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Ausgabe:

1958 Nr. 6

Spalte:

463-465

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brecht, Franz Josef

Titel/Untertitel:

Vom menschlichen Denken 1958

Rezensent:

Burgert, Helmuth

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 6

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Seelenlebens! Er sieht im Unterbewußtsein nur den veränderten Zustand
des einen Bewußtseins, bedingt durch Veränderungen im Hirn.
Die kurze Kritik an S. Freud und C. G. Jung ist nicht überzeugend!
(86/87).

5. Der Geist: Das Seelenleben ist Bewußtsein, mit Bewußtsein
verbunden, in Bewußtsein überzuführen; es ist des Selbstbewußtseins
fähig, welches ein identisches Ich zum Gegenstande hat (90). Vom Leben
und von der Seele führt aber kein gerader Weg zu den Geistesleistungen
. Geistige Gebilde sind nicht aus seelischen Erlebnissen allein
zu erklären (92). Das Geistige ist zwar an Natur und Seele gebunden,
hat aber kein natürliches oder seelisches Sein. Es hat eine eigene Seinsart
. Die Grundbestimmung der Welt des Geistes ist die Sinngebung
(93). Geistige Schöpfung besteht darin, daß eine Persönlichkeit einem
Gedanken, indem sie ihn ausgestaltet, ein sinnliches Gewand gibt, durch
dessen Vermittlung er von Menschen nachgedacht und befolgt werden
kann (94).

6. Die Seinsverschränkungen. Zwischen den Seinsarten
gibt es Seinsverschränkungen (114), wobei aber jede Seinsart
ihren ontischen Charakter behält. In der Welt verwirklicht sich nur
eine kleine Anzahl von Verschränkungen, nicht jede Seinsart kann sich
mit jeder anderen existentiell vereinigen. Die unbelebte Natur verschränkt
sich nur mit der belebten, diese in gewissen Arten von Lebewesen
mit dem Seelischen, nur die Seele unmittelbar mit dem Geistigen
(115). Alles Lebendige entsteht aus Lebendigem, doch dürfen wir
darum den Übergang vom Anorganischen zum Organischen nicht für
unmöglich ansehen (120). Der leibliche Träger des bewußten Seelenlebens
ist die Großhirnrinde, darum kann sich ein Seinsverhältnis zwischen
Seele und Leib nur unter Mitwirkung der Rindenzellen verwirklichen
. Der Reiz ist eine Überschneidung von anorganischem und organischem
Geschehen, die Empfindung als bewußt werdender Reiz von
organischer und seelischer Wirklichkeit (123). Die Wahrnehmung ist
eine gedeutete Ordnung ausgewählter Empfindungen. In ihr bestimmt
erst die Rinde die Seele, dann die Seele die Rinde qualitativ (124).
Alle seelischen Vorgänge führen entweder zu Hirnprozessen oder kommen
von solchen her (125). Im einzelnen bestimmt entweder die Seele
den Leib oder umgekehrt, im ganzen bestimmen sie sich wechselseitig
(126). Die Willensfreiheit beruht darauf, daß die Seele durch ethischreligiöse
Werte bestimmt werden kann (130).

Die Unendlichkeit der Welt kann durch Empirie (Messung) weder
bewiesen noch widerlegt werden (139). In jeder Seinsart ist nur ein
Teil der Welt gegeben, keine ist schlechthin den anderen überlegen
(159). Die Einheit der Welt ist dadurch gewährleistet, daß die Seinsarten
6ich nach einer einzigen Seinsform verschränken und in den
Grundbestimmungen der Seinsarten gewisse Ordnungsformen wiederkehren
(160). Ein kontinuierlicher Zusammenhang der Seinsarten aber
ist nicht festzustellen, jede Seinsart ist nur die Bedingung dafür, daß
die neue Seinsart 6prungartig da ist (161).

Die nüchternen, sachlichen, eindringenden Analysen des
Buches, die durch Formeln und schematische Zeichnungen unterstützt
werden, dürften nicht nur den Philosophen, sondern auch
den Theologen, die ihre apologetische Aufgabe ernst nehmen,
willkommen sein, Bekanntes bestätigend und neue Einsichten
vermittelnd. In diesem Sinne ist das Buch warm zu empfehlen.

Derben/Elbe Erik Schmidt

Brecht, Franz Josef: Vom menschlichen Denken. Beiträge zur Grundlegung
einer philosophischen Anthropologie. Heidelberg: Lambert
Schneider 1956. 254 S. 8°. Lw. DM 9.80.

Seit etwa den zwanziger Jahren bewegt eine Frage die
deutschen Philosophen: was ist der Mensch? Wir finden sie bei
Scheler und noch ausdrücklicher in Heideggers Buch über Kant.
Man (aber eben nur „man") hat sogar „Sein und Zeit" als Versuch
einer Antwort auf jene Frage gedeutet. Kein Wunder also,
wenn ein Denker aus der Schule des Freiburger Philosophen aufs
neue bemüht ist, hier Antwort zu geben, und uns erste Schritte
in Richtung auf eine philosophische Anthropologie tun läßt.
Brecht nimmt nicht zum erstenmal zu diesem Thema das Wort:
ich erinnere nur an seine kleine aber gedankendichte Arbeit von
1932 „Der Mensch und die Philosophie" und an seine Interpretation
der Duineser Elegien (1949), die geradezu betitelt ist:
„Schicksal und Auftrag des Menschen".

In dem vorliegenden Buch wird das in jenen Schriften Gesagte
tiefer fundiert, aber auch erweitert: es handelt sich um
sieben Aufsätze, die sämtlich das Grundverhalten des Menschen,
nämlich sein Denken befragen. „Sofern sie vom menschlichen
Denken handeln, sind sie .anthropologisch'; sofern sie
vom menschlichen Denken handeln, 6tehen sie im Dienste

einer konkreten .Logik'. Eine .Anthropologik' ist ihr fernes
Ziel."

Wir können hier die Entfaltung der Frage nicht wiederholen
. Abbreviaturen sind in der Philosophie ebenso auch Fälschungen
(man erinnere sich an Hegels abschätzige Rede über
das Mitteilen von sogenannten Resultaten, die doch erst mitsamt
der gedanklichen Vermittlung, die zu ihnen führt, philosophisch
relevante Resultate sind). Wir möchten deshalb
allein auf den zentralen Aufsatz des Buches näher hinweisen:
„Der Traum als Element des Denkens." Wer ihn verstanden hat,
hat das ganze Buch verstanden. Wir müssen uns aufs neue eineignen
, das heißt an der Sache selbst explizieren, was Nietzsche
nur als Apercu ausgesprochen hat: „Denken am Leitfaden des
Leibes". (Nebenbei: 6olche Explikation hat in der Hitlerzeit einmal
, wenngleich mit völlig unzulänglichen Mitteln und nur andeutend
- feuilletonistisch, Alfred Baeumler in seinem Büchlein
„Nietzsche der Philosoph und Politiker" versucht.)

Hier beginnt auch das Interesse des Theologen, der sich an
Oetingers Wort erinnern mag: „Leiblichkeit ist das Ende der
Wege Gottes", und der es bedauert, daß die cartesianische Überschätzung
des cogito und damit der ratio auch die evangelische
Theologie weithin geschädigt, zumindest einseitig, ja vielfach
phänomenblind gemacht hat. (Leser der ThLZ mögen nachlesen,
was Paul Schütz [1950, Spalte 560 ff.] im Hinblick auf Oetinger
zu diesem Irrweg evangelischer Theologie gesagt hat. Man sehe
aber auch bei Karl Barth nach, was er in seiner Dogmatik über
„indirekten Cartesianismus" geschrieben hat.)

Der genannte Aufsatz wird primär jene Philosophen fesseln,
die 6ich von Lukacs und — heute — von Günther Anders stutzig
machen ließen: beide behaupten nämlich, unabhängig voneinander
, daß Heideggers Philosophie purer (wenngleich wohlmaskierter
) Idealismus sei. Diesen Vorwurf — und als Vorwurf ist jene
Behauptung gemeint — müßte auch Brecht einstecken, der sich in
diesem Buche einigemal bis in die Diktion hinein zu Heidegger
explizite und mehr noch implizite bekennt. Aber welche Überraschung
: Brecht weist gerade — im Anschluß an Nietzsche —
allen idealistischen Spiritualismus zurück; er lehrt grade, daß
Menschsein in seinem Kern mitnichten Geist sei, sondern daß
hier das rein Physiologische (Physis) und das erotisch Triebhafte
(Eros) mit dem Geisthaften (Logos) g 1 e i c hursprünglich seien.
Um dies zu zeigen, geht er von Sigmund Freuds Hermeneutik
des Traumes aus und gibt in grandioser, aber nie langweiliger
Breite die Auslegung einer ganzen Traumserie. Daraus können
wir zweierlei lernen: 1. (um ein bekanntes Wort abzuwandeln
) Freud verstehen heißt über Freud hinausgehen (und Freud
selbst, wie seine nachgelassenen Notizen zeigen, hat das getan;
er hat den massiven Naturalismus seiner Anfänge — mindestens
der Sache nach — verlassen; vorurteilslose Sicht der Phänomene
zwang ihn dazu). 2. Die Rede vom autonomen Menschen, der in
absoluter Freiheit entscheidet und dessen ratio die konkrete
Wirklichkeit schlechthin bewältigt, ist eine Lüge; der Mensch
ist viel mehr leibgebunden als er es bei wachem Bewußtsein zugibt
, und sein Dasein ist Geworfenheit im Sinne Heideggers,
das heißt sowohl Verhängnis wie Verhangenheit. So wird hier
wirklich der g a n z e Mensch gesichtet - ohne alle Scheuklappen
vorgefaßter (tradierter und gewohnter) Theorien: Leib (daß ich
es wiederhole) ist kein bloßer Annex, keine Projektion (Setzung)
des reinen Bewußtseins (wie zuletzt noch bei Kroner), kein Epi-
phänomen überhaupt; sondern: selber Wesenselement des
Menschseins, und dies so 6ehr, daß es gilt, die „Vernunft" eben
des Leibes selbst gelten zu lassen (wie sie sich im Traum bemerkbar
macht) und von hier aus Freuds über allen bloßen Naturalismus
hinausgehende Hermeneutik des Traum- und Trieblebens
adäquat zu würdigen und für eine neue Anthropologie fruchtbar
zu machen. Hier erfahren wir — Faustschlag gegen alle Selbstherrlichkeit
der ratio, des „rechnenden Denkens" — daß die
Wirklichkeit des gesamtmenßchlichen Wesens nicht logisch, sondern
antilogisch ist und verfährt.

Ist Denken, wie wir zu Anfang sagten, das Grundverhalten
des Menschen, dann ist mit diesem Wort eben nicht bloß das
Tun des Verstandes gemeint, sondern etwas viel Dichteres und
Trächtigeres. Das zeigen vor allem die beiden Aufsätze „Ein-