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Ausgabe:

1958 Nr. 6

Spalte:

474

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Tournier, Paul

Titel/Untertitel:

Unsere Maske und wir 1958

Rezensent:

Fichtner, Horst

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473

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 6

474

handlung eines kleinen Ausschnittes aus dem Gesamtwerk des
CIC die Bedeutung des kanonistischen Prozeßverfahrens auch in
seinen Einzelheiten klar erkennbar zu machen.

Allerdings wird der evangelische Kirchenrechtler nicht vermeiden
können, auf den grundlegenden Unterschied zwischen
dem kanonischen Rechte und dem evangelischen Kirchenrechte
wenigstens andeutungsweise hinzuweisen. Die römisch-katholische
Kirche versteht sich als eine ab initio vorhandene Rechtsinstitution
. Dementsprechend empfängt der Leser auch aus den
Darlegungen des Verf.s das Bild eines eigene Wege gehenden,
juristisch bis ins kleinste durchgearbeiteten kirchlichen Rechtes,
das in seiner geschlossenen Systematik einwandfrei sich als ein
ius sui generis erweist, und zwar von jeher. Sich als ein eigenständiges
Recht der autonomen evangelischen Kirche zu verstehen
, ist bisher dem evangelischen Kirchenrechte versagt geblieben
. Die ßtaatskirchliche Entwicklung im deutschen Protestantismus
hat dem evangelischen Kirchenrechte lediglich den
Charakter eines Appendix des allgemeinen öffentlichen Rechtes
zubilligen wollen. Das ist seit 1918 und mehr noch seit 1945
anders geworden. Auch das evangelische Kirchenrecht hat sich zu
einem dem kanonischen Rechte parallel laufenden ius sui generis
entwickelt und ist damit seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß
aus der Vergatterung mit dem Rechte des Staates gelöst.
Der Unterschied zwischen dem kanonischen Rechte und dem evangelischen
Kirchenrechte scheint mir indessen darin zu bestehen,
daß jenes die Ordnung der Kirche beherrscht, dieses der Ordnung
der Kirche dient.

Berlin Hans Gotthilf Strasser

PSYCHOLOGIE UND RELIGIONSPSYCHOLOGIE

G r a b e r,'-Gustav Han6: Psychologie des Mannes. Stuttgart: Klett,
u. Bern: Huber [1957]. 320 S. gr. 8°. Lw. DM 19.80.

Die Bearbeitung des Themas ist sehr erwünscht, denn seltsamerweise
liegt zu ihm nur wenig vor. Erwähnt 6ei vor allem
Philipp Lersch, Das Wesen der Geschlechter, 2. Aufl. 1950.
Gutes bieten gelegentlich die Charakterologien und Anthropologien
, z. B. Otto Tumlirz, Anthropologische Psychologie,
2. Aufl. 1955, S. 355 ff. Den Markt beherrschte Otto Weininger,
Geschlecht und Charakter, ein Buch, das von 1903—1947 20 Auflagen
erlebte, bei einem Umfang von 600 Seiten! Hier wurde
in größter Schroffheit die sittliche und geistige Überlegenheit
des Mannes über die triebhaft und geistig unterlegene Frau behauptet
, in brutaler Fortentwicklung Schopenhauerscher Lehren.
Man würde Graber große Ehre antun, wenn man ihn als Gegenspieler
Weiningers ausgeben würde, wozu ein Schein des Rechts
bestünde, denn G. überbietet sich im Preiß des Mutterrechtes,
das er allerdings weniger durch Bachofen als durch Sigmund Freud
kennt, dessen phantasiereichen Mythos von der Ur-Vaterhorde
er unkritisch übernimmt. Da der Aufstieg des Mannes in der
Geschichte nur Unsegen gewirkt hat, muß seine Seele von Grund
auf verdorben sein. Folgerichtig verschiebt sich von Stufe zu
Stufe mehr der Akzent von der Psychologie zur seelischen Pathologie
. Schon ein erster Blick auf die Inhaltsangabe des Hauptkapitels
sagt alles. Wie ist der Mann? Antwort: ichsüchtig (Diktator
, Familientyrann, Don-Juan, Blaubart, Untermensch, Übermensch
), ichflüchtig (Werther, Melancholiker, Selbstmörder),
ich- und weltflüchtig (Ahasver), ich- und selbstsüchtig (Feminine,
Homosexuelle, der mütterliche Vater, das Genie), nihilistisch-
selbstsüchtig, Selbsterlöser. Da der Verf. praktizierender Psychotherapeut
ist, verfügt er natürlich über viel Material zur Pathologie
männlichen Seelentums, das in umfänglichen und nach Un-
serm Urteil stets peinlich wirkenden Wiedergaben ausgebreitet
wird; wohl fast die Hälfte des Buches wird durch sie beansprucht.
Oft fühlt man 6ich in die schwülste Sensationslektüre versetzt,
so bei „Der Familientyrann", S. 142 ff., wo der schockierte Leser
die Durchpeitschung der erwachsenen Töchter durch den Vater
miterleben muß, der ein — Prediger ist, „ein gläubiger Mann,
der sein Amt heilig hielt. Ansehn genoß und im Geruch eines
frommen Mannes stand". So etwas ist als Schauerstück atheistischer
Propaganda zu brauchen!

Als Schüler Freuds bemüht G. auch in großem Umfang die
Mythologie. Hätte er es doch unterlassen! Alle Feinunterschiede
werden verwischt, alle Religionen vergewaltigt, bis sie ins vergröberte
Schema des Oedipuskomplexes oder einiger anderer
Simplifikationen passen. Einzelheiten aus dem „Verständnis" des
Christentums anzuführen widerstrebt uns. Selbsterlösung ist das
letzte Wort. Sollten Psychoanalytiker fortfahren, in dieser Weise
die Mythologie zu mißhandeln, werden sie sich um ihren wissenschaftlichen
Kredit bringen. Glaubt man wirklich, daß hemmungslose
neue Mythenbildung — das ganze Buch G.s ist aus einem
neuen Mythos des Mutterrechts geflossen — zur Lösung der Probleme
geeignet ist, auch wenn man die radikale Entmythologi-
sierung der Bibel ablehnen sollte?

Die Theologie wäre an einer Psychologie des Mannes, die
wissenschaftlichen Anforderungen entspräche, wahrlich interessiert
. Man würde sie z. B. nicht ungern in der Hand von Frauen
und Mädchen sehen, gerade auch solchen, die sich auf die Ehe
vorbereiten. Dies Buch kann als Ratgeber in solchen Situationen
normalerweise nur zu Katastrophen führen. „Wenn das
der Mann ist, bin ich bedient!". Und der Rez. fügt hinzu:
>• • •. dann schäme ich mich ein Mann zu sein".

Rostock G. Hol tz

Tournier, Paul: Unsere Maske und wir. Deutsche Übersetzung der
Originalausgabe: Le personnage et la personne von Ruprecht Paque.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956. 293 S. 8°. Lw. DM 14.80.

Das neueste Buch des bekannten Genfer Psychiaters und
Vertreters der „medecine de la personne" ist neben der Schrift
von Tochtermann: Begegnungen mit Menschen als Wendepunkte
meines ärztlichen Denkens, Frankfurt/M., 1956, wohl die beste,
mir zu Gesicht gekommene Arbeit, die sich um den Maskenmenschen
unserer Zeit diagnostisch und therapeutisch bemüht.
Darunter ist nach Ansicht des Verfassers ein Mensch zu verstehen
, der, bedingt durch die Zusammenpferchung in der Stadt,
zum Nachteil seines ursprünglichen und schöpferisch tätigen Ichs
(personne) eine Lebensform angenommen hat, die überwiegend
uniformierte und routinierte Züge aufweist (personnage). Aufgabe
des dem Christentum verpflichteten und darum genuin sozialethisch
handelnden Arztes ist es nun, den wahren Menschen
hinter dieser seiner Maske wieder zu entdecken. Mittel zum
Zweck ist dabei das Gespräch, das mit dem säkularisierten Menschen
gleichsam von der gleichen Ebene aus geführt wird und
ihn gleicherweise in Kontakt zum Mitmenschen und zur Zwiesprache
mit Gott bringt, der hinter allem steht. Die Folge ist
dann, daß das bisher „zur Schau getragene Gesicht" verschwindet
und der Mensch im Zuge einer echten Lebenshilfe wieder lernt,
seinen Lebensplan zu erfüllen. „Unser Leben ist eine Partitur,
die Gott komponiert hat. Die Person ist der Dirigent, der diese
Partitur zum Klingen bringt. Der Komponist ist jedoch auch dabei
, wenn die Partitur gespielt wird. Er neigt sich zum Dirigenten
, spricht ihm Mut zu und hilft ihm."

Das Buch, dessen Literaturnachweis am Schluß überwiegend
französisches Schrifttum vermittelt, ist spannend geschrieben
und im einzelnen durch eine Fülle von Beispielen aus der ärztlichen
Praxis belegt. Dabei kommt es aber nirgends zu irgendwelchen
Enthüllungen oder Sensationen, im Gegenteil, man hat
den Eindruck, daß der Autor gerade dadurch, daß er diszipliniert
schreibt, den ganzen Ernst seiner in Liebe dienenden Persönlichkeit
zeigt, der sich der sachliche Leser zu eigenem Besten, auf
die Dauer wenigstens, nicht verschließen kann.

Berlin Horst Fichtner

Marcel, Gabriel, unter Mitarb. v. G. Thibon, M. de Corte, S. Fouche,
G. Brünier, V. H. Debidour u. J. Rolin: Was erwarten wir vom Arzt?
Deutsche Übertragung der Originalausgabe: Qu'attendez-vous du
Medecin? von F.V.Otting. Stuttgart: Hippokrates-Verlag [1956].
212 S. 8°. Lw. DM 12.80.

Der Hippokrates-Verlag hat sich zweifellos ein besonderes
Verdienst mit der von F. v. Otting meisterlich besorgten deutschen
Übertragung der 1949 erschienenen französischen Originalausgabe
erworben.