswirt
, ein Schüler Ludwig Heydes, der mit dieser Schrift an der
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät zu Köln promoviert
hat. Das Anliegen gilt der zukünftigen Gestalt der industriellen
Betriebsgemeinschaft und ihrer Beziehungen zur Welt
des christlichen Glaubens. Der Horizont, in dem die Fragen gesehen
werden, ist sehr weit gespannt: Theologie, Soziologie und
Sozialpolitik bestimmen ihn. In geschichtlichen Ausführungen
wird von Gustav Werner, Wichern, Stoecker, Theodor Lohmann,
Harnack, Rade, Naumann und Troeltsch, vom Kirchlich-sozialen
Kongreß und vom Evangelisch-sozialen Kongreß, von Kirchentagen
und christlichen Gewerkschaften u. a. gehandelt. In die
Problematik der Gegenwart führen Erörterungen um Barth, Bultmann
, Gogarten, Bonhoeffer, um den theologischen Liberalismus,
den philosophischen Idealismus, die Phänomenologie, Ontologie
und Existenzphilosophie.

Schon die Aufreihung der Stichworte läßt schwindlig werden
. Wird ein Anfänger solches olympische Programm bewältigen
können? Wir werden diese Frage nicht mit einem Ja beantworten
können, so sympathisch uns auch der unbeschwerte jugendliche
Elan und der gute Wille des Verf. berührt haben.

Doch zunächst haben wir kurz die These des Buches zu
skizzieren: Die konservativen sowohl wie die liberalen theologischen
Erörterungen der industriellen Betriebs- und Arbeitsgemeinschaft
sind antiquiert, also auch die Idee der „Werkgemeinschaft
" (Ev. soz. Kongreß, Kirchentag in Bethel 1924,
Weltkonferenz für praktisches Christentum in Stockholm 1925).
Die Theologie Barths, Bultmanns, Gogartens, Bonhoeffers eröffne
jedoch einen existenztheologischen Zugang zur konkreten
Welt der modernen industriellen Betriebe, unter Wahrung und
Bejahung der Profanität und Religionslosigkeit des modernen
Menschen. In der Arbeit der christlichen Akademien, der
Gruppe IV des Ev. Kirchentages, in den Aktionsgemeinschaften
der Fabriken seien positive Ansätze zur Verwirklichung der
Werkgemeinschaft da, die es auszubauen gelte.

Unsere Einwände, die wir auf das Wesentliche beschränken
, sind diese:

1. Eine unscharfe Ausdrucks- und Denkweise, die durchgehend
im Buche da ist, hindert das Verstehen und die Wirkung.
Das Rätselraten beginnt mit dem „profanen Weltchristen" des
Titels. „Profan" ist gleichbedeutend mit „unheilig", „entweiht"
und überrascht in der Zuordnung zu „christlich". Es ist sicher,
daß die paradoxe Hyperbel gewollt ist, wie die Widmung an
f Dietrich Bonhoeffer beweisen dürfte. Es verursacht mir Beklemmungen
, die Briefe Bonhoeffers aus dem Gefängnis überbeansprucht
zu 6ehen, nicht nur im Buche Schleths, sondern
auch sonst. Bonhoeffer war sich der Vorläufigkeit und Ungesichertheit
seiner Äußerungen in seinen vertrauten Briefen wohl
bewußt und hätte sie, wäre er am Leben geblieben, streng durchdacht
und vielleicht verändert publiziert. Wenn er z. B.
fragt: „Wie sind wir ,religionlos-weltIich' Christen?", so müßte
man eigentlich das dem Schreibenden bewußte unzulängliche
Stammeln heraushören, wieviel mehr erst, wenn man „Widerstand
und Ergebung" gelesen hat! Die Berufenen sollten u. E.
zu verhindern suchen, daß mit solchen Briefen, die selbst
keine Offenbarung sein wollen, sondern Diskussionsbeiträge aus
zugespitztester Lebenssituation, ein noch so gutgemeinter Mißbrauch
getrieben wird. Wir könnten auf viele Unklarheiten hinweisen
, denn sie sind im Buch nicht selten. Christen nehmen
„vorbehaltlos (!) die profane Welt ernst". S. 155 wird uns
untersagt, hier den Einwurf des Säkularismus zu machen; die
säkulare Welt sei die mündige Welt, die ja gerade Bonhoeffer
gemeint und bejaht hätte. Von der Kirchengeschichte heißt es,
daß sie bereit sei, „die Mauern der Kirche zu verlassen" (156).
„Die Kirche der anhebenden Zukunft ist Sache ganz weltlicher
Menschen, die aus ihrer Profanität keinen Hehl machen" (ebd.).
Was soll es dann aber heißen, daß „in die leiblich-seelische
Existenz der kirchenfernen gottlosen Menschen der Moderne das
Evangelium zu verkündigen" ist (155) und daß vom modernen
Menschen ausgesagt wird, daß er voll „offener oder verborgener
Egozentrizität" sei und daß er ßich an Gott hingeben müsse
(125)? Wo bleibt nun die grundsätzliche und radikale Bejahung
der Profanität fürdie Kirche? Hat Barth nicht recht ge-